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Full text of "Stilfragen : Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik"

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SSAS- 


stilfragen. 


Grundlegungen 


Geschichte  der  Ornamentik. 


Von 


Alois  Riegl. 


Mit   197   Abbildungen   im   Text. 


Berlin  1893. 

Verlag    von    Georg    Siemens, 

Nollendorfstr.  42. 


m 


liuchrlruckcrei  von  Gu»tav  .Schade  (Otto  I'rnncke)  in  Itcrlin  N. 


Inhalt. 


Seite 

I.    Der  geometrische  Stil 1 

II.    Der  Wappenstil 33 

III.  Die  Anfänge  des  Pflanzenornaments  und  die  Entwicklung  der  ornamen- 

talen Ranke 41 

A.  Altoi'ientalisches 48 

1.  Egyptisches.     Die  Schaffung'  des  Pflaiizenornaments      .  48 

2.  Mesopotamisches 86 

3.  Phönikisches 102 

4.  Persisches 109 

B.  Das  Pflanzenornament  in  der  griechischen  Kunst  .  112 

1.  Mykenisches.     Die  Entstehung-  der  Eanke 113 

2.  Der  Dipylon-Stil 150 

3.  Melisches 154 

4.  Rhodisches 160 

5.  Altböotisches.     Frühattisches 172 

6.  Das  Eankengeschlingc 178 

7.  Die  Ausbildung  der  Ranken-Bordüre 191 

8.  Die  Ausbildung  der  Ranken-Füllung 197 

9.  Das  Aufkommen  des  Akanthus-Oi'naments 208 

10.    Das  hellenistische  und  römische  Pflanzenornament    .     .  233 

a.  Die  flache  Palmetten-Ranke 241 

b.  Die  x\kanthusranke 248 

IV.  Die  Arabeske 258 

1.  Das    Pflanzenrankenornament    in    der    byzantinischen 

Kunst 272 

2.  Frühsaracenische  Rankenornamentik      .......  302 


Einleitung. 


„Grundleg'nngen  zu  einer  Geschichte  der  Ornamentik"  kündigt  der 
Titel  als  Inhalt  dieses  Buches  an.  Wie  Mancher  mag  da  schon  bei 
Lesung  des  Umschlags  misstrauisch  die  Achseln  zucken!  Giebt  es 
denn  auch  eine  Geschichte  der  Ornamentik?  Es  ist  dies  eine  Frage, 
die  selbst  in  unserem  von  historischem  Forschungseifer  ganz  erfüllten 
Zeitalter  eine  unbedingt  bejahende  Antwort  wenigstens  bisher  durchaus 
noch  nicht  gefunden  hat.  Man  braucht  dabei  gar  nicht  an  jene  Radi- 
kalen zu  denken,  die  überhaupt  alles  ornamentale  Kunstschaften  für 
originell  erklären,  eine  jede  Erscheinung  auf  dem  Gebiete  der  dekora- 
tiven Künste  als  unmittelbares  Produkt  aus  dem  jeweilig  gegebenen 
Stofi:'  und  Zweck  ansehen  möchten.  Neben  diesen  Extremsten  unter  den 
Extremen  gelten  schon  als  Vertreter  einer  gemässigteren  Anschauung 
Diejenigen,  die  den  dekorativen  Künsten  wenigstens  soAveit  als  die  so- 
genannte höhere  Kunst,  insbesondere  die  Darstellung  des  Menschen  und 
seiner  Thaten  und  Leiden  hineinspielt,  eine  historische  Entwicklung 
von  Lehrer  zu  Schüler,  Generation  zu  Generation,  Volk  zu  Volk,  ein- 
zuräumen geneigt  sind. 

Allerdings  giebt  es  und  gab  es  seit  dem  ersten  Aufkommen  einer 
kunsthistorischen  Forschung  allezeit  eine  Anzahl  von  Leuten,  die  sich 
berechtigt  glaubten,  auch  die  bloss  ornamentalen  Formen  in  der  Kunst 
vom  Standpunkte  einer  stufenweisen  Entwicklung,  also  nach  den  Grund- 
sätzen historischer  Methodik  zu  betrachten.  Es  waren  dies  naturgemäss 
hauptsächlich  die  Buchgelehrten ,  die  schon  durch  ihren  Bildungsgang 
auf  Gymnasien  und  Universitäten  mit  der  philologisch-historischen  Me- 
thodik und  Betrachtungsweise  erfüllt,  dieselbe  auch  auf  ornamentale 
Erscheinungen  anwenden  zu  müssen  vermeinten.  Die  Art  und  Weise 
aber,   in   welcher  diese   Anwendung  historischer  Methodik   auf  die  Be- 


Y£  Einleitung". 

traclitmig-  (Ut  Ornamentik  bisher  zu  li'esehelH-n  pHeg'te,  ist  höchst 
bezeichnend  für  den  ganz  überwifgx'uilcu  Eintius^s,  den  die  in  erster 
Linie  erwähnten  extremeren  Kreise  auf  die  üttentliche  ^Meinung  in 
Dingen  der  omamentah-n  Künste  ausübten.  Historisehe  Weehsell^ezüge 
zu  behaupten  wagte  man  nur  schüchtern,  und  bloss  für  eng  begrenzte 
Zeitperioden  und  nahe  benachbarte  Gebiete.  Vollends  wo  die  unmittel- 
bare Bezugnahme  der  Ornamente  auf  reale  Dinge  der  Aussenwelt,  auf 
organische  Lebewesen  oder  Werke  von  ^lenschenhand  aufhörte,  dort 
machte  die  Kühnheit  der  Forseher  mit  entschiedener  Scheu  ein  Halt. 
"Wo  einmal  die  mathematische  Darstellung  von  Symmetrie  und  Rhythmus 
in  abstrakten  Lineamenten,  wo  der  Bereich  des  sogen,  geometrischen 
Stils  begann,  dort  wagte  man  es  nicht  nielir,  den  künstlerisclien  Nach- 
ahmungstrieb des  Menschen  und  die  ungleiche  Befähigung  der  einzelnen 
Völker  zum  Kunstschaffen  gelten  zu  lassen.  Die  Eile,  mit  der  man  je- 
weilig sofort  versicherte,  dass  man  ja  nicht  so  ungebildet  und  naiv  wäre  zu 
glauben,  dass  etwa  ein  Volk  dem  anderen  ein  ,,einfaches"  Mäanderliand 
abgeguckt  haben  könnte,  und  die  Entschuldigung,  um  die  man  viel- 
mals bat,  wenn  man  sich  herausnahm,  etwa  ein  planimetrisch  stilisirtes 
Pflanzenmotiv  mit  einem  ähnlichen  aus  fremdem  Kunstbesitz  in  ent- 
fernte Vei'bindung  zu  bringen,  lehren  deutlich  genug,  welch'  siegreichen 
Ten'orismus  jene  Extremen  auch  auf  die  ..Historiker"  unter  den  mit 
der  Ornamentforschung  Beflissenen  ausübten. 

"Worin  liegt  nun  der  Erklärungsgrund  für  diese  Verhältnisse .  die 
in  den  letztverflossenen  25  Jahren  einen  so  bestimmenden  und  vielfach 
lähmenden  Einfluss  auf  unsere  gesammte  Kunstforschung  ausgeübt 
haben?  Er  liegt  vor  Allem  in  der  materialistischen  Auffassung  von  dem 
Ursprünge  alles  Kunstschaff'ens,  Avic  sie  sich  seit  den  sechsziger  Jahren 
unseres  Jahrhunderts  herausgebildet  und  fast  mit  lincni  Schlage  .ilU' 
kunstübenden,  kunstliebemlcii  uiid  kuiistrorsrli.iKlcii  Kreise  iur  sieh 
gewonnen  liat.  Auf  (Jottfricd  Sem]i<r  ])flegt  man  die  Theorie  von 
der  teclinisch-materiellen  Entstclrnng  der  ältesten  Ornamente  und  Kunst- 
formen überhaupt  zurückzuführen.  Es  geschieht  dies  mit  demselben, 
oder  besser  gesagt,  mit  rlx-nsowenig  Recht,  als  die  Identiiieirung  des 
modernen  Darwinismus  mit  Darwin:  die  Parallele  --  Darwinismus  und 
Kunstmaterialismus  -  scheint  mir  um  so  zutrelfender,  als  zwischen 
diesen  beiden  Erscheinungen  zweifellos  ein  inniger  kausaler  Zusannnen- 


Einleitung".  vri 

hang  existirt,  die  in  Rede  stehende  materialistische  Strömung-  in  der 
Auffassung'  der  Kunstanfänge  nichts  Anderes  ist,  als  so  zu  sagen  die 
Uebertragung  des  Darwinismus  auf  ein  Gebiet  des  Geisteslebens.  vSo 
wie  aber  zwischen  Darwinisten  und  Darwin,  ist  auch  zwischen  Sem- 
perianern  und  Semper  scharf  und  streng  zu  unterscheiden.  Wenn  Sem- 
per  sagte:  beim  Werden  einer  Kunstform  kämen  auch  Stoff  und 
Technik  in  Betracht,  so  meinten  die  Semperianer  sofort  schlechtweg: 
die  Kunstform  wäre  eine  Produkt  aus  Stoff'  und  Technik.  Die  „Technik" 
wurde  rasch  zum  beliebtesten  Schlagwort;  im  Sprachgebrauch  erschien 
es  bald  gleichwerthig  mit  „Kunst"  und  schliesslich  hörte  man  es  so- 
gar öfter  als  das  Wort  Kunst.  Von  „Kunst"  sprach  der  Naive,  der 
Laie;  fachmännischer  klang  es,  von  „Technik"  zu  sprechen. 

Es  mag  paradox  erscheinen,  dass  die  extreme  Partei  der  Kunst- 
materialisten auch  unter  den  ausübenden  Künstlern  zahlreiche  An- 
hänger gefunden  hat.  Dies  geschah  gewiss  nicht  im  Geiste  Gottfried 
Sempers,  der  wohl  der  Letzte  gewesen  wäre,  der  an  Stelle  des  frei 
schöpferischen  Kunstwollens  einen  Avesentlich  mechanisch-materiellen 
Xachahmungstrieb  hätte  gesetzt  wissen  wollen.  Aber  das  Missverständ- 
niss,  als  handelte  es  sich  hiebei  um  die  reine  Idee  des  grossen  Künstler- 
Gelehrten  Semper,  war  einmal  vorhanden,  und  die  natürliche  Autorität, 
welche  die  ausübenden  Künstler  in  Sachen  der  „Technik"  genossen, 
brachte  es  ganz  wesentlich  mit  sich,  dass  die  Gelehrten,  die  Archäologen 
und  Kunsthistoriker,  klein  beigaben  und  Jenen  das  Feld  überliessen, 
wo  nur  irgendwie  die  „Technik"  in  Frage  kommen  konnte,  von  der 
sie  —  die  Gelehrten  —  selbst  entweder  gar  nichts  oder  nur  wenig  ver- 
standen. Erst  im  Laufe  der  letzteren  Jahre  wurden  auch  die  Gelehrten 
kühner.  Das  Wort  „Technik"  erwies  sich  als  äusserst  geduldig,  man 
fand,  dass  die  meisten  Ornamente  in  verschiedenen  Techniken  darstell- 
bar waren  und  thatsächlich  dargestellt  Avurden,  man  machte  die  fröh- 
liche Erfahrung,  dass  sich  mit  Techniken  trefflich  streiten  Hess,  und  so 
hub  allmälig  in  den  archäologischen  und  kunstgewerblichen  Zeit- 
schriften jene  Avilde  Jagd  nach  Techniken  an,  deren  Ende  vielleicht 
nicht  früher  zu  erwarten  steht,  bis  alle  technischen  Möglichkeiten  für 
ein  jedes  minder  komplicirte  Ornament  erschöpft  sein  werden  und  man 
sich  am  Ende  zuverlässig  dort  befinden  wird,  von  wo  man  ausge- 
gangen ist. 


yjjj  Einleitung". 

Inmitten  einer  solchen  Stimmung  der  Geister  wagt  es  dieses  Buch 
mit  Grundlegungen  zu  einer  Geschichte  der  Ornamentik  hervorzutreten. 
Dass  es  vorab  nur  Grundlegungen  sind  und  nichts  Anderes  sein  Avollen, 
rechtfertigt  sich  -wohl  von  selbst.  Wo  nicht  bloss  das  Terrain  Schritt 
für  Schritt  hart  bestritten  ist,. sondern  sogar  die  Grundlagen  mehrfach 
in  Frage  gestellt  Averden,  da  müssen  erst  einige  sichere  Positionen  er- 
obert, einige  fest  verbundene  Stützpunkte  gewonnen  werden,  von  denen 
aus  dann  späterhin  eine  umfassende  und  systematische  Gesammtbear- 
beitung  wird  gewagt  werden  können.  Ferner  brachte  es  die  Natur  der 
Sache  mit  sich,  dass  der  „Thätigkeit  des  Yerneinens"  in  diesem  Buche 
ein  allzu  grosser  Raum  zugemessen  werden  musste,  als  sich  mit  einer 
positiven,  pragmatischen  Geschichts-Darstellung  vertragen  Avürde:  er- 
scheint es  doch  als  die  nächste,  dringendste  Aufgabe,  die  fundamen- 
talsten, die  schädlichsten,  der  Forschung  bisher  hinderlichsten  Irrthümer 
und  Vorurtheile  hinwegzuräumen.  Dies  ist  ein  weiterer  Grund,  Avarum 
die  in  diesem  Buche  niedergelegten  Ideen  zunächst  in  Form  von  ..(irund- 
legungen"  vor  die  Oeff'entlichkeit  treten. 

Unser  Erstes  Avird  nach  dem  Gesagten  sein  müssen,  die  Existenz- 
berechtigung dieses  Buches  überhaupt  naclizuweisen.  Dieselbe  er- 
scheint insolange  in  Frage  gestellt,  als  die  technisch-materielle  Ent- 
stehuugstlieorie  für  die  ursprünglichsten,  anfänglichsten  Kunstformen 
und  Ornamente  unbestritten  zu  Kraft  besteht.  Bleibt  es  doch  in  solchem 
Falle  ewig  zAveifelhaft,  wo  der  Bereich  jener  spontanen  Kunstzeugung 
aufliört  und  das  historische  Gesetz  von  Vererbung  und  Erwerl)ung  in 
Kraft  zu  treten  beginnt.  Das  erste  Kapitel  musste  daher  der  Frage 
nach  der  Stichhaltigkeit  der  technisch-materiellen  Entstehungstheorie 
der  Künste  gewidmet  Averden.  In  diesem  Kapitel,  das  die  Erörterung 
des  "Wesens  und  Ursprungs  des  geometriscli  c  n  Stils  in  der  i\'l>er- 
sclirift  ankündigt,  hoffe  ich  dargelegt  zu  haben,  dass  nicht  bloss  kein 
zwingender  Anlass  vorliegt,  der  uns  nöthigen  Avürde  a  priori  die  ältesten 
geometrischen  ^'erzierungen  in  einer  bestimmten  'JVclmik,  ins1)esondere 
der  textilen  Künste,  ausgeführt  zu  vermutlien.  sondern,  dass  die  ;iltesten 
Avirklich  historischen  KunstdenkniähT  «hn  lie/üglielien  Ann.ihinen  Aiel 
eher  Aviderspreclieii.  Zu  dem  gh-ielieii  Ergebnisse  Averden  wir  durch 
andere  Erwägungen  von  mehr  allgemeiner  Art  geluhrt.  AVeii  eleineiilarer 
näralicii,    als    das    Bedürfniss    des    Menschen    nach    Scimtz  (k's  Leibes 


Einleitung'.  jX 

mittels  textiler  Produkte  tritt  uns  dasjenige  nacli  Sehmuck  des  Leibes 
entgegen,  und  Verzierungen,  die  dem  blossen  Schmückungstriebe  dienen, 
darunter  auch  linear-geometrische,  hat  es  wohl  schon  lange  vor  dem 
Aufkommen  der  dem  Leibesschutze  ursprünglich  gewidmeten  textilen 
Künste  gegeben.  Damit  erscheint  ein  Grundsatz  hinweggeräumt,  der 
die  gesammte  Kunstlehre  seit  25  Jahren  souverän  beherrschte:  die 
Identificirung  der  Textilornamentik  mit  Flächen  Verzierung  oder  Flach- 
ornamentik schlechtweg.  Sobald  es  in  Zweifel  gestellt  erscheint,  dass 
die  ältesten  Flächenverzierungen  in  textilem  Material  und  textiler 
Technik  ausgeführt  Avaren,  hört  auch  die  Identität  der  beiden  zu  gelten 
auf.  Die  Flächenverzierung  wird  zur  höheren  Einheit,  die 
Textilverzierung  zur  subordinirten  Theileinheit,  gleich- 
werthig  anderen  flächenverzierenden  Künsten. 

Die  Einschränkung  der  Textilornamentik  auf  das  ihr  zukommende 
Maass  an  Bedeutung  bildet  überhaupt  einen  der  leitenden  Gesichts- 
punkte dieses  ganzen  Buches.  Ich  muss  gestehen,  dass  es  zugleich  der 
Ausgangspunkt  für  alle  meine  einschlägigen  Untersuchungen  geAvesen 
ist,  —  ein  Ausgangspunkt,  zu  dem  ich  durch  eine  nunmehr  achtjährige 
Thätigkeit  an  der  Textilsammlung  des  K.  K.  österreichischen  Museums 
für  Kunst  und  Industrie  gelangt  bin.  Ja  ich  will,  selbst  auf  die  Ge- 
fahr hin  ob  dieser  Sentimentalität  bespöttelt  zu  werden,  bekennen, 
dass  ich  mich  eines  gewissen  Bedauerns  nicht  erwehren  konnte,  dazu 
verurtheilt  zu  sein,  gerade  derjenigen  Kunst,  zu  der  ich  infolge  der 
langjährigen  Verwaltung  einer  Textilsammlung  in  eine  Art  persönlichen 
Verhältnisses  getreten  bin,  einen  so  wesentlichen  Tlieil  ihres  Nimbus 
rauben  zu  müssen. 

War  man  erst  zu  der  Aufstellung  des  folgenschweren  Lehrsatzes 
von  der  ursprünglichen  Identität  von  Flächenverzierung  und  Textil- 
verzierung gelangt,  so  war  für  das  Geltungsgebiet  der  Textilornamentik 
fast  keine  Grenze  mehr  gezogen.  Von  den  geradlinigen  geometrischen 
Ornamenten,  mit  denen  man  den  Anfang  gemacht  hatte,  gelangte  man 
alsbald  bis  zu  den  künstlerischen  Darstellungen  der  komplicirtesten 
organischen  Wesen,  Menschen  und  Thiere.  So  fand  man  u.  a.,  dass 
die  Verdoppelung  und  symmetrische  Gegenüberstellung  von  Figuren 
zu  beiden  Seiten  eines  trennenden  Mittels  hinsichtlich  ihrer  Entstehung 
auf  die  textile   Technik   der  Kunstweberei   zurückzuführen  wäre.     Bei 


X  Etnleitiiug-. 

der  "Weiten  Yerbreituiiü'  dieses  oriianientalen  Gruiipiruniissclieiuas.  das 
man  auch  den  Wappen  st  il  genannt  hat,  hielt  ich  es  für  noth  wendig, 
demselben  das  zweite  Capitel  zu  -widmen,  um  darin  auseinander  zu 
setzen,  dass  auch  diesbezüglich  jeglicher  Nachweis,  ja  sogar  die  "Walir- 
scheinlichkeit  fehlt,  dass  man  zur  Zeit,  ans  welcher  die  ältesten  Denk- 
mäler im  "Wapi^enstil  stammen,  sich  auf  die  Kenntniss  einer  so  aus- 
gebildeten Kunstweberei  wie  sie  die  technische  Voraussetzung  hiefür 
bilden  müsste,  verstanden  hätte,  und  dass  wir  anderseits  im  Stande 
sind,  das  Aufkonnnen  des  Wappenstils  noch  aus  anderen,  allerdings 
nicht  so  greifbar  „materiellen"  Gründen  zu  erklären. 

Die  Grundtendenz  der  beiden  ersten  Capitel  dieses  Buches  er- 
scheint hiernach  als  eine  verneinende,  Avenngieich  überall  versucht 
wird,  an  Stelle  des  Umgestürzten  ein  Neues,  Positives  zu  setzen. 
Was  insbesondere  den  geometrischen  Stil  anbelangt,  so  erschien  es  als 
das  Dringendste,  einmal  die  damit  verknüpften  falschen  Vorstellungen 
hinwegzuräumen,  das  Vorui'theil  von  der  angeblichen  Geschichtslosig- 
keit  dieses  Stils,  und  seiner  unmittelbar  technisch-materiellen  Abkunft 
zu  brechen.  Der  Umstand,  dass  die  mathematischen  Gesetze  von  Sym- 
metrie und  Rhythmus,  als  deren  Illustrationen  die  einfachen  Motive  des 
geometrischen  Stils  gelten  können,  auf  dem  ganzen  Erdball  mit  ge- 
ringen Ausnahmen  die  gleichen  sein  müssen,  Avährend  die  organischen 
Wesen  und  die  Werke  von  Menschenhand  dem  von  ihnen  inspirirtcn 
Künstler  mannigfache  Abwechslung  gestatten,  erschwert  die  Tuter- 
suchung  über  geometrische  Stilgcbiete  nach  historischem  Gesichtspunkte 
allerdings  ganz  ungemein.  Spontane  Entstehung  der  gleichen  geome- 
trischen Ziermotive  auf  verschiedenen  Punkten  der  Erde  erscheint  in 
der  That  nicht  ausgeschlossen;  aber  aucli  das  historische  Moment  ^\  ii'd 
man  hier  jeweilig  mit  voller  Unbefangenheit  in  Rechnung  ziehen  dürfen. 
I'^inzelne  Völker  sind  den  übrigen  gewiss  in  dem  gleichen  Maasse  vor- 
angeeilt, als  allezeit  einzelne  l)egabtere  Individuen  über  ihre  Neben- 
menschen sieh  erhoben  lial>en.  Und  von  der  gi'ussen  .Masse  gilt  in  dei- 
grauen  Vergangenheit  gewiss  dassell)e,  was  hent/niage:  sie  ätl't  lieher 
nach,  als  dass  si«-  selbst  erfindet. 

Festenin  Boden  gewinnt  die  Oi'nainenti'drsehiiiig  \<>n  <lein  Angen- 
blicke  an,  da  die  Pflanze  nnt<;r  die  Motive  aufgenommen  erscheint. 
Der  nachlnldungsfähigen  Pll.in/.enspecies   gieljt  es  unendlich  mehr,   als 


Einleitung*.  XI 

der  abstrakt-symmetrischen  Gebilde,  die  sich  auf  Dreieck,  Quadrat, 
Eaute  und  wenige  andere  beschränken.  Daher  hat  auch  die  klassische 
Archäologie  bei  diesem  Punkte  mit  ihren  Forschungen  eingesetzt;  ins- 
besondere der  Zusammenhang  der  hellenischen  Pflauzenmotive  mit 
den  am  Eingange  aller  eigentlichen  Kunstgeschichte  stehenden  alt- 
orientalischen Vorbildern  ist  bereits  vielfach  Gegenstand  des  Nach- 
weises und  eingehender  Erörterungen  gewesen.  Wenn  trotzdem  von 
Seite  der  deutschen  Archäologie  bisher  kein  Versuch  gemacht  Avurde, 
die  Geschichte  des  für  die  antike  Kunst  als  so  maassgebend  anerkann- 
ten Pflanzenornaments  im  Zusammenhange  von  altegyptischer  bis 
römischer  Zeit  darzustellen,  so  muss  der  Grund  hiefür  wiederum  nur 
in  der  übermächtigen  Scheu  gesucht  werden,  die  mau  davor  empfand, 
ein  „blosses  Ornament"  zum  Substrat  einer  weiter  ausgreifenden  histori- 
schen Betrachtung  zu  machen.  Der  Schritt  nun.  dessen  sich  ein  an 
deutschen  Schulen  Herangebildeter  nicht  zu  unterfangen  getraute,  wurde 
vor  Kurzem  von  einem  Amerikaner  gemacht.  W,  G.  Goodyear  war 
der  Erste,  der  in  seiner  Grammar  of  the  lotus  die  gesammte  antike 
Pflanzenornamentik  und  ein  gut  Stück  darüber  hinaus  als  eine  Fort- 
bildung der  altegyptischen  Lotusornamentik  erklärt  hat;  den  treiben- 
den Anstoss  zu  der  universalen  Verbreitung  dieser  Ornamentik  glaubt 
er  im  Sonnenkultus  erblicken  zu  sollen.  Um  die  technisch-materielle 
Entstehungstheorie  der  Künste  kümmert  sich  dieser  amerikanische 
Forscher  augenscheinlich  ebensowenig,  wie  um  Europas  verfallene 
Schlösser  und  Basalte;  der  Xame  Gottfried  Sempers  ist  mir  im  ganzen 
Buche,  wenn  ich  nicht  sehr  irre,  nicht  ein  einziges  Mal  aufgestossen. 

Im  Grunde  ist  der  Hauptgedanke  Goodyears  nicht  ganz  neu :  sein 
unbestrittenes  Eigenthum  ist  l)loss  der  entschlossene  Radikalismus,  wo- 
mit er  seiner  Idee  universale  Bedeutung  zu  geben  bemüht  ist,  sowie 
die  Motivirung  für  das  Zustandekommen  der  ganzen  Erscheinung. 

"Was  einmal  diese  letztere  —  die  Berufung  auf  den  Sonnenkultus 
—  betrifft,  so  schiesst  der  Autor  damit  zweifellos  weit  über  das  Ziel  hin- 
aus. Schon  für  die  altegyptische  Ornamentik  bleibt  der  allmächtige 
Einfluss  des  Sonnenkult-Symbolismus  mindestens  zweifelhaft;  vollends 
unbewiesen  und  auch  unwahrscheinlich  wird  er,  sobald  wir  die  Grenzen 
Egyptens  überschreiten.  Symbolismus  Ist  gewiss  auch  einer  der  Fak- 
toren gewesen,  die  zur  allmählichen  Schaffung  des  historisch  gewordenen 


3H  Einleitung. 

Ornameutenschatzes  der  Menschheit  beigetragvu  halten.  Aber  denselben 
zum  allein  maassgebenden  Faktor  zu  stempeln,  heisst  in  den  gleichen 
Fehler  verfallen,  wie  Diejenigen,  die  die  Technik  für  einen  solchen 
Faktor  ansehen  möchten.  Mit  diesen  letzteren  berührt  sich  Goodyear 
übrigens  überaus  nahe  in  dem  sichtlichen  Bestreben,  rein  psychisch- 
künstlerische  Beweggründe  für  die  Erklärung  ornamentaler  Er- 
scheinungen womöglich  zu  vermeiden.  Wo  der  Mensch  augenschein- 
lich einem  immanenten  künstlerischen  Schaffungstriebe  gefolgt  ist,  dort 
lässt  Goodyear  den  Symbolismus  walten,  ebenso  Avie  die  Kunstmateria- 
listen in  dem  gleichen  Falle  die  Teclmik,  den  zufälligen  todten  Zweck 
in"s  Feld  führen. 

"Was  andererseits  die  fast  schrankenlose  Ausdeluiung  der  A'orbild- 
lichkeit  des  Lotus  auf  alle  Gebiete  der  antiken  Ornamentik  (z.  B.  selbst 
auf  die  prähistorischen  Zickzackbänder)  anbelangt,  so  liegt  auch  hierin 
eine  Uebertreibung  gleich  derjenigen,  welcher  sich  die  Kunstmateria- 
listen und  die  Darwinisten  hingegeben  haben.  So  will  Goodyear  his- 
torische Zusammenhänge  an  vielen  Punkten  erblicken ,  wo  eine  be- 
sonnene Forschung  sie  unbedingt  znrückw<'isen  niuss.  Da  er  überall 
nur  Uniformes  sehen  will,  trübt  er  sich  geflissentlich  den  Blick  für 
feinere  Unterscheidungen.  Auf  diese  Weise  konnte  es  gar  niclit  anders 
geschehen,  als  dass  er  u.  a.  den  echt  hellenischen  Kern  in  der 
mykenischen  Oi-namentik  übersah,  und  damit  zugleich  den  viel- 
leicht wichtigsten  Punkt  in  der  gesammten  Entwicklung  der  klassi- 
schen Ornamentik  unberücksichtigt  liess. 

Die  überwiegende  Bedeutung,  die  dem  Pllanzenornamenl  inner- 
halb der  antiken  Ornamentik  sowohl  an  und  für  sich,  als  mit  Bezug 
auf  eine  richtige  Beurtheilung  und  Würdigung  dieser  Orn.iinentilv  inner- 
halb der  rJesammtgeschichte  der  dekorativen  Künste  zukommt,  hat 
Tioodyear  ebenso  klar  erkainit,  wie  schon  viele  andere  Forscher  vor 
ihm.  Im  AVintersemester  1890/91  habe  ich  an  der  Wiener  Universität 
Vorlesungen  über  eine  „rieschiclii"'  dii-  ( )rn;iininiik"  gelialten,  inner- 
halb welcher  der  Darstellung  der  Entwicklung  des  Pfianzenornaments 
von  frühester  antiker  Zeit  an  der  vornehmste  Platz  eingeräumt  war. 
Ein  Tlieil  vom  Inhalte  dieser  Vorlesungen  ist  es,  den  ich  im  :5.  Kapitel 
dieses  Buches  wiedergebe,  mit  geringen  Znsätzen,  die  lianptsächlich 
durch    die    nothwendig  gewoi-denen    P>(zi<linngen    auf  das   mittlerweile 


Einleitung".  -^m 

erschienene  Biicli  Goodyear's  veranlasst  wurden.  Entlehnung  von  Mo- 
tiven aus  altorientalischem  Kunstbesitz  seitens  der  griechischen  Stämme 
bin  auch  ich  geneigt  in  umfassendem  Maasse  anzunehmen.  Die  Aus- 
gestaltung dieser  Motive  im  reinen  Sinne  des  Formschönen  ist  ein  längst 
anerkanntes  Verdienst  der  Griechen.  Was  aber  das  eigenste,  selbst- 
ständigste und  fruchtbarste  Produkt  der  Griechen  gewesen  ist,  das  hat 
nicht  bloss  Goodyear  ignorirt,  sondern  es  wurde  auch  von  Forschern  un- 
beachtet gelassen,  die  mit  Eifer  nach  selljständigen  occidentalen  Keimen 
und  Regungen  in  der  frühgriechischen  Kunst  gesucht  Iiaben.  Es  ist  dies 
die  Erfindung  der  Ranke,  der  beweglichen,  rhythmischen  Pflanzen- 
ranke, die  wir  in  sämmtlichen  altorientalisehen  Stilen  vergebens  suchen, 
die  dagegen  auf  nachmals  hellenischem  Boden  uns  schon  in  der  myke- 
nischen  Kunst  fertig  entgegentritt.  Die  Blüthenmotive  der  hellenischen 
Ornamentik  mögen  orientalischer  Abkunft  gewesen  sein :  ihre  in  schönen 
Wellenlinien  dahinfliessende  Rankenverbindung  ist  speciflsch  griechisch. 
Die  Ausbildung  der  Rankenornamentik  steht  von  da  an  überhaupt  im 
Vordergrunde  der  Fortentwicklung  der  ornamentalen  Künste.  Als 
saumartig  schmales  Wellenband  mit  spiraligen  Abzweigungen  sehen 
wir  die  Ranke  zuerst  in  die  Welt  treten,  als  reichverzweigtes  Laubge- 
winde überzieht  sie  in  reifer  hellenistischer  Zeit  ganze  Flächen.  So 
geht  sie  durch  die  römische  Kunst  hindurch  in  das  Mittelalter,  in  das 
abendländische  sowohl  wie  in  das  morgenländische,  das  saracenisclie, 
und  nicht  minder  in  die  Renaissance.  Das  Laubwerk  der  Kleinmeister 
ist  ein  ebenso  legitimer  Abkömmling  der  antik -klassischen  Pflanzen- 
rankenornamentik,  wie  das  spätgothische  Krieclnverk.  Jener  fort- 
Avährende  kausale  Zusammenhang  im  menschlichen  Kunstschaffen  aller 
bisherigen  Geschichtsperioden,  der  sich  uns  bei  der  historischen  Be- 
trachtung der  antiken  Kunstmythologie  und  der  christlichen  Bilder- 
typik  offenbart:  er  lässt  sich  nicht  minder  für  das  ornamentale  Kunst- 
schaffen herstellen,  sobald  man  das  Pflanzenornament  und  die  Pflanzen- 
ranke durch  alle  Jahrhunderte  hindurch  von  ihrem  ersichtlich  ersten 
Aufkommen  bis  in  die  neueste  Zeit  verfolgt.  Eine  so  weitgespannte 
Aufgabe  in  vollem  Umfange  lösen  zu  wollen,  erschien  im  Rahmen 
dieses  Buches  undurchführbar.  Ich  habe  mich  daher  darauf  beschränkt, 
die  Entwicklung  des  Pflanzenrankenornaments  von  seinen  Anfängen 
bis   zur   hellenistischen   und  römischen  Zeit  im  Einzelnen   aufzuzeigen. 


XIV 


Einleitung'. 


Das  diesen  Ausführungen  gewidmete  3.  Ka]»itel  glaube  ich  unter  Er- 
wägung der  also  klargestellten  Bedeutung  des  Gegenstandes  als  eine 
ganz  wesentliche  „Grundlegung"  betrachten  zu  düi'fen. 

Solange  man  in  der  PÜanzenornamentik  an  den  überlieferten 
stllisiiten  Typen  festhielt,  ist  der  historische  (Jang  als  solcher  unschwer 
festzustellen:  dagegen  müsste  eine  grosse  Unsicherheit  in  den  Schluss- 
folgerungen eintreten  in  dem  Momente,  wo  der  ■Mensch  in  der  Zeich- 
nung der  Ornamente  der  natürlichen  Erscheinung  einer  vorbildlichen 
Ptianze  möglichst  nahe  zu  konnnen  trachten  würde.  Z.  B.  kann  die 
Projektion  der  Palmette,  die  wir  in  Egypten  und  Griechenland  an- 
treffen, kaum  beiderseits  selbständig  erfunden  sein,  da  dieses  Motiv 
eine  dm'chaus  nicht  in  der  natüi'lichen  Erscheinung  begründete  Blüthen- 
form  wiedergiebt:  der  Schluss  ist  unabAveisbar,  dass  das  Motiv  nur  an 
einem  Orte  entstanden  sein  kann  und  nach  dem  andern  übertragen 
worden  sein  muss.  Ganz  anders,  wenn  wir  an  zwei  ornamentalen 
"Werken  verschiedener  Herkunft  etwa  eine  Kose  in  ihrer  natürlichen 
Erscheinung  dargestellt  fänden:  die  natürliche  Erscheinung  der  Rose 
in  den  verschiedensten  Ländern  ist  im  Allgemeinen  die  gleiche:  eine 
selbständige  Entstehung  jener  Kopien  da  und  dort  wäre  hienach  sehr 
wolil  denkbar.  Nun  ist  es  aber  ehi  Erfaiirungssatz,  der  sich  uns  ge- 
rade aus  einer  Gesammtbetrachtung  des  Plianzenornaments  ergeben 
Avird ,  dass  eine  realistische  Darstellung  von  Blumen  zu  dekorativen 
Zwecken,  wie  sie  heutzutage  im  Schwange  ist,  erst  der  neueren  Zeit 
angeliört.  Der  naive  Kunstsinn  früherer  Kulturperioden  verlangte  vor 
Allem  die  Beobachtung  der  Symmetrie,  auch  in  Nachbildungen  von 
Naturwesen.  In  der  Darstellung  von  Mensch  und  Thier  hat  man  sich 
frülizeitig  davon  emancipirt,  sich  mit  AiKudiuing  derselben  im  W,ii)iien- 
stil  u.  dergl.  beJiolfen;  ein  so  untergeordnetes,  scheinbar  lebloses  Ding 
wie  die  Pflanze  dagegen  hat  man  noch  in  den  reifesten  Stilen  ver- 
flossener .Talirhunderte  symmetrisirt,  stilisirt  —  namentlich,  sofern  nini 
dem  l'll;in/<'nliild«-  nicht  eine  gegensiiiiKllielie  iledciining  nniei'lt  ^te, 
sondern  in  der  Tluit  ein  lth>sses  Ornament  l)i'al)sicliiigi  w;ir.  \in\  der 
Stilisirung  der  ältesten  Zeit  zum  J<(;alismus  der  luddernen  ist  man  aber 
nicht  mit  einem  Schlage  übergetreten.  Zu  wiederliolten  Malen  begegnen 
wir  in  der  Geseliiclite  des  Pflanzenornaments  einer  Neigung  ztir  Natura- 
lisirung.  zni-  Annäheriin;,''  der  lMl;inzen<'i"n;nnente   an  die  i-eaje  perspek- 


Einleitving".  XV 

tivische  Erscheinung  einer  Pflanze  und  ihrer  Theile.  Ja,  es  hat  in  der 
Antike  ohne  Zweifel  sogar  eine  Zeit  gegeben,  wo  man  in  der  beregten 
Annäherung  bereits  ziemlich  weit  vorgeschritten  war;  doch  dies  war 
nur  eine  vorübergehende  Episode,  woneben  und  wonach  die  stilisirten 
traditionellen  Formen  dauernd  in  Geltung  geblieben  sind.  Im  All- 
gemeinen lässt  sich  sagen,  dass  die  Naturalisirung  des  Pflanzenorna- 
ments im  Alterthum  und  fast  das  ganze  Mittelalter  hindurch  niemals 
bis  zur  unmittelbaren  Abschreibung  der  Natur  gegangen  ist. 

Das  lehrreichste  und  wohl  auch  Avichtigste  Beispiel  für  die  Art 
und  Weise,  wie  man  im  Alterthum  die  Naturalisirung  von  stilisirten 
Pflanzenmotiven  verstanden  und  durchgeführt  hat,  liefert  das  Auf- 
kommen des  Akanthus.  Bis  zum  heutigen  Tage  gilt  Aviderspruchs- 
los  die  Anekdote  des  Vitruv,  wonach  das  Akanthusornament  einer  un- 
mittelbaren Nachbildung  der  Akanthuspflanze  seine  Entstehung  ver- 
dankte. An  dem  Unwahrscheinlichen  des  Vorgangs,  dass  man  plötzlich 
das  erste  beste  Unkraut  zum  künstlerischen  Motiv  erhoben  haben  sollte, 
scheint  sich  bisher  Niemand  gestossen  zu  haben.  In  zusammenhängen- 
der Betrachtung  einer  Geschichte  der  Ornamentik  erschien  mir  ein 
solcher  Vorgang  völlig  neu,  ohne  Gleichen  und  absurd.  Und  in  der 
That  ergiebt  die  Betrachtung  der  ältesten  Akanthusornamente,  dass 
dieselben  im  Ausselien  gerade  die  charakteristischen  Eigenthümlich- 
keiten  der  Akanthuspflanze  vermissen  lassen.  Diese  charakteristischen 
Eigenthümlichkeiten  haben  sich  nachAveislich  erst  im  Laufe  der  Zeit 
aus  dem  ursprünglich  Vorhandenen  entwickelt:  liegt  es  da  nicht  auf 
der  Hand,  dass  man  auch  die  Bezeichnung  des  Ornaments  als  Akan- 
thus erst  viel  später  vorgenommen  haben  kann,  zu  einer  Zeit,  da 
dieses  Ornament  in  der  That  dem  Aussehen  der  genannten  Pflanze  nahe 
gekommen  Avar?  Was  aber  die  ältesten  Akanthusornamente  betrifft,  so 
hofie  ich  im  3.  Kapitel  erwiesen  zu  haben,  dass  dieselben  nichts 
Anderes  sind,  als  plastische,  beziehungsweise  plastisch  gedachte  Pal- 
metten. Damit  erscheint  der  Akanthus,  dieses  nachmals  weitaus 
Avichtigste  A'on  allen  Pflanzenornamenten,  nicht  mehr  als  Deus  ex 
machina  in  der  Kunstgeschichte,  sondern  eingereiht  in  den  zusammen- 
hängenden, normalen  EntAA'icklungsgang  der  antiken  Ornamentik. 

Der  naturalisirenden  Tendenz   in   der    abendländischen  Kunst,  die 
sich  u.  a.  eben  in  der  Entfaltung  des  Akanthusornaments  unzweideutig 


XVI  Einleitung'. 

ausdrückt,  scheint  der  Orient  von  Anbeginn,  seit  er  sieh  der  höheren 
griechischen  Kultur  und  Kunst  gefangen  gegeben,  widerstrebt  zu  haben. 
Die  hellenistischen  Formen  hat  er  durchgreifend  übernommen:  an 
diesem  Satze  Mird.  heute  wohl  Niemand  mehr  zweifeln,  dem  es  nicht 
um  ein  blosses  Justament-Festhalten  an  liebgewordenen  Anschauungen 
zu  thun  ist.  Dass  es  Anhänger  dieser  letzteren  trotz  der  überzeugen- 
den Sprache  der  Denkmäler  heute  noch  giebt,  ist  wohl  auch  vornehm- 
lich auf  Rechnung  der  festgewurzelten  antihistorischen  Tendenz  in  der 
Beurtheilung  ornamentaler  Kunstformen  zu  setzen.  Aber  thatsächlieh 
begegnen  uns  an  orientalischen  Kunstwerken  aus  der  römischen  Kaiser- 
zeit vielfach  die  stilisirtcn  Blüthenformen  der  reifhellenischen  und  der 
alexandrinischen  Kunst  neben  den  naturalisirenden  Bildungen  des 
römischen  Westens.  Das  byzantinische  Ornament  knüpft  theilweise 
direkt  an  hellenistische  Formen  an,  die  offenbar  auf  griechischem  und 
kleinasiatischem  Boden  auch  während  der  römischen  Kaiserzeit  fort- 
dauernd in  Gebrauch  geblieben  waren.  Wegen  der  grösseren  Eeilie 
von  Zwischengliedern  nicht  so  unmittelbar  einleuchtend,  aber  nicht 
minder  vollgiltig  ist  dies  hinsichtlich  der  saracenisehen  Kunst. 

Die  derb  byzantinischen  Elemente  in  der  saracenisehen  Ornamentik 
hat  man  längst  richtig  auf  ihre  Herkunft  hin  erkannt,  ja,  man  kann 
sagen,  in  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren  richtiger  als  heutzutage, 
woran  eben  wiederum  die  dazwischen  gekommene,  unselige  technisch- 
materielle Entstehungstheorie  mit  der  Schwärmerei  für  spontan-autooli- 
thone  Anfänge  der  unterschiedlichen  nationalen  Künste  Schuld  ist. 
Dagegen  blieb  die  Arabeske  allezeit  unangetastetes  Sondereigenthum 
des  Orients,  insbesondere  der  Araber.  Und  doch  lehrt  die  Geschichte 
der  Ornamentik  im  Alterthum,  dass  der  antike  Orient  das  Rankenorna- 
ment, das  ja  der  Arabeske  zu  Grunde  liegt,  nicht  gekannt  lial  und  da- 
her dasselbe  erst  vom  hellenischen  AVesten  übernommen  halten  niuss. 
Auch  konnte  man  längst  bei  näherem  Zusehen  in  dem  dichten  Arabesken- 
geschlinge einzelne  mehr  hervorstechende  .Alotive  w.iiirneliiuen,  die  mit 
ihren  Volutenkelchen  und  l'.l.itif.-icliei-n  liciitlicii  (Jen  /iisnninimli.iiig 
mit  der  alten  Palmettenornamentik  vcrrathen.  Was  aber  an  der 
Arabeske  als  scheinbar  völlig  neu  und  gegenüber  der  antiken  Auf- 
fassung des  Pflanzenornaments  ganz  fremdartig  erschienen  ist,  das  war 
die  Eigenthümlicldvcit,  dass  die  an  den  Raid^en  sitzenden  saracenisehen 


Einleitung.  XV  rr 

Blüthenmotive  nicht  bloss,  wie  dies  in  der  Xatur  und  im  Allg'omein<'n 
auch  in  der  abendländischen  Ornamentik  der  Fall  ist.  als  freie  Endi- 
gungen selbständig  auslaufen,  sondern  sehr  häufig  Aviederum  in  Ranken 
übergehen.  Dadurch  wird  der  Charakter  der  Blüthen  als  solcher  unter- 
drückt, die  Bedeutung  der  Ranken  als  Stengel  verwischt,  das  Wesen 
der  Arabeske  als  eines  Pflanzenrankenornaments  für  den  Beschauer  oft 
bis  zur  Unkenntlichkeit  verschleiert. 

Diese  Eigenthümlichkeit  nun,  die  als  die  wesentliche  und 
charakteristische  der  Arabeske  bezeichnet  werden  darf,  und  in 
welcher  die  antinaturalistische  auf  das  Abstrakte  gerichtete  Tendenz 
aller  frühsaracenischen  Kunst  ihren  schärfsten  Ausdruck  gefunden  hat, 
lässt  sich  ebenfalls  schon  in  der  antiken  Rankenornamentik  vorgebildet 
beobachten.  Dem  Nachweise  dieses  Sachverhaltes  ist  nebst  den 
Schlüsse  des  dritten  das  vierte  Kapitel  dieses  Buches  gewidmet.  Ich 
hole  damit  zugleich  etwas  nach,  was  ich  in  meinen  „Altorientalischen 
Teppichen"  zu  geben,  hauptsächlich  dui'ch  Raummangel  verhindert 
war.  Dieser  Nachtrag  erscheint  mir  um  so  nothwendiger,  als  sich  her- 
ausgestellt hat,  dass  man  vielfach  die  Natürlichkeit  des  Vorganges,  die 
antike  Kunst  zum  Ausgangspunkte  der  frühmittelalterlichen  auch  auf 
orientalischem  Boden  zu  machen,  nicht  recht  einsehen  wollte:  so  tief- 
gewurzelt ist  in  den  modernen  Geistern  die  antihistorische  Anschauung, 
dass  die  Kunst  da  und  dort  ihren  spontanen,  autochthonen  Ursprung 
genommen  haben  müsse,  höchstens  der  Occident  der  lernende,  der 
Orient  aber  immer  nur  der  spendende  Theil  gewesen  sein  könne. 
Nicht  bloss  den  Dichtern,  auch  den  Kunstschriftstellern  wurde  der 
Orient  zum  Lande  der  Märchen  und  Zauberwerke :  in  den  fernen  Orient 
verlegen  sie  mit  Vorliebe  die  Erfindung  aller  erdenklichen  „Techniken", 
namentlich  aber  der  flächenverzierenden.  Und  schien  einmal  eine 
„Technik"  als  im  Orient  autochthon  erwiesen,  so  musste  es  dann  auch 
die  mittels  derselben  hervorgebrachte  Kunst  gewesen  sein,  die  doch 
nach  der  herrschenden  Anschauung  der  führenden  „Technik"  überall 
erst  nachgehinkt  wäre. 

Mehr  Voraussetzungen  für  eine  historische  Betrachtung  des 
Pflanzenrankenornaments  sind  innerhalb  des  abendländischen  Mittel- 
alters gegeben.  Nicht  als  ob  dieses  Gebiet  von  den  Einwirkungen  des 
Kunstmaterialismus    völlig   verschont  geblieben  wäre:    vielmehr  lassen 


X\ll[ 


Einlc'ituno-. 


sich  dieselben  auch  dort  auf  Schritt  und  Tritt  nachweisen,  und  ihnen 
ist  es  wohl  zuzuschreiben,  dass  die  Beurtheilung-  der  Verhältnisse  in 
der  Frühzeit,  in  der  sogen.  Yölkerwanderungs-,  aber  auch  noch  in  der 
Karolingischen  und  Ottonischen  Periode,  trotz  verhältnissmässig  reich- 
lichen Materials  eine  vielfach  unklare,  widerspruchsvolle,  der  Einheit- 
lichkeit entloehrende  geblieben  ist.  Aber  ich  meine,  dass  man  wenig- 
stens nicht  auf  so  eing-ewurzelte  Vorurtheile  und  blinden  Widerstand 
stossen  würde,  wenn  man  den  Versuch  machte,  das  mittelalterlich- 
abendländische Pflanzenornament  in  seiiwr  historiscluni  Entwicklung 
vom  Ausgange  der  klassischen  Antike  bis  zum  Aufkunnnen  der  Re- 
naissance darzustellen.  Da  nun  Zeit  und  Kaum  vorläufig  nicht  ge- 
gestatten Alles  zu  eriu'tern,  Avas  auf  die  historische  Entwicklung  des 
Pflanzenrankenornaments  Bezug  hat,  so  habe  ich  mich  darauf  be- 
schränkt, Ji'ue  Partien  daraus  zur  S])rachc  zu  bringen,  die  am  meisten 
«•ini-r  fundamentalen  Klärung  bedürftig  erscheinen,  so  dass  die  bezüg- 
lichen Klarstellungfu  in  der  That  als  Grundlegungen  zu  einer  darauf 
weiter  zu  bauenden  (reschichte  der  Ornamentik  gelten  dürfen.  Es  be- 
ti-effen  diese  Partien,  wie  wir  gesehen  haben,  das  PHanzen- 
rankenornanient  im  Ali<  rtlinni  mul  dessen  treueste  Fortsetzung  im  kon- 
servativen Orient,  die  Arabeske.  Auch  in  der  mittelalterlichen  Kunst- 
geschichtsliteratur begegnen  wir  übrigens  in  den  Peschreibungen  von 
Kunstwerken  so  überaus  häufig  der  allgemeinen  Bezeichnung:  ..ein 
Ornament",  worauf  dann  eine  nähere  Besclu'eihung  l'olgt,  die  ganz 
überflüssig  wäre,  wenn  man  das  betreff'ende  ( )rnameni  in  der  Oesammt- 
entwicklungsgeschichte  bereits  unterge])i-aclit  hätte.  Dass  diese  Unter- 
bringung, wenigstens  soweit  das  antike  und  sai'acenische  l'Hanzen- 
rankenornament  in  Betracht  k^nnut,  nichts  weuigci'  .-ils  schwer  ist,  zu 
zeigen,  —  für  eine  solche  systematische  Unterbringung  eine  historische 
..Orundleguug"  zu  schaffen:  dies  ist  der  Hauptzweck,  den  ich  mir  mit 
dem  y>.  und  4.  Kapitel  dieses  BucIk^s  gestellt  lial)e. 

Wenn  es  oberste  Aufgabe  .illei-  historischen  l'^orschnng  und  so- 
mit auc-h  dei-  kunsthistorischen  ist,  kritisch  /n  sondern,  so  erscheint 
die  Grundtendenz  dieses  Buches  n.ich  ileiii  (io.igien  \ielniehr  nach 
der  entgegengesetzten  Seite  gerii-htei.  I'.isher  (ieii-enntes  und  (ie- 
schiedenes  soll  untereinander  verlmuden.  un<l  iintei'  einheillichem  (ie- 
sicht.spunkte    lietr.ichtet     werden.       in    der   That    liegt    die    näcliste    .\ul'- 


Einleituiio'. 


XIX 


g'abe   auf  dem  Gebiete   der  Ornamentg-escbichte   darin,   den  in  tausend 
Stücke  zersclmittenen  Faden  wieder  zusammenzuknüpfen. 

Der  Inbalt  dieses  Bucbes  rübrt  an  allzu  tiefgewurzelte  und  lieb- 
gewordene  Anscbauung-en,  als  dass  icli  niebt  auf  vielfacben  Wider- 
sprucb  g'efasst  sein  müsste.  Ich  bin  seiner  gewärtig;  docb  weiss  ich 
micb  auch  bereits  mit  so  Manchem  eines  Sinnes.  Andere  mögen  mir  im 
Stillen  Recht  geben,  obgleich  sie  vielleicht  nicht  den  Beruf  in  sich 
fühlen,  sich  laut  dazu  zu  bekennen.  Die  Uebrigen  aber,  die  sich  nicht 
überzeugen  lassen  wollen,  wenigstens  dazu  gebracht  zu  haben,  dass  sie 
die  Xothwendigkeit  einsehen,  für  ihre  vorgefasste  Lieblingsmeinung 
stärkere  und  bessere  Gründe  als  die  bisherigen  beiscbaffen  zu  müssen, 
erschien  mir  schon  eine  erstrebenswerthe  That,  indem  selbst  ein  solcher 
bedingter  Erfolg  dazu  beizutragen  vermöchte,  Klarheit  in  die  uns  in 
diesem  Buche  beschäftigenden  fundamentalen  Fragen  zu  bringen:  ist 
es  doch  menschliche  Erbsünde,  nur  durch  Irrthum  zur  Wahrheit  zu 
gelangen. 


I. 

Der  geometrische  Stil. 


Alle  Kunst  und  somit  auch  die  dekorative  steht  in  unauflöslieliem 
Zusammenhange  mit  der  Natur.  Jedem  Gebilde  der  Kunst  liegt  ein 
Gebilde  der  Natur  zu  Grunde,  sei  es  unverändert  in  dem  Zustiinde,  in 
dem  es  die  Natur  geschaffen  hat,  sei  es  in  einer  Umbildung,  die  der 
Mensch,  sich  zu  Nutz  oder  Freude,  damit  vorgenommen  hat. 

Dieser  stets  vorhandene  Zusammenhang  tritt  aber  an  verschie- 
denen Kunstgebilden  mit  verschiedener  Deutlichkeit  zu  Tage.  Am  un- 
verkennbarsten offenbart  er  sich  an  den  Werken  der  Skulptur:  die 
HervorbringTingen  der  Natur  erscheinen  hier  eben  nachgeahmt  mit 
allen  ihren  drei  körperlichen  Dimensionen.  Die  Versuchung  zu  einer 
stärkeren  Abweichung  von  den  Vorbildern  der  Natur  und  die  Gefahr 
einer  Verdunkelung  des  obwaltenden  Zusammenhanges  mit  diesen 
letzteren  war  erst  recht  nahegerückt  von  dem  Augenblicke  an,  da 
man  im  Kunstschaffen  die  Tiefendimension  und  damit  zugleich  die 
volle  körperliche  Erscheinung  preisgab,  was  bei  jenen  Künsten  der 
Fall  ist,  die  in  der  Fläche  darstellen. 

Verweilen  wir  einen  Augenblick  bei  diesem  Punkte.  Wir  haben 
eben  die  beiden  grossen  Klassen  festgestellt,  in  die  sich  die  dekora- 
tiven Künste  scheiden:  die  plastischen  und  die  in  der  Fläche  darstel- 
lenden. Es  lassen  sich  aber  aus  dem  Gesagten  auch  schon  Schlüsse 
auf  das  genetische  Verhältniss  ziehen,  das  zwischen  den  beiden  ge- 
nannten Kunstgebieten  obwaltet.  Wenn  wir  vorerst  die  Denkmäler 
beiseite  lassen  und  zunächst  auf  rein  deductivem  Wege  uns  die  Frage 
zu  beantworten  suchen,  welcher  von  beiden  Klassen  von  Künsten,  den 
plastischen  oder  den  flächenbildenden,  der  Vorantritt  in  der  Entwick- 
lung zuerkannt  werden  müsse,  so  av erden  wir  schon  a  priori  —  trotz 
der  weitverbreiteten  gegentheiligen  ^leinung    —    das  plastische  Kunst- 

Riegl,  Stilfragen.  1 


2  Der  g-eoiiietrisclie  Stil. 

seluifteu  als  das  ältere,  primitivere,  das  in  der  Fläclie  bildende  als  das 
Jüngere,  raftinirtere  bezeieliuen  dürfen.  EtAva  ein  Tliier  in  fencliteni 
Thon  schlecht  und  recht  nachziunodelliren,  dazu  bedurfte  es,  nachdem 
einmal  der  Xachahmung-strieb  im  31enschen  vorhanden  war,  keiner 
höheren  Bethätiguiig-  des  menschlichen  Witzes,  da  das  Vorluld  —  das 
lebende  Thier  ^  in  der  Xatur  fertig"  vorlag.  Als  es  sich  aber  zum 
ersten  Male  darum  handelte ,  dasselbe  Thier  auf  eine  gegebene 
Fläche  zu  zeichnen,  zu  ritzen,  zu  malen,  bedurfte  es  einer  geradezu 
schöpferischen  That.  Denn  nicht  der  vorbildlich  vorhandene  Köri)er 
■wurde  in  diesem  Falle  nachgebildet,  sondern  die  Silhouette,  die  Um- 
risslinie, die  in  AYirklichkeit  nicht  existirt  und  vom  Menschen  erst 
frei  erfunden  -werden  nmsste').  Von  diesem  Augenblicke  an  gewann 
die  Kunst  erst  recht  ilire  unendliche  Darstellungsfähigkeit;  indem  man 
die  Körperlichkeit  preisgab  und  sich  mit  dem  Schein  begnügte,  that 
man  den  wesentlichsten  Schritt,  die  l'hantasie  von  dem  Zwange  der 
strengen  Beobachtung  der  realen  Naturformen  zu  befreien  und  sie  zu 
einer  freieren  Behandlung  und  Condunirung  dieser  Xaturformen  hin- 
zuleiten. 

Mag  nun  ein  dekoratives  Kunstgebilde  von  emancipirter  Form- 
gebung noch  so  Avunderlich  erscheinen,  in  den  einzelnen  Theilen  l)richt 
doch  immer  das  reale,  aus  der  Xatnr  entlehnte  \'<abihl  hindurch.  Dies 
gilt  sowohl  von  den  in  der  Fläche  dargestellten,  als  von  den  i>lasti- 
schen  Kunstformen.  Die  Schlangenfüsse  des  Giganten  z.  B.  sind  niclit 
minder  von  X'aturvorbildern  abhängig,  als  sein  menschlicher  Ober- 
körper, wenngleich  das  Ganze,  der  Gigant,  in  der  realen  "Welt  nicht 
existirt.  Ebenso  gehen  die  völlig  in  linearem  Schema  gehaltenen  drei- 
spaltigen Blüthen,  etwa  auf  kyprischen  Vasen,  ganz  bestinnnt  auf  das 
Xaturvorbild  der  Lotusblüthe  zurück,  nuichte  nun  der  Zusammenhang 
mit  jener  bestimmten  Species  der  egyptischen  Flora  den  kyitrischen 
Töpfern  bewusst  gewesen  sein  oder  nicht. 

Also  die  Xatur  blieb  i'iir  die  Kunstlnmien  .lucli  dann  nueli  \or- 
bildlieli,  als  dieselben  die  Tiefendiniension  jjreisgegehen  imd  die  in 
dei-  AVii'klichkeit  nicht  existirendc  umgi'enzende  Linie  zum  Eh  iiienle 
ihrer  l);ir.-tellimg  gemaelit    li.it!«ii.      In-  rnn'isslinieii    (l,irge>tellte  Tliier- 

',  Von  Hottentotten  und  Australnegcin  wissen  die  Reisenden  vielfacli 
zu  berichten,  dass  sie  ihr  eig'enes  Bild  in  Zeiclnnuig-  oder  PlK)tog-rai)liie  nicht 
erkennen:  sie  vermögen  eben  die  Ding'e  nur  kör))erlicli,  aber  nicht  in  die  Fläche 
g-ebannt,  ohne  Tiefendiincnsion,  aufzufassen  —  ein  Beweis,  dass  für  letzteres 
bereits  eine  vorgeschrittcnf  Knltni  stufe  vorjius^^csctzt  werden  nniss. 


Der  geometrische  Stil.  3 

lig'uren  bleiben  nichtsdestoweuig'er  Tlnertigurcii ,  wenn  ihnen  aucli  die 
Plasticität  der  körperlichen  Erscheinung  fehlt.  Man  ging-  aber  endlich 
auch  daran,  aus  der  Linie  selbst  eine  Kunstform  zu  gestalten, 
ohne  dabei  ein  unmittelbares  fertiges  Vorbild  aus  der  Xatur  im  Auge 
zu  haben.  Diese  Gestaltungen  geschahen  unter  Beobachtung  der  fun- 
damentalen Kunstgesetze  der  Symmetrie  und  des  Rhythmus:  ein  regel- 
loses Gekritzel  ist  eben  keine  Kunstform.  So  bildete  man  Dreieck, 
Quadrat,  Raute,  Zickzack  u.  s.  w.  aus  der  geraden,  den  Kreis,  die 
Wellenlinie,  die  Spirale  aus  der  gekrümmten  Linie.  Es  sind  dies  die 
Figuren,  die  wir  aus  der  Planimetrie  kennen;  in  der  Kunstgeschichte 
pflegt  man  sie  als  geometrische  zu  bezeichnen.  Der  Kunststil,  der  sich 
auf  der  ausschliesslichen  oder  doch  überwiegenden  VerAvendung  dieser 
Gebilde  aufliaut,  heisst  somit  der  geometrische  Stil. 

Wenn  nun  auch  den  Gebilden  des  geometrischen  Stils  anschei- 
nend keine  realen  Wesenheiten  zu  Grunde  liegen,  so  stellte  man  sich 
damit  dennoch  nicht  ausserhalb  der  Xatur.  Dieselben  Gesetze  von 
Symmetrie  und  Rhythmus  sind  es  doch,  nach  denen  die  Natur  in  der 
Bildung  ihrer  Wesen  verfährt  (Mensch,  Thier.  Pflanze,  Krystall),  und 
es  bedarf  keineswegs  tiefere)-  Einsicht,  um  zu  bemerken,  Avie  die 
planimetrischen  Grundformen  und  Configurationen  den  Xaturwesen 
latent  anhaften.  Der  eingangs  aufgestellte  Satz  a^ou  den  engen  Be- 
ziehungen aller  Kunstformen  zu  den  körperlichen  Xaturerscheinungen 
besteht  also  auch  für  die  Formen  des  geometrischen  Stiles  zu  recht. 
Die  geometrischen  Kunstformen  A^erhalten  sich  eben  zu  den  übrigen 
Kunstformen  genau  so,  Avie  die  Gesetze  der  Mathematik  zu  den  leben- 
digen Xaturgesetzen.  Ebensowenig,  wie  im  sittlichen  A' erhalten  der 
Menschen,  scheint  es  im  Gange  der  Xaturkräfte  eine  absolute  Voll- 
kommenheit zu  geben:  das  AbAveichen  von  den  abstrakten  Gesetzen 
schafft  da  und  dort  die  Geschichte,  fesselt  da  und  dort  das  Interesse, 
unterlu'icht  da  und  dort  die  Langeweile  des  ewigen  Einerlei.  Der 
nach  den  obersten  Gesetzen  der  Symmetrie  und  des  Rhythmus  streng 
aufgebaute  geometrische  Stil  ist,  vom  Standpunkte  der  Gesetzmässig- 
keit betrachtet,  der  vollkommenste;  in  unserer  Werthschätzung  steht 
er  aber  am  niedrigsten,  und  auch  die  EntAvicklungsgeschichte  der 
Künste,  soAA^eit  Avir  dieselbe  bisher  kennen,  lehrt,  dass  dieser  Stil  den 
Völkern  in  der  Regel  zu  einer  Zeit  eigen  gcAvesen  ist,  da  sie  noch  auf 
einer  verhältnissmässig  niedrigen  Kulturstufe  verharrten. 

Trotz  dieser  geringen  ästhetischen  Würdigung  hat  doch  der  geo- 
metrische Stil    im  Verlaufe    der    letztverflossenen  ZAvei  Decennien  eine 

1* 


4  Der  geometrisclie  Stil. 

sehr  weitgehende  Berücksiehtigiuig  erfahren.  Einmal  von  Seiten  der 
archäologischen  Forschung.  Die  ältesten  Xekropolen  von  Cypern,  die 
vorhomerischen  Schichten  von  Hissarlik,  die  Terramaren  der  Poebene, 
die  Gräber  des  prähistorischen  Xord-  uu<l  Mitteleuropa  u.  a.  förderten 
den  geometrischen  Stil  an  Gegenständen  zu  Tage,  deren  Entstehung 
nach  sehr  gewichtigen  Anzeichen  in  verhältnissmässig  frühe  Zeiten  zu- 
rückgehen dürfte.  Dazu  gesellten  sich  die  Beobachtungen  der  ethno- 
logischen Forscher,  denen  die  charakteristischen  Linienniotive  des 
geometrischen  Stils  vieltach  als  \'erzierungen  auf  Geräthen  moderner 
Naturvölker  begegneten.  Da  wir  im  Sinne  der  modernen  Naturwissen- 
schaft uns  für  berechtigt  halten,  die  Naturvölker  für  rudimentäre 
Überbleibsel  des  Menschengeschlechtes  aus  früheren  längstveräossenen 
Kulturperioden  anzusehen,  so  erscheint,  in  diesem  Lichte  betrachtet, 
die  geometrisehe  Ornamentik  heutiger  Naturvölker  ebenfalls  als  eine 
historisch  längst  überwundene  Phase  der  Entwicklung  der  dekorativen 
Künste,  und  darum  von  hoher  historischer  Bedeutsamkeit. 

Da  nun  die  Avenigen  grundlegenden  Motive  des  geometrischen 
Stils  sich  fast  bei  allen  jenen  prähistorischen  und  Naturvölkern  in  der 
gleichen  Weise,  wt-nngleich  in  verschiedenen  Combinationen  und  unter 
Avechselnder  Bevorzugung  einzelner  Motive,  gefunden  halben,  in  Europa 
wie  in  Asien,  in  Afrika  Avie  in  Amerika  und  in  Polynesien,  so  zog 
man  hieraus  den  Schluss,  dass  der  geometrische  Stil  nicht  auf  einem 
Punkte  der  Erdoberfläche  erfunden  und  von  diesem  Punkte  aus  über 
alle  Welttheile  hin  verbreitet  worden  sein  mochte,  sondern  dass  er,  avo 
nicht  bei  allen,  so  doch  bei  den  meisten  Völkern,  bei  denen  Avir  seiner 
AnAvendung  begegnen,  spontan  entstanden  AA^äre.  Als  höchst  naiA-  und 
uuAvissend  würde  derjenige  gelten,  der  zAA^ei  Töpfe  verschiedener  Her- 
kunft, die  beide  das  gleiche  Zickzackmuster  aufweisen,  nicht  ctAva  in 
unmittelbaren  Zusammenhang,  nein,  bloss  in  eine  ganz  entfernte,  durch 
eine  längere  Reihe  A'on  ZAvischengliedern  vermittelte  Verwandtschaft 
unter  einander  bringen  Avollte.  Der  geometrische  Stil  Aväre  überall 
auf  der  Erdoberfläche  spontan  entsiandcn:  dies  ist  der  erste 
autoritative  Lehrsatz,  der  heutzutage  von  diesem  Stile  gilt. 

Stand  einmal  diese  Ülierzeugung  fest,  so  ergab  sich  daraus  sofort  der 
Aveitere  Schluss,  dass  der  Anstoss  zur  Erfindung  und  Entfaltung  dieses 
Stils  AA'ohl  überall  der  gleiche  gcAvesen  sein  niusstc.  Der  rastlos  nach 
Causalzusammenhängen  forschende  Sinn  unseres  naturwissenschaftlichen 
Zeitalters  Avar  alsbald  bemüht,  dieses  EtAvas  zu  ergründen,  das  den  geo- 
metrischen   Stil    an    so    vielen  Piiukleu    spontan    li.it    in's  Lrl.cn  treten 


Der  g'eometrische  Stil.  5 

lassen.  Und  zwar  musste  es  etwas  Greifbares,  Materielles  gewesen  sein; 
der  blosse  Hinweis  auf  unfassbare  iDsyeliisclie  Vorgänge  hätte  nicht  als 
Lösung  gegolten.  In  der  freien  Natur  durfte  man  das  anstossgebende 
Etwas  nicht  suchen;  die  abstrakten  linearen  Gebilde  des  geometrischen 
Stils  liegen  doch  in  der  Natur  nicht  offen  zu  Tage,  und  um  sie  aus 
ihrem  latenten  Dasein  in  der  Natur  zu  einem  selbständigen  in  der 
Kunst  zu  befreien,  dazu  hätte  es  eines  bewussten  seelischen  Vorgangs 
bedurft,  dessen  Dazwischenkunft  man  doch  um  jeden  Preis  vermeiden 
wollte.  Es  blieben  also  von  greifbaren  Dingen  bloss  die  Werke  von 
Menschenhand  übrig.  Da  es  sich  hiebei  um  Vorgänge  in  den  primi- 
tivsten Werdezeiten  des  Menschengeschlechts  handelte,  konnten  nur 
allerprimitivste  Werke  von  Menschenhand,  allernoth wendigste  Produkte 
eines  elementaren  Bedürfnisstriebes  in  Frage  kommen.  Als  einen  solchen 
Trieb  glaubte  man  denjenigen  nach  Schutz  des  Leibes  ansehen  zu  dürfen. 
Gegenüber  der  feindlichen  Aussenwelt  mochte  sich  der  Mensch  früh- 
zeitig durch  den  geflochtenen  Zaun  abgesperrt  haben;  Schutz  vor  den 
Unbilden  der  Witterung  mochte  er  nicht  minder  frühzeitig  in  Geweben 
gesucht  haben. 

Nun  sind  aber  gerade  Flechterei  und  Weberei  diejenigen  tech- 
nischen Künste,  die  durch  die  bei  ihnen  obwaltenden  technischen  Pro- 
ceduren  ganz  besonders  auf  die  Hervorbringung  linearer  Ornamente 
beschränkt  erscheinen.  Wie,  wenn  im  Kreuzgeflechte  des  Ruthenzauns 
und  des  grob  gewebten  Gewandes  die  linearen  Motive  des  geometrischen 
Stils  zuerst  dem  Menschen  vor  Augen  getreten  Avären?  Eine  glückliche 
Combination  von  farbigen  Halmen  hätte  dann  etwa  eine  Zickzacklinie 
zu  Wege  gebracht.  Wohlgefällig  mochte  der  Mensch  die  Symmetrie 
der  Schrägbalken  und  ihre  rhythmische  Wiederkehr  betrachtet  haben. 
Freilich,  wenn  man  die  Frage  stellen  wollte,  woher  wohl  dieses  Wohl- 
gefallen stammen,  wodurch  es  im  primitiven  Menschen  erweckt  worden 
sein  mochte,  war  der  menschliche  Witz  am  Ende  angelangt.  Aber  man 
glaubte  sich  schon  mit  dem  soAveit  Gewonnenen  begnügen  zu  dürfen. 
Auf  unbewusste,  nicht  spekulative  Weise,  bloss  von  der  Nothdurft  eines 
rein  praktischen  Zweckes  geleitet,  hatte  die  Menschenhand  —  so  rai- 
sonnirte  man  —  die  ersten  geometrischen  Verzierungen  zu  Wege  ge- 
bracht. Sie  waren  einmal  da,  und  der  Menscli  konnte  sie  nachahmen, 
gleichgiltig  aus  welchem  Grunde.  Formte  er  einen  Becher  aus  ange- 
feuchtetem Thon,  so  konnte  er  die  Zickzacklinie  hineingraben;  am 
Thonbecher  war  sie  zwar  nicht  durch  die  Nothdurft  des  Zweckes  ge- 
boten, wie  die  Fadenkreuzungen  bei  den  textilen  Techniken,   aber  sie 


6  Der  geometrische  Stil. 

g-etiel  ihm  an  diesen  Ictzterini  nnd  er  wollte  sie  auch  dort  sehen,  wo 
sie  nicht  spontan  entstand.  Das  geometrische  Motiv  des  Zickzack,  ur- 
sprünglich das  zufällige  Produkt  eines  rein  technischen  Vorgangs,  war 
hiemit  zum  Ornament,  zum  Kunstmotiv  erhoben.  Die  einfachsten 
und  wichtigsten  Kunstmotive  des  geometrischen  Stils  wären 
ursprünglich  durch  die  textilen  Techniken  der  Flechterei 
und  Weberei  hervorgebracht:  dies  ist  der  zweite  souveräne  Lehr- 
satz, der  heutzutage  vom  geometrischen  Stile  gilt. 

^lit  dem  zuerst  entwickelten  Lehrsatz  von  der  spontanen  unab- 
hängigen Entstehung  dieses  Stiles  an  verschiedenen  Punkten  der  Erd- 
oberfläche berührt  sich  dieser  zweite  Lehrsatz  insofern,  als  das  elemen- 
tare Bedürfniss  nach  Schutz  des  Leibes  sich  auf  verschiedenen  Punkten 
der  Erdoberfläche  selbständig  geltend  gemacht  haben  dürfte  und  daher 
auch  an  verschiedenen  Punkten  eine  spontane  Erfindung  (h'r  Zaun- 
flecliterei  und  Gewandweberei  veranlasst  haben  konnte.  Ein  Lehr.satz 
stützte  auf  solche  Weise  den  anderen;  in  ihrer  Harmonie  gal:)en  sie 
zusammen  ein  um  so  überzeugenderes  Bild  von  der  I-^ntstehung  des 
geometrischen  Stils  und  zugleich  des  frühesten  primitivsten  Kunst- 
schaflTens  überhaupt. 

Gottfried  Sem  per  war  es,  der  zuerst  die  linearen  Ornamente 
des  geometrischen  Stils  auf  die  textilen  Techniken  der  Flechterei  und 
Weberei  zurückgeführt  hat.  Dieser  Schluss  ergab  sielt  ihm  aber  kcines- 
Avegs  selbständig,  etwa  wie  wir  ihn  im  A^orstehenden  entwickelt  haben, 
sondern  im  Zusammenhange  mit  jenem  Grundgedanken,  dessen  Be- 
gründung und  konsequenter  Durchführung  sein  Stil  in  erster  Linie  ge- 
widmet war:  der  Theorie  vom  Bekleidungswesen  als  Ursprung  aller 
monumentalen  Baukunst.  Auf  diesem  Wege  gelangte  er  zur  Zurück- 
führung  aller  Flächenverzierung  auf  die  Begriffe  von  bekleidender 
Decke  und  einfassendem,  abschliessendem  Band,  mit  welchen  Px'gritlen 
ein  textiler  Gharakter  schon  sprachlich  verknüpft  erscheint.  Es  geht 
nun  aus  zahlreichen  Stellen  im  Siil  hervor,  dass  Semper  sich  diese  Vor- 
bildlichkeit von  Decke  und  Band  ursprünglich  u\\(\  iilierwiegend  iiiclit 
so  sehr  in  stofflich -materiellem,  als  in  ideellem  Sinne  gedacht  hat, 
wie  denn  auch  Semper  gewiss  der  Letzte  gewesen  wäre,  der  den  frei 
schöpferischen  Kunstgedanken  gegenüber  dem  sinnlich-materiellen  \arli- 
ahmungstriebe  nicht  gebühren<l  berücksichtigt  hätte;  die  Ausliilduiig 
dieser  seiner  Theorie  in  grob  materialistischein  Sinne  ist  erst  durch 
seine  zahllosen  Nachfolger  erfolgt.  Aber  es  lag  nnn  einmal  nahe,  die 
Dinge   auch    in    materiellen   Zusannnenliaiig   /n    lu-ingen.    nnd   an    <'iner 


Der  geometrische  Stil.  7 

Stelle-)  wenigstens  lässt  sich  Semper  über  die  Entstehung  des  Musters 
aus  der  Flechterei  und  Weberei  in  einer  so  bestimmten  Weise  vernehmen, 
dass  hinsichtlich  seiner  Meinung  über  den  technisch-materiellen  Ur- 
sprung der  geometrischen  Ornamentik  schliesslich  doch  kein  Zweifel 
übrig  bleibt. 

Semper's  Theorie  fand  in  den  Kreisen  der  Kunstforschung  bereit- 
willigste Aufnahme.  Schon  der  historisch-naturwissenschaftliche  Sinn 
unseres  Zeitalters,  der  lur  alle  Erscheinungen  die  Causalzusammenlxänge 
nach  rückwärts  zu  ergründen  sucht,  musste  sich  l^efriedigt  fühlen  von 
einer  Hypothese,  die  für  ein  so  eminent  geistiges  Gebiet  wie  es  das- 
jenige des  Kunstschaffens  ist,  eine  durch  ihre  Natürlichkeit  und  ver- 
blüffende Einfachheit  so  bestechende  Entstehungsursache  anzugeben 
wusste.  Besonders  eifrig  wurde  sie  von  der  klassischen  Archäologie 
aufgegriffen,  die  sich  el)en  in  die  Lage  versetzt  fand,  sich  mit  den  auf 
griechischem  Boden  gefundenen  vorklassischen  Kunstschöpfungen  aus- 
einandersetzen zu  müssen.  Entscheidend  hiefür  war  das  Vorgehen 
Conze's,  der  vor  20  Jahren  Semper's  Hypothese  für  die  sogen.  Vasen 
des  geometrischen  Stils  verwerthete:  Conze  ist  auch  bis  zum  heutigen 
Tage  der  vornehmste  Vertreter  der  vorhin  entAvickelten  beiden  Lehr- 
sätze vom  geometrischen  Stil  geblieben.  So  gross  erschien  diese  Er- 
rungenschaft, dass  man  sich  vorerst  mit  einer  allgemeinen  Fassung  der 
Lehrsätze  begnügte,  eine  nähere  Untersuchung  des  Processes,  eine  Er- 
örterung der  Fragen,  welche  von  den  verschiedenen  textilen  Teckniken 
hiebei  in  Frage  käme,  welche  die  ihr  entsprechendsten  geometrischen 
Motive  wären  u.  s.  w.,  für  überflüssig  hielt.  Erst  in  neuester  Zeit  wurde 
der  Versuch  gemacht,  auf  diese  Fragen  etwas  näher  einzugehen,  worauf 
noch  zurückzukommen  sein  wird;  die  Lehrsätze  von  der  spontanen 
Entstehung  des  geometrischen  Stils  auf  verschiedenen  Punkten  aus 
einer  textilen  Technik  wurden  aber  auch  von  dieser  Seite  nicht 
bloss  nicht  in  Zweifel  gestellt,  sondern  vielmehr  erst  recht  zu  Ijeweisen 
gesucht. 

Wir  wollen  nun  die  heute  allgemein  geltenden  Anschauungen  vom 
Ursprung  des  geometrischen  Stils  einer  Prüfung  auf  ihre  Stichhaltigkeit 
unterziehen.  Was  zunächst  den  ersten  der  erwähnten  beiden  Lehrsätze 
betrifft,  der  die  Spontaneität  der  Entstehung  des  geometrischen 
Stils  an  allen  oder  doch  an  den  meisten  jener  Punkte,  wo  wir  ihn 
sei  es  noch  heute  antreffen,    sei   es   seinen  Spuren  aus  früheren  Jahr- 


-)    Stil  I.  213,  worauf  noch  zurückzukommen  sein  wird. 


8  Der  geometrische  Stil. 

tciusenden  begegnen,  behauptet,  so  müssen  wir  uns  damit  begnügen, 
darzuthun,  dass  in  dieser  Frage  eine  zuverlässige  Entscheidung  heut- 
zutage nicht  getroffen  werden  kann,  und  daher  die  autoritäre,  Allge- 
meingiltigkeit  beanspruchende  Fassung,  in  welcher  der  besagte  Lehrsatz 
heute  vorgetragen  Avird,  zumindest  eine  verfrühte  genannt  werden 
rauss.  "Wie  lineare  Motive  bei  einem  Volke  spontan  in  die  Ornamentik 
eingeführt  Averdeü,  lässt  sich  heutzutage  wohl  nirgends  mehr  beobachten. 
Die  spontane  Entstehung  an  mehreren  verschiedenen  Punkten  lässt 
sich  somit  nicht  mehr  unmittelbar  beweisen,  allerdings  auch  nicht  das 
Gegentheil.  Das  Material,  auf  Grund  dessen  man  ein  zuverlässiges 
rrtlieil  schöpfen  könnte,  ist  einfach  nicht  mehr  vorhanden,  und  es  liegt 
daher  dermalen  auch  kein  genügender  Grund  vor,  um  die  Verbreitung 
des  geometrischen  Stils  von  einem  einzigen  Punkte  aus  zu  behaupten. 
Es  muss  sogar  zugestanden  werden ,  dass  es  Völkerschaften  mit 
sehr  respektablem  omamentalem  Kunstschaffen  giebt,  deren  nachweis- 
liche, des  bei  ihnen  beobachteten  gänzlichen  Mangels  an  Metall  und 
Metallwaaren  halber  unabsehbar  weit  zurückreichende  Isolirtheit  eine 
Abhängigkeit  von  anderen  Kunstvölkern  geradezu  auszuschliessen 
scheint ;  dem  interessantesten  dieser  Völker,  den  Maori  auf  Neuseeland, 
werden  auch  Avir  späterhin  mehrfach  Beachtung  zu  schenken  Veran- 
lassimg finden. 

So  viel  wird  man  aber  immerhin  sagen  dürfen,  dass  die  Ergebnisse 
der  letztjährigen  Forschungen  der  Annahme  allzuvieler  selbständiger  Ent- 
stehungsherde keineswegs  günstig  scheinen.  Die  Zeiten,  in  welche  die 
Ijezüglichen  Funde  in  den  Mittelmeerländern  zurückgehen,  rücken  uns 
immer  näher  und  entfernen  sich  in  dem  gleichen  Älaasse  vom  suitponirten 
Urzustände,  und  das  Gleiche  gilt  von  den  Überbleibseln  der  sogen,  nord- 
und  mitteleuropäischen  Bronzezeit.  Ferner  wird  es  immer  klarer,  dass  die 
friedliclien  Beziehungen  selbst  sehr  entfernter  Völker  zu  einander,  ihr 
Verkehr  zur  See  und  zu  Lande,  wenn  auch  durch  zahlreiche  Zwisclien- 
gliedei-  vermittelt,  in  überaus  frühe  Zeiten  zurückgehen;  an  Gelegen- 
heiten, Avelche  den  stets  wachen  Nachahmungstrieb  der  Menschen  reizen 
mocliten,  liat  es  somit  seit  unvordenklichen  Zeiten  nicht  gefehlt.  Min- 
destens zwisclien  den  das  Mittelmeerbecken  umwohnenden  Völkern 
werden  vielfache  causale  Ziisammenhänge  auch  in  Betreff  des  geome- 
trisclien  Stils  nicht  abzuweisen  sein.  Und  was  die  anscheinend  primi- 
tive geometrische  Ornamentik  bei  den  modernen  Naturvölkern  betrifft, 
so  erscheint  d;i  dop|ielte  Vorsicht  gel»oten  zu  einer  Zeit,  da  selbst  die 
chinesische  ,M;iii<r  liedcnkliclie  Risse  zeiüt,  wie  insbesondere  die  Nach- 


Der  geometrische  Stil.  9 

weise  F.  Hirth's  von  den  intensiven  Bsziehnngen  Chinas  zum  römischen 
Kaiserreich  ergeben  haben 2). 

Aus  alledem  geht  wenigstens  das  Eine  hervor,  dass  die  bedingungs- 
lose Proscription  der  Wenigen,  die  es  gelegentlich  wagen,  historische 
Zusammenhänge  in  gewissen  Varianten  des  geometrischen  Stils  zu  er- 
blicken, mindestens  ungerechtfertigt  ist.  Die  absolute  Primitivität  des 
geometrischen  Stils  auf  allen  Punkten  der  Erdoberfläche  und  bei 
allen  Völkern,  bei  denen  Avir  ihn  antreffen,  ist  aber  schlechtweg  ab- 
zuweisen. Das  Dipylon  z.  B.  ist  gewiss  ein  geometrischer  Stil,  aber 
keineswegs  ein  primitiver,  vielmehr  ein  raffinirter.  Die  Völker  sind  zu 
ungleich  in  ihrer  Begabung  für  das  Kunstschaffen,  als  dass  nicht  welche 
einen  Vorsprung  vor  den  übrigen  gehabt  hätten;  dann  Avar  aber  wieder 
der  Xachahmungstrieb  allzu  mächtig,  als  dass  die  zurückgebliebenen 
nicht  den  vorgeschrittenen  mit  Entlehnungen  gefolgt  wären.  Damit 
pflegt  übrigens  eine  besonnene  archäologische  Forschung  seit  Langem 
zu  rechnen. 

Kurz  gefasst  lässt  sich  somit  über  die  geographische  Seite  der 
Frage  nach  der  Entstehung  des  geometrischen  Stils  ungefähr  Folgendes 
sagen.  Es  liegt  keiu  zwingender  Grund  vor  zur  Annahme,  dass  die 
geometrischen  Kunstformen  von  einem  einzigen  Schöpfungscentrum  aus 
Verbreitung  gefunden  haben:  die  Möglichkeit  verschiedener  selbstän- 
diger Entstehungspunkte  bleibt  vielmehr  vorläufig  unbestritten.  Auf 
dem  Gebiete  der  Künste  bei  den  Mittelmeervölkem  dürfte  weitgehende 
wechselseitige  Beeinflussung  anzunehmen  sein,  was  im  Besonderen  zu 
begründen  hier  überflüssig  ist,  da  es  in  einzelnen  Punkten  bereits  auch 
von  archäologischer  Seite  nachgewiesen  und  anerkannt  erscheint.  Was 
aber  die  geometrische  Ornamentik  bei  den  Naturvölkern  betrifft,  so  ist 
das  bezügliche  Material  dermalen  noch  weit  davon  entfernt,  um  die 
Frage  als  spruchreif  erscheinen  zu  lassen. 

Wir  gehen  nun  an  die  Erörterung  des  zAveiten  Lehrsatzes,  der 
vom  geometi'ischen  Stil  gilt:  des  Satzes  vom  Ursprung  der  charak- 
teristischen Motive  dieses  Stils  aus  den  textilen  Techniken  der 
Flechterei  und  Weberei.  Dieser  Satz  galt  seit  Semper  und  Conze 
als  so  unfehlbar,  dass  nicht  bloss  von  keiner  Seite  ein  auch  nui'  be- 
scheidener Zweifel  daran  geäussert  wurde,    sondern  auch  bis  auf  die 


■^)  F.  Hirth,  China  and  the  Roman  Orient.  —  Bezeichnend  ist  es  mit  Bezug- 
auf  letzteren  Umstand,  dass  trotz  vielfacher  zu  Tage  liegenden  Analogien  es 
bisher  noch  Niemand  gewagt  hat,  die  entsprechenden  Schlüsse  auf  kunst- 
historischem Gebiete  zu  ziehen. 


]()  Der  geometrisehe  Stil. 

jüngste  Zeit  ein  näheres  Eingehen  auf  den  ganzen  Proeess.  der  von 
den  Textiltechniken  zu  den  geometrischen  Verzierungen  auf  den  früh- 
griechischen  Vasen  geführt  haben  mochte ,  für  übertiüssig  gehalten 
wurde.  Angesichts  der  streng  wissenschaftlichen  Methode,  mit  welcher 
die  klassische  Archäologie  unserer  Tage  arbeitet,  ist  die  Autoritätsgläu- 
bigkeit gegenüber  dem  in  Rede  stehenden  Lehrsatze  nur  zu  verstehen, 
Avenn  man  den  allgemeinen  Zug  der  Zeit,  die  ül)ermächtige  Strömung 
der  Geister  in  den  letztverflossenen  dreissig  Jahren  in  Betr;ielir  zieht. 
Es  ist  die  durch  Lamark  und  Goethe  angebalmte,  durch  Darwin  zum 
reifen  Ausdruck  gelangte  Art  der  "Weltanschauung  nach  stoftlich-natur- 
wissenschaftlichen  Gesichtspunkten,  die  auch  auf  dem  Gebiete  der  Kunst- 
forschung schwerwiegende  Folgen  nach  sich  gezogen  hat.  Parallel  mit 
der  Darlegung  der  EntAvicklung  der  Arten  unter  rein  stoft'lichen  Fort- 
bildungsmotiven war  man  bestrebt,  auch  für  die  geistige  Entwicklung 
des  Menschengeschlechts  ursprünglich  wesentlicli  nmtcricHc  IIel)el  aus- 
tindig  zu  machen.  Die  Kunst  als  augenscheinlich  höhere  Potenz  einer 
geistigen  Entwicklung  konnte  ^  so  meinte  man  ■ —  nicht  von  Anbeginn 
vorhanden  gewesen  sein.  Zuerst  Aväre  die  auf  Erreichung  rein  praktischer 
Zwecke  gerichtete  Technik  da  gewesen,  aus  der  sich  erst  mit  steigender 
Entwicklung  der  Kultur  die  Kunst  entfaltet  hätte.  Zu  den  ältesten 
Techniken  zählte  man  dit-  Flechterei  und  Weberei,  zu  ilen  ältesten 
Verziernngs-  oder  Kunstformen  die  geradlinigen  geometrisclien  Figuren. 
Da  nun  die  geradlinigen  geometrischen  Figuren  sich  für  die  ^Musterung 
einfacher  Geflechte  und  Gewebe  aus  tcchnisclien  Beciuendichkeitsgründen 
ganz  besonders  eignen,  lag  es  sozusagen  in  der  Luft,  beide  Erschei- 
nungen in  causalen  Zusammenhang  unter  einnnder  zu  bringen  und  zu 
erklären:  die  geradlinigen  geometrischen  l-'ignreii  sind  urs]iriinglieli 
nicht  auf  dem  Wege  künstlerischer  Ertiiidimg.  somleni  (lin\-h  die 
Teclinik  ;nif  dem  Wege  einer  generatio  sp(iiit;nie;t   iier\'()rgel>raeht. 

Dies('  gei-adlinigen  g(.'ometrisclien  Ornamente  sind  ahei"  nieiit  die 
einzigen  auf  den  ältesten  vor-  und  früligrieehischen  Vasen:  es  konnnen 
liiezu  aucii  Urnmndinige  Gebilde:  ^Velleiilinie.  Kreis.  Spii-.ile  u.  s.  w., 
für  deren  Entstehung  die  Texiili'cliiiil<eii  doch  iiielii  sn  iilierzcugend 
in's  Feld  geführt  werden  konnten.  \\'\f  li'ii'  die  ger;iillinigi'ii  ( )rn.iMienle. 
Dafür  musste  nun  eine  Anzahl  .■inilerwciiiger  Techniken  herli.illen .  J;i 
man  k.'inn  sagen,  dass  es  in  den  letzten  zw.nizig  .I.ihi'i'n.  und  /.wiw  in 
steig(;iidem  Maasse,  ein  fnndannntales  inethndisches  Gesetz  der  klassi- 
schen Archäologie  gewesen  ist.  für  Jedes  Motiv,  das  man  von  einem 
gewissen  Punkte  ans  nielii   mehi-  im  Wege  lelmweiser  Febern.ilmie  n.icli 


Der  g'eometrisclie  Stil.  W 

rückwärts  vcrfolg-eii  konnte,  die  Technik  ausfindig-  zu  niaelien,  die 
sozusagen  spontan,  mit  Ansschluss  bewusst  künstlerischer  Erfindung-, 
auf  die  Schaffung  des  betreöendeu  Motives  geführt  haben  mochte.  Es 
ist  die  Theorie  von  der  technisch-materiellen  Entstehung-  der 
künstlerischen  Urformen,  die  zur  schrankenlosen  Geltung  in  der 
Archäologie  erhoben  wurde  und  innerhalb  Avelcher  die  Theorie  von  der 
Entstehung-  der  geradlinigen  geometrischen  Ornamente  aus  den  textilen 
Techniken  nur  eine  Unterabtheilung  bildet ,  so  Avie  die  geradlinigen 
geometrischen  Ornamente  selbst  nur  einen  Bruchtheil  von  sämmtlichen 
nachAveisbaren  primitiven  Ornamenten.  Mit  einer  Sicherheit,  als  Avenn 
sie  persönlich  dabeigcAv^esen  Avären  und  Material  und  Werkzeug  des 
kunsterAveckenden  Urmenschen  gesehen  hätten,  wussten  die  Archäologen 
die  textilen,  die  metallurgischen,  die  stereotomischen  u.  s.  aa-.  Techniken 
für  die  einzelnen  ZiermotiA^e  auf  den  ältesten  Vasen  anzugeben.  Eine 
Unsumme  A^on  Arbeit  Avurde  an  diese  Versuche  verscliAvendet,  die  Aer- 
schiedensten  Combinationen  versucht ,  die  verschiedensten  Techniken 
für  ein  und  dasselbe  Motiv  ins  Feld  geführt,  Avie  sich  dies  bei  der 
Natur  der  Sache  a^ou  selbst  A'ersteht.  Und  gleichAA'ie  der  Deutsche 
Häckel  Darwin's  Theorie  am  konsequentesten  und  autoritatiA^sten  aus- 
gebildet hat,  so  Avaren  es  auch  unter  den  Archäologen  wiederum  die 
Deutschen,  die  hierin  am  entschiedensten  a^ orangeschritten  sind.  Wie 
weit  sie  hiebei  über  die  Anschauung  des  eigentlichen  Vaters  dieser 
Theorie,  Gottfried  Semper's,  hinausgegangen  sind,  möge  eine  Stelle  aus 
dessen  Stil  IL  87  lehren,  die  ich  im  Wortlaute  hieher  setze: 

Die  Regel,  dass  die  dekorative  Ausstattung  des  Gefässes  dem  bei 
seiner  Ausführung  anzuAvendenden  Stoffe  und  der  Art  seiner  Bearbeitung 
entsprechen  soll,  „führt  auf  schwer  zu  lösende  Zweifel  über  den  tech- 
nischen Ursprung  vieler  typisch  gCAvordenen  dekorativen  Formen,  über 
die  Frage,  in  Avelchem  Stoffe  sie  zuerst  dargestellt  wurden,  Avegen  der 
frühen  Wechselbeziehungen  und  Einflüsse  Avelche  die  Stoffe  auf  diesem 
Gebiete,  den  Stil  eines  jeden  unter  ihnen  modificirend,  gegenseitig  aus- 
übten. So  bleibt  es  dahingestellt,  ob  die  Zonen  A^on  Zickzackorna- 
menten, Wellen  und  Schnörkeln,  die  theils  gemalt  theils  vertieft  auf  den 
Oberflächen  der  ältesten  Thongefässe  fast  überall  gleichmässig  vor- 
kommen, ob  sie  die  Vorbilder  oder  die  Abbilder  der  gleichen  flachver- 
tieften Verzierungen  auf  ältesten  Bronzegeräthen  und  metallenen  Waflfen- 
stücken  sind,  oder  ob  sie  keinem  a^ou  beiden  Stoffen  ursprünglich  an- 
gehören. .  .  .  Erst  mit  vorgerückter  Kunst  beginnt  die  bcAVusst- 
volle    Unterscheidung    und    künstlerische    VerAverthung    der 


1'2  Dev  g-eometrisclie  Stil. 

Schranken  und  Vortheile,  die  die  verschiedenen  der  Ausführung" 
sich  darbietenden  Stoffe  für  formales  Schaffen  mit  sich  führen  und  ge- 
statten." 

So  vorsichtig  drückte  sich  der  Autor  aus,  der,  Künstler  und  Ge- 
lehrter zugleich,  in  höherem  Maasse  als  irgend  Einer  seines  Jahrhunderts 
die  technischen. Proceduren  des  Kunstschaffens  in  ihrer  Gesammtheit 
und  ihren  Wechselbeziehungen  überblickte  und  umfasste.  Es  geht  auch 
aus  seinen  obcitirten  Worten  hervor,  dass  er  sich  die  formenbildende 
Thätigkeit  der  „Technik"  im  Wesentlichen  erst  in  vorgerücktere  Zeiten 
der  Kunstentwicklung  verlegt  denkt,  und  nicht  in  die  ersten  Anfänge 
des  Kunstschaffens  überhaupt.  Und  dies  ist  auch  meine  Überzeugung. 
Nichts  liegt  mir  ferner  als  die  Bedeutung  der  technischen  Proceduren 
für  die  Um-  und  Fortbildung  gewisser  Ornamentmotive  zu  läugnen. 
Uns  in  dieser  Beziehung  die  Augen  geöffnet  zu  haben,  wird  immer  ein 
unvergängliches  Verdienst  Gottfried  Semper's  bleiben.  Wenn  dieser 
Punkt  im  Folgenden  nicht  besonders  verfolgt  oder  öfter  betont  sein  wird, 
so  mag  man  dies  aus  dem  Umstände  erklären,  dass  ich  mir  eben  die 
besondere  Aufgabe  gestellt  habe,  die  von  der  Teclmik  unverdienter- 
maassen  in  Anspruch  genommene  schöpferische  Bedeutsamkeit  auf 
anderem  Gebiete,  auf  demjenigen  der  ältesten  erstgeschaffenen  Kunst- 
formen, zu  brechen.  Es  fällt  mir  darum  nicht  bei,  der  kunstmateria- 
listischen Bewegung  der  letzten  20  Jahre  allen  Werth  und  alle  Bedeutung 
abzusprechen,  oder  gar  damit  eine  Kritik  der  Lehre  Darwin's  und  seiner 
Xachfolger  zu  beabsichtigen.  Dass  die  Theorie  von  'der  technisch- 
materiellen Entstehung  aller  künstlerischen  Urformen  eine  Phase  der 
archäologischen  Wissenschaft  bedeutet  die,  wie  die  Verhältnisse  lagen, 
nothwendigermaassen  einmal  durchgemacht  werden  musste,  dafür  bürgen 
schon  die  Namen  ihrer  ersten  Bahnbrecher,  Semper's  und  Conze's,  und 
dafür  zeugt  nicht  minder  die  schrankenlose  Verbreitung,  die  dieselbe 
sofort  in  Alldeutschland  und  weit  darüber  hinaus  gefunden  hat.  Nun 
scheint  es  mir  aber  an  der  Zeit  sich  einzugestehen,  dass  wir  uns  in 
Sachen  der  Kunst  iu  dei-  aiigedeutcicn  K'ichtung  ^•iel  zu  weit  vorgewagt 
haben,  und  dass  gewichtige  Bedciikm.  die  ich  im  Naclifolgeiiden  ent- 
Avickeln  Averde,  es  uns  nahelegen,  mit  der  Tendenz,  die  elementarsten 
Kunstschöpfungen  des  Menschen  aus  stofflich-technischen  Prämissen  zu 
erklären,  den  Rückzug  anzutreten. 

Es  wird  sicli  iu  den  folgeiulen  Capiteln  dieses  Buches  wiederholt 
rJelegenheit  ergeben,  die  Stichhaltigkeit  der  bisher  versuchten  tech- 
nisch-materiellen pjrklärunyen  und  Ablcitniiiien  einzelner  Ornamente  zu 


Der  geometrische  Stil.  23 

prüfen.  In  diesem  Capitel  über  den  geometrischen  Stil  haben  wir  es 
bloss  mit  der  Ableitung  der  geradlinigen  geometrischen  Motive  aus  den 
textilen  Techniken  zu  thun. 

Auf  welche  Weise  sollen  nun  die  Motive  des  geometrischen  Stils 
aus  den  textilen  Techniken  hervorgegangen  sein? 

Halten  wir  uns  auch  hiefür  an  Gottfried  Semper,  denn  die  Übrigen 
haben  doch  nur  im  Allgemeinen  wiederholt,  was  jener  noch  verhältniss- 
mässig  am  deutlichsten  ausgesprochen  und  am  anschaulichsten  gedacht 
hat.  Die  entscheidende  Stelle  findet  sich  im  I.  Bande  des  Stil  S.  213. 
Nachdem  er  da  von  dem  geflochtenen  Zaun  als  ursprünglichstem  ver- 
tikalen Raumabschluss,  als  der  ältesten  Wand  gesprochen  hatte,  fährt 
er  fort:  „von  dem  Flechten  der  Zweige  ist  der  Übergang  zum  Flechten 
des  Bastes  leicht  und  natürlich.  Von  da  kam  man  auf  die  Erfindung 
des  Webeus,  zuerst  mit  Grashalmen  oder  natürlichen  Pflanzenfasern, 
hernach  mit  gesponnenen  Fäden  aus  vegetabilischen  oder  thierischen 
Stoffen.  Die  Verschiedenheit  der  natürlichen  Farben  der  Halme  veran- 
lasste bald  ihre  Benutzung  nach  abAvechselnder  Ordnung  und  so  ent- 
stand das  Muster.^- 

Der  letzte  Satz  ist  für  uns  der  entscheidende.  Semper  drückt  sich 
darin  zwar  nicht  bestimmt  aus,  ob  er  die  Entstehung  des  Musters  bereits 
in  die  Flechterei,  oder  erst  in  die  von  ihm  als  eine  höhere  Stufe  der 
Entwicklung  aufgefasste  Weberei  versetzt.  Infolgedessen  unterlässt  er 
es  auch  seine  Vorstellung  von  dem  fraglichen  Vorgange  an  einem  kon- 
kreten Beispiele  zu  erläutern.  Aber  so  viel  geht  aus  seinen  Worten 
hervor,  dass  er  selbst  die  Dazwischenkunft  eines  nichtmateriellen  Fak- 
tors nicht  zu  läugnen  vermag.  „Die  Verschiedenheit  der  natürlichen 
Farben  der  Halme  veranlasste  bald  ihre  Benutzung  nach  abM^ech- 
selnder  Ordnung."  Also  nicht  der  reine  Zufall  hat  das  erste  Muster 
in  die  Welt  gesetzt,  sondern  der  Mensch  nahm  eine  bewusste  („veran- 
lasste") Auswahl  verschiedenfarbiger  Halme  vor,  deren  Verflechtung  in 
rhythmischer  Abwechslung  („abwechselnder  Ordnung")  sodann  zum 
Muster  geführt  hat.  Es  wird  dem  Menschen  damit  ausdrücklich  ein 
kunstschöpferischer  Gedanke  bei  dem  ganzen  Vorgange  zugebilligt. 
Die  Stellen  in  denen  sich  Semper  zur  technisch-materiellen  Auffassung 
in  direkten  Widerspruch  setzt,  sind  übrigens  im  Stil  gar  nicht  so  selten. 
Eine  ganz  fundamentale  dieser  Art,  noch  dazu  wiederholt  vorgebracht, 
werden  wir  weiter  unten  kennen  lernen. 

Einen  näheren  Nachweis  im  Einzelnen,  wie  die  gangbarsten 
Motive  des  geometrischen  Stils  auf  dem  Wege  zufälliger  Faden verflech- 


14  Dpi'  geometrische  Stil. 

tmig-eii  entstanden  sein  mochten,  hat  Semper,  Avie  sclion  erwähnt  wurde, 
nicht  versticht,  und  ebensowenig  seine  zahh-eichen  Nachfolger,  bis  auf 
die  in  jüngster  Zeit  erfolgten  Ausführungen  Kekule"s  mit  denen  Avir 
uns  noch  im  Besonderen  beschäftigen  werden.  Das  Eaisonnement  lautete 
ungefähr  folgendermaassen :  Im  Anfange  Avar  keine  Kunst,  sondern  bloss 
Handwerk  (nicht  in  Avirthschaftlichem,  sondern  in  technischem  Sinne 
gemeint ).  Das  älteste  Handwerk  war  das  textile.  Mit  dem  Zaungeflecht 
und  dem  gCAvebten  GeAA'ande  kamen  die  geradlinigen  planimetrischen 
ZiermotiAe  in  die  Welt,  die  der  Mensch  dann,  angezogen  durch  ihre 
formale  Schönheit,  auf  andere  Stoffe  und  Techniken  übertrug. 

Das  ^laterial,  mit  AA-elchem  man  diese  Theorie  zu  illustriren  pflegt, 
ist  überwiegend  ein  keramisches,  zum  geringeren  Theile  ein  metallur- 
gisches. Thonvasen  und  Vasenseherljen ,  die  man  in  A^orhistorischen 
Schichten  des  Erdbodens  fast  aller  Mittelmeerländer  gefunden  hat, 
tragen  überAA'iegend  Ornamente  des  geometrischen  Stils  zur  Schau. 
Sollen  diese  Ornamente  in  der  That  unmittelbare  Ableitungen  aus  den 
textilen  Verflechtungen  und  Fadenkreuzimgen  sein,  so  müsste  ihre  Ent- 
stehung in  sehr,  sehr  frühe  Zeit  zurückgehen.  Das  Werden  des  Musters 
aus  dem  Flechten  und  Weben  soll  ja  am  Anfange  alles  Kunstschaflcns 
gestanden  sein.  Eeichen  nun  die  keramischen  Funde  aus  den  Mittel- 
meerländcrn  in  der  Tliat  auch  nur  annähernd  in  so  frühe  Zeit  zurück? 

Von  demjenigen  Stil,  der  früher  als  der  geometrische  im  engeren 
Sinne  galt,  A^om  Dipylon,  Avird  jetzt  niemand  mehr  ein  höheres  Alter 
behaupten.  Ol)  seine  Verbreiter  in  Griechenland  —  nehmen  wir  an  die 
einAvandernden  Dorer  —  diesen  Stil  in  uuA^ordenklich  früheren  Zeiten 
aus  der  Textilkunst  erfunden  haben,  mag  einstAveilen  dahingestellt 
bleiben.  ZAveifellos  ist  das  Dipylon  des  ersten  Jahrtausends  v.  Chr. 
kein  primiti\^er,  sondern  ein  Avohl  überlegter,  festgeschlossener,  rafti- 
nirter  Kunststil.  Ein  Volk,  das  die  Metalle  zu  bearbeiten  verstand, 
wird  nicht  erst  die  i»rimitivsten  Ornamente  aus  der  primitiA^sten  Technik 
(•rfunflen  haben. 

Aber  die  Ausgral;)ungen  Schliemann's  und  AndiTcr  haben  uns  l)e- 
lehrt,  dass  das  Dipylon  bei  Aveitem  nicht  der  älleste  geometrische  Stil 
bei  den  Mittelmeervölkern  gcAvesen  ist.  Als  solcher  gelten  gegenAvärtig 
die  gravirten  Linienverzierungeu  auf  Gefässen,  die  in  den  untersten 
Schichten  A'on  Hissarlik  und  in  gcAvissen  Nekropolen  Cypcrns  gefunden 
wurden  sind.  Wie  steht  es  nun  mit  dem  Alter  dieser  GefässeV  (ieniäss 
den  Fundbericliten  ist  auf  d;is  Zeitalter  derselben  alsbald  der  niyke- 
nisclie  Stil  gefolgt.     Dei'  niykenischc  Siil   ist   alx-r  nach  /icnilich  siclu-r- 


Der  g-eometrische  Stil.  25 

gestellter  Annahme  der  neuesten  Forscher  auf  diesem  Gebiete  etAva  in 
die  jüngere  Hälfte  des  zweiten  Jahrtausends  v.  Ch.  zu  setzen.  Wir  gelangen 
also  mit  den  geritzten  geometrischen  Verzierungen  von  Cypern  und 
Hissarlik  gewiss  nicht  Aveit  in  das  dritte  Jahrtausend  v.  Chr.  zurück.  Ist 
dies  ein  Zeitalter,  in  das  wir  am  Mittelmeere  die  erste  Erfindung  des 
Musters  herabrücken  dürfen?  Hat  nicht  schon  mindestens  ein  Jahr- 
tausend früher  im  Nilthale  eine  Kunst  geblüht,  die  Aveit  über  das  geo- 
metrische Stadium  hinaus  gediehen  AA^ar?  Es  ist  eine  ganz  AAÜlkürliche, 
durch  nichts  bewiesene  Annahme,  dass  die  geometrischen  Verzierungen 
auf  den  bisher  getundenen  mittelländischen  Tlionscherben  auf  diese 
letzteren  A^on  den  Erzeugnisson  der  Textilkunst  übertragen  AA^orden 
seien.  Ein  Material,  das  auch  nur  entfernt  an  jene  Zeiten  heranreichen 
AA'ürde,  in  denen  das  erste  Muster  in  die  "Welt  gekommen  ist,  steht  uns 
—  etAA^a  mit  einziger  Ausnahme  der  noch  zu  besprechenden  Höhlenfunde 
aus  der  Dordogne  —  heute  nirgends  zur  Verfügung.  ]\Ian  kann  an  die 
Theorie  von  der  Textiltechnik  als  del'  ältesten  musterbildenden  Technik 
glauben,  aber  das  keramische  Material  aus  den  Mittelmeerländern  darf 
man  nicht  zur  Illustration  und  zum  BcAveise  jener  Theorie  heranziehen. 
Gehen  die  betreffenden  Vasenornamente  in  der  That  auf  technische 
Textilprodukte  zurück,  so  hat  sich  der  bezügliche  Process  gewiss  schon 
Jahrtausende  früher  A'ollzogen,  als  die  hiehergehörigen  Vasen  entstan- 
den sind. 

Freilich  herrscht  ein  grosser  Unterschied  in  der  KulturfiUiigkeit 
der  Völker,  —  ein  Unterschied  der  nur  za  einem  Theile  von  den 
äusseren  Verhältnissen  (klimatischen,  geographischen  u.  dgl.)  unter  denen 
sie  leben,  bedingt  ist.  Aber  auf  der  Insel  Cypern  etwa  um  2000  oder 
selbst  um  3000  \.  Chr.  ein  Volk  zu  suchen,  dass  bis  dahin  kein  Muster 
gesehen  hätte  oder  an  einem  gesehenen  achtlos  vorübergegangen  Aväre 
und  nunmehr  erst  sich  spontan  zur  Erschaffung  von  Flächenmustern 
aufgerafft  hätte,  Avird  man  sich  ebensoAA^enig  entschliessen  können,  als 
man  die  in  den  assyrischen  Trünnnerstätten  oder  in  Jerusalem  ge- 
fundenen Vasen  mit  geometrischen  Ornamenten,  deren  Entstehung  doch 
in  die  Zeit  höchster  orientalischer  Kunstblüthe  fällt,  als  unmittelbare 
Uebertragungen  aus  der  Textilkunst  aufzufassen  vermag.  Noch  weniger 
als  die  geometrisch  verzierten  Vasenscherben  aus  den  Mittelmeerländern 
Avird  man  die  ähnlich  ausgestatteten  Thon-  und  JVIetallfunde  aus  der 
nord-  und  mitteleuropäischen  Bronzezelt  als  Zeugnisse  einer  unmittel- 
baren Uebertragung  der  Linienornamente  von  Textilgegenständen  auf 
anderes  Material  ansehen  dürfen,  da  diese  Funde  gemäss  der  sich  immer 


16 


Der  o-eometrische  Stil. 


mehr   Bahn    brechenden   Erkenntnis^    noch    jünger    sind    und    zu  den 
mittelländischen  vielfach  im  Abhäng-igkeitsverhältniss  stehen. 

Mit  Monumenten  lässt  sich  also  die  Zeit  und  der  Process,  worin 
sich  die  supponirte  Entstehung  des  Musters  aus  einer  Toxtil-Technik 
vollzogen  hat.  nicht  belegen.     Nichts    beweist    uns,    dass    die    aus   den 

Mittelmeerländern  und  Nordeuropa  vor- 
liegenden prähistorischen  Funde  uns  das 
älteste  Kunstschaffen  in  jenen  Gegenden 
repräsentiren ,  und  dass  nicht  ebenda- 
selbst in  noch  früheren  Zeiten  ein  w^esent- 
lieh  anderes  Kunstschaffen  bestanden 
haben  könnte.  Ja  noch  mehr:  es  giebt 
Monumente,  welche  der  Annahme,  dass 
der  geometrische  Stil  in  Europa  der 
älteste   Kunststil    gewesen    wäre,    direkt 

/.;  V      .myx    ,  ^a.^^^      widersprechen. 

.     ■■'-AwA      ''M     1^1  Es  ist  heute  über  ieden  Zweifel  hiu- 

' yß^/r  '  j      aus   erwiesen,    dass   es  menschliche   Ge- 

schlechter gegeben  hat,  die  ein  sehr  be- 
merkcnswerthes  Kunstschaffen  entwickelt 
haben ,  ohne  dass  eine  textile  Technik 
(mit  Ausnahme  des  Zusammennähens 
von  Thierhäuten)  bei  ihnen  bisher  nach- 
gewiesen werden  konnte.  Der  Schutz 
des  Leibes,  den  man  als  ein  so  elemen- 
tares Bedürlhiss ,  als  Bahnbrecher  für 
die  erste  älteste  Technik,  für  die  Textii- 
kunst  zu  betrachten  pflegt,  wairde  den- 
selben augenscheinlich  durch  andere 
Dinge  gewährleistet,  als  dnrcli  den  ge- 
flochtenen Pferch  und  (Uncli  gewebte 
Gewänder.  Dieses  Geschlecht  von  Men- 
schen wolnite  in  Höhlen  und  bekleidete 
sicli  mit  den  Häuten  der  erlegten  Jagd- 
thiere.  Die  Niedrigkeit  der  sittlichen  Kulturstufe  dieser  Völker  kann 
man  daran  erkennen,  dass  sie  das  Mark  aus  (hn  Kimchen  der  erlegten 
Thiere  saugten,  und  das  verschmähte  Fleisch  in  ilin-n  eigenen  Wolm- 
höblen  verfaulen  liessen.  Es  ist  eine  Art  Kannil)alismus,  der  uns  da 
entgegentritt.     Die   Iläutc  wusstcii  diese   Ildlileiilx'wnlnicr  zusaniininzu- 


rig.  1. 

iJolchgriff  in  lleuntbierknochcn  geschnitzt, 
Laugerie-Basse. 


Der  o-eometrische  Stil. 


17 


nähen,  wie  zahlreich  aufg-efmidene  Nadeln  aus  Bein  und  Gräten  be- 
weisen; als  Material  hiezu  dienten  ihnen  die  Sehnen  der  Thierfüsse, 
was  sich  ebenfalls  aus  den,  an  den  Beinkuochen  vielfach  beobachteten 
Einschnitten  zur  Evidenz  ersehen  lässt.  Also  das  Zickzack  als  spontanes 
Produkt  der  Naht  könnte  man  ihnen  allenfalls  lassen,  wenn  sie  nicht 
nachweislich  weit  Grösseres  und  Vollkommeneres  zu  leisten  im  Stande 
gewesen  wären.  Denn  diese  halben  Kannibalen  mit  ihren  roh  zube- 
hauenen,  ungeglätteten  Steinbeilen  übten  eine  wirkliche  und  unan- 
zweifelbare Skulptur. 

Die  Schnitzereien  (Fig.  1)  und  Gravirungen  (Fig.  2)  in  Thierknochen. 
die  man  auf  mehreren  Punkten  von  Westeuropa,  insbesondere  in  den 
Höhlen  Aquitaniens  gefunden   hat,    und  deren  Echtheit  angesichts  der 


Fig.  2. 
Gravirter  Reiinthierknochen.     La  iladeleine. 


Überaus  genauen  und  gewissenhaften  Grabungen  und  i'undberichte 
namentlich  Lartet's  und  de  Christy's  zum  grössten  Theile  ausser  allem 
Zweifel  steht,  sind  schon  eine  Reihe  von  Decennien  bekannt  und  ver- 
öffentlicht^j.  Bisher  hat  aber  bloss  die  Anthropologie  davon  gebührende 
Notiz  genommen ;  die  Kunstgeschichte  hat  sie  fast  vollständig  ignoriren  zu 
dürfen  geglaubt.  Ich  gebe  nun  vollständig  Georges  Perrot  Recht,  wenn 
er  in  der  Einleitung  zu  seiner  Histoire  de  l'art  dans  l'antiquite  die 
bezüglichen  Kunsterzeugnisse  als  ausserhalb  des  Rahmens  seiner  ge- 
schichtlichen Darstellung  stehend  erklärt  und  sich  damit  für  berechtigt 
hält,  dieselben  ausser  Erörterung  zu  lassen.  In  der  That  haben  die 
aquitanischen   Höhlenfunde  mit   der  Entwicklung  der   antiken  Künste, 


■*)  Vg'l.  hiefür  namentlich  die  Reliquiae  Aquitanicae,  ferner  den 
Dictionnaire  archeologique  de  la  Gaule,  (aus  welchem  unsere  Figg.2, 
3  und  6  entlehnt  sind),  und  die  knapp  zusammenfassende  Bearbeitung  von 
dem  besonnenen  Alex.  Bertrand:  La  Gaule  avant  les  Gaulois ,  woraus 
unsere  Fig.  1. 

Riegl,  Stilfrageu.  2 


Ig  Der  geometrische  Stil. 

soweit  Avir  sie  geg'enwärtig  überblicken,  nichts  Aiigenfälliji'es  gemein. 
Man  nehme  irgend  einen  von  den  ältesten  geometrisch  verzierten  Thon- 
scherben  und  wird  daran  mehr  historische  Beziehungspunkte  zur  späteren 
hellenischen  Kunst  entdecken,  als  an  den  besten  geschnitzten  Handgriffen 
und  gravirten  Thiertiguren  aus  der  Dordogne.  In  letzterem  Falle  handelt 
es  sich  also  anscheinend  um  eine  isolirte  Entwicklung,  isolirt  wenigstens 
in  Bezug  auf  die  späteren  mittelländischen  Künste.  Was  dagegen  den 
Gegenstand  der  Kunstgeschichte  des  Alterthums  ausmacht,  das  sind 
Erscheinungen,  die  entweder  schon  ursprünglich  unter  einander  in 
"Wechselbeziehungen  gestanden  sind,  oder  doch  im  Laufe  der  Entwick- 
lung in  einander  Üiessen:  Orient  und  Occident  tauschen  sich  fortwährend 
einander  aus,  und  alles  drängt  unaufhaltsam  zum  Endziele  der  Ge- 
sammtentwicklung  der  antiken  Künste,  zur  Schaffung  der  hellenistisch- 
römischen Weltkunst.  Mit  dieser  letzteren  haben  die  Troglodyten 
Aquitaniens,  soviel  wir  zu  sehen  vermögen,  niemals,  weder  niittell)ar 
noch  unmittelbar,  zu  thun  gehabt. 

Lassen  sich  also  genügend  triftige  Gründe  finden,  welche  die  von 
der  Kunstgeschichte  des  Alterthums  den  Ilöhlenfunden  der  Dordogne 
Vüsher  bezeugte  Gleichgiltigkeit  zu  rechtfertigen  geeignet  sein  könnten, 
so  ist  dies  keinesAvegs  der  Fall  mit  der  Geschichte  der  technischen 
Künste,  der  ja  so  viel  und  wesentliches  an  der  Aufhellung  der  (an- 
geblich rein  technischen)  Anfänge  der  Künste  gelegen  sein  sollte.  Da 
haben  wir  Ja  nun  eine  Kunst,  die  in  völlig  unmessbare  Kulturperioden 
der  Menschheit  hinaufreicht^).  Von  keinem  der  europäischen  und  west- 
asiatischen Völker,  bei  denen  man  den  geometrischen  Vasenstil  gefunden 
hat,  existirt  ein  genügender  Grund  zu  der  Annahme,  dass  dieselben 
noch  auf  so  barbarischer  Kulturstufe  gestanden  wären  wie  die  Troglo- 
dyten Aquitaniens.  Es  hiesse  nun  gewiss  den  Forschern  bitteres  Un- 
recht thun,  die  mit  so  viel  uneigennützigem  Eifer  und  peinlicher  wissen- 
schaftlicher Sorgfalt  dem  Studium  dieser  Fragen  obliegen,  wenn  man 
die  Vermuthung  äussern  wollte,  dass  bloss  die  augenfällige  Schwierig- 
keit  jene    figuralen    Schnitzereien    uiul    Gravirungcn    mit    der    'I'licorie 

■)  (Jb  zur  Zeit  der  Entstellung  der  bezüglichen  Kunsterzeugnisse  noch 
das  Manimuth  in  Frankreich  hauste,  oder  nur  das  einer  späteren  Zeit  angehö- 
rige  Rcnntliier.  ist  in  diesem  Fnlie  ziemlich  irrelevant.  Dass  diese  paläolithische 
„Steinzeit"  weit  hinter  .jene  Zeit  zurückgeht,  aus  welcher  die  von  der  klassi- 
schen Archäologie  beliandelten  vorgriechischen  Funde  geomctrisclien  Stils  und 
vollends  diejenigen  der  Bronzezeit  stnnniicn.  wird  von  Niemandem  hcstritfcn 
und  ist  geologisch  festgestellt. 


Der  geometrisclie  Stil.  ig 

von  der  technisch -materiellen  Entstehung  der  Künste  in  Einklang-  zu 
bringen,  das  beobachtete  hartnäckige  Stillschweigen  über  diesen  Gegen- 
stand verschuldet  hätte.  Man  betrachtete  vielmehr  diese  Dinge  offenbar 
als  eine  isolirte  bizarre  Erscheinung,  mit  welcher  man  vorläufig  nichts 
anzufangen  wusste,  und  für  die  sich  vielleicht  mit  der  Zeit  und  mit 
fortschreitenden  Ausgrabungen  eine  befriedigende  Formel  finden  lassen 
würde.  Wir,  denen  Bedenken  an  der  Allgemeingiltigkeit  der  Theorie 
von  der  technisch-materiellen  Entstehung  der  Künste  von  anderer  Seite 
her  gekommen  sind,  haben  alle  Ursache,  uns  mit  den  bezüglichen 
frühesten  aller  bisher  aufgefundenen  menschlichen  Kunsterzeugnisse 
näher  vertraut  zu  machen.  Wenn  selbst  ein  so  umsichtiger  und  das 
Gebiet  ornamentaler  Erscheinungen  allseitig  überblickender  Forscher 
wie  Sophus  Müller  sagen  konnte:  „eine  Erklärung  der  paläolithischen 
Kunst  wird  sich  wegen  des  spärlichen  Materials  nie  über  unsichere 
Hypothesen  erheben  können"^),  so  haben  Avir  darauf  die  Erwiderung, 
dass  uns  da  Avenigstens  ein  Material  überhaupt  vorliegt,  und  wäre  es 
ein  noch  spärlicheres  als  es  in  der  That  ist,  'wogegen  die  beliebten 
technischen  Ableitungen  der  Urmotive  vollständig  in  der  Luft  hängen, 
da  doch  das  Material,  auf  welches  sie  sich  zu  stützen  vermöchten, 
nicht  entfernt  in  jene  Zeit  zurückreicht,  in  welcher  sich  die  Entstehung 
der  „Urmotive"  vollzogen  haben  muss.  W^eleher  Art  sind  nun  die  von 
den  halbkannibalischen  Troglodyten  Aquitaniens  hinterlassenen  Kunst- 
erzeugnisse gewesen? 

Den  besten  und  bequemsten  Überblick  über  dieselben  gewinnt 
man  dennalen  im  ]Musee  des  antiquites  nationales  im  alten  Schlosse  von 
Saint  Germain  en  Laye,  wo  sie  sich,  sei  es  in  Originalien,  sei  es  in  Ab- 
güssen, fast  vollständig  zusammengestellt  finden.  Material  ist  fast  aus- 
schliesslich der  Thierknochen,  und  zwar  überwiegend  Rennthierknocheii, 
die  Technik  Schnitzerei  oder  Gravirung.  Da  ist  es  nun  überaus  lehr- 
reich zu  beobachten,  in  welchem  Verhältnisse  die  beiden  Techniken, 
Schnitzerei  und  Gravirung,  an  diesen  ältesten  aller  bisher  gefundenen 
Kunstdenkmäler  der  Menschheit  zu  einander  stehen.  Sehr  häufig  be- 
gegnet uns  das  volle  Rundwerk,  z.  B.  ein  Rennthier  als  Griff  einer 
Waffe,  etwa  eines  Dolches  (Fig.  1)').    Das  gleiche  Motiv  kehrt  sogar  öfter 


'^)    Thierornamentik  im  Norden  177. 

')  Die  g-rösste  Beaclitung-  verdient  hiebei  die  wohlüberlegte  und  doch 
nicht  gegen  die  Natürlichkeit  verstossende  Art,  in  welcher  die  Extremitäten 
des  Thieres  an  den  Rumpf  angelegt  erscheinen;  das  Stück  ist  übrigens  nach 
Lartet  in  unvollendetem  Zustande  geblieben. 

2* 


20  Der  geometrische  Stil. 

wieder.  Dann  haben  wir  eine  ganze  Stufenleiter  von  Entwicklungs- 
phasen, in  denen  sich  der  plastische  Charakter  allmälig  verflüchtigt: 
zunächst  ein  flach  gehaltenes  RundAverk,  dann  ein  mehr  oder  minder 
hohes  Relief,  ein  Flachrelief,  und  endlich  die  blosse  Gravirung  (Fig.  2), 
die  häufig  mit  dem  Flachrelief  zusanmien  entgegentritt,  indem  eines 
in  das  andere  übergeht. 

Es  entspricht  dies  völlig  dem  natürlichen  Processe,  den  wir  uns 
schon  am  Eingange  dieses  Capitels  in  rein  spekulativer  Weise  konstruirt 
haben.  Die  unmittelbare  Reproduction  der  Naturwesen  in  ihrer  vollen 
körperlichen  Erscheinung,  im  "Wege  des  durch  einen  weiter  unten  zu  be- 
zeichnenden psychischen  Vorgang  zur  Bethätigung  angespornten  Nach- 
ahmungstriebes, steht  hiernach  am  Anfange  alles  Kunstschaff'ens:  die 
ältesten  Kunstwerke  sind  plastischer  Natur.  Da  man  die  Naturwesen 
immer  nur  von  einer  Seite  sieht,  lernt  man  sich  mit  dem  Relief  be- 
gnügen, das  eben  nur  so  viel  vom  plastischen  Scheine  wiedergiebt,  als 
das  menschliche  Auge  liraucht.  So  geAvöhnt  man  sich  an  die  Darstel- 
lung in  einer  Fläche  und  gelangt  zum  Begriffe  der  Umrisslinie.  Endlich 
verzichtet  man  auf  den  plastischen  Schein  vollständig,  und  ersetzt  den- 
selben durch  die  Modellirung  mittels  der  Zeichnung. 

Das  wichtigste  Moment  in  diesem  ganzen  Processe  ist  zweifellos 
das  Aufkommen  der  Umrisslinie,  mittels  welclier  man  das  Bild  eines 
Naturwesens  auf  eine  gegebene  Fläche  bannte.  Iliemit  war  die  Linie 
als  Element  aller  Zeichnung,  aller  Malerei,  überhaupt  aller  in  der 
Fläche  bildenden  Kunst  erfunden.  Diesen  Schritt  hatten  die  Troglodyten 
Aquitaniens  bereits  weit  hinter  sich,  trotzdem  ilnien  die  Fadenkreu- 
zungen der  Textilkunst  wegen  Mangels  eines  Bedürfnisses  nach  den 
Plr^eugmissen  derselben  noch  völlig  fremd  gewesen  sein  müssen.  Das 
technische  Moment  spielt  gewiss  auch  innerhalb  des  geschilderten  Pro- 
cesses  eine  Rolle,  aber  beiweitem  nicht  jene  führende  Rolle,  Avie  sie  ilnn 
die  Anhänger  der  technisch -materiellen  Entstehungstheorie  vindit-iren 
möchten.  Der  Anstoss  ging  vielmehr  nicht  von  der  Technik,  sondern 
von  dem  l)estiiiimt('n  Kunstwolh'ii  aus.  INFaii  wollte  das  Abliihl  eines 
Naturwesens  in  todlem  Matei'ial  schaffen,  und  erfand  sich  hierzu  die 
nöthige  Technik.  Zum  Zwecke  des  handsameren  Greifens  Avar  die 
Rundfignr  eines  Rcnnthiers  als  Dch-hgrilf  gewiss  nicht  notlnvendig. 
Ein  immanenter  künstlerischer  Tri<li,  der  im  Menschen  rc^c  und  ii.icli 
Durchbruch  ringend  vorhanden  war  yny  ;dlei- lOrtindung  texliler  Scliutz- 
wehren  für  den  Körper,  musst«-  ihn  ilazu  gcriihil  haben  den  beinernen 
Griff  in   l'Virm  eines  Rennthien-s  zn   biklcn. 


Der  geometrische  Stil.  21 

Bevor  Avir  aber  das  Wesen  dieses  Triebes  nälier  zu  bezeiclinen 
suclien,  empfiehlt  es  sich,  bei  dem  geschilderten  Entwicklungsgang  der 
Flachverzierung  aus  dem  Plastischen  noch  einen  Augenblick  zu  ver- 
weilen, um  darzuthun,  dass  damit  eigentlich  gar  nichts  so  Unerhörtes 
vorgebracht  wurde. 

Eine  Bestätigung  für  das  Gesagte  bietet  nämlich  einmal  auch  das 
Studium  der  altegyptischen  Kunst,  d.  i.  jener  Kunst,  die  weiter  als 
irgend  eine  andere  unter  den  antiken  Künsten  in  die  verflossenen  Jahr- 
tausende der  Menschheit  hinaufreicht.  In  bemaltem  Relief  en  creux  sind 
die  Bildwerke  in  den  Gräbern  des  alten  Reiches  ausgeführt;  erst  in  der 
Kunst  des  mittleren  Reiches,  in  den  Felsengräbern  von  Beni  Hassan  be- 
gegnen wir  reinen  figürlichen  Flachmalereien,  wenngleich  der  Übergang 
zu  den  letzteren  schon  im  alten  Reiche  sich  vorbereitet  hat.  Aber  auch 
die  Betrachtung  der  Kunstgeschichte  im  Allgemeinen  lässt  sich  zur  Be- 
stätigung heranziehen:  Seit  den  Tagen  des  Phidias  ist  die  Skulptur 
niemals  mehr  zur  gleichen  Blüthe  gediehen,  weil  schon  seit  hellenistischer 
Zeit  immer  ein  mehr  oder  minder  starkes  malerisches  Element  in  der 
Skulptur  sich  geltend  gemacht  hat,  und  zwar  entsprechend  dem  allge- 
meinen Zuge  der  Zeit  und  ihrer  Kunst  mit  eiserner  Naturnothwendig- 
keit  sich  geltend  machen  musste.  Dass  es  auf  diesem  Wege  keine  Umkehr 
giebt,  dass  Alles'  auf  die  Vervollkonnnnung  der  darstellungsfähigeren 
Malerei  hindrängt,  lehrt  zur  Genüge  die  moderne  Kunstentwicklung. 

Die  Techniken,  welche  an  den  Erzeugnissen  der  Troglodyten  Aqui- 
taniens  zu  beobachten  sind,  gehören  nicht  specifisch  dem  sogen.  Kunst- 
handwerk, sondern  vielmehr  der  sogen,  höheren  Kunst  (Figuralskuli)tur) 
an,  wodurch  freilich  das  Sinnlose  und  Ungerechtfertigte,  das  in  dieser 
Scheidung  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  ans  liegt,  erst  recht 
augenfällig  wird.  Das  Gleiche  bestätigt  uns  die  Betrachtung  des  Inhalts. 
Wie  schon  erwähnt,  handelt  es  sich  hiebei  vorwiegend  um  Reproduc- 
tionen  von  Naturwesen,  nicht  um  bedeutungsarme  „bloss  ornamentale" 
Flächenfüllungen.  Die  Thiere,  die  dem  Menschen  zur  Nahrung  dienten, 
oder  mit  denen  er  im  Kampfe  lebte,  hat  er  auf  seinen  Geräthen  bildlich 
dargestellt:  Rennthier,  Pferd,  Bison,  Steinbock,  Rind,  Bär,  Fisch.  Auch 
ihn  selbst,  den  Menschen,  finden  wir,  sowohl  gravirt  als  in  Rundwerk, 
aber  weit  unbeholfener  als  die  Thierbilder  wiedergegeben:  eine  Erschei- 
nung die  wir  in  primitiven' Künsten  allenthalben  Avahrnehmen  können. 

Wenn  man  also  bisher  gewöhnlich  die  rein  zwecklichen  Techniken 
der  Textilkunst  an  den  Beginn  des  menschlichen  Kunstschaffens  gestellt 
hat,  so  widersprechen  dem  die  Höhlenfunde  der  Dordogne  in  der  aller- 


22  Der  geometrische  Stil. 

■bestimintes.ten  Weise.  Wir  tretfen  hier  gerade  diejenig'en  Techniken, 
bei  denen  der  Gegenstand  der  Darstellung-,  der  künstlerische  Inhalt  von 
vornherein  gegeben  sein  mnss,  bevor  derselbe  aus  dem  todten  ^Material 
herausgearbeitet  werden  kann.  Der  Zweck  aber,  um  dcssent willen 
dem  Material  die  beschriebenen  thierischen  Formen,  sei  es  in  plastischer 
sei  es  in  flacher  Ausführung,  gegeben  wtirden,  kann  unmöglich  ein 
anderer  als  ein  rein  künstlerischer,  ornamentaler  gewesen  sein.  Man 
wollte  das  Geräthe  schmücken.  Das  Schmuckbedürfniss  ist  eben 
eines  der  elementarsten  Bedürfnisse  des  Menschen,  elementarer  als  das- 
jenige nach  Schutz  des  Leibes.  Es  ist  dies  ein  Satz,  der  hier  nicht 
zum  ersten  ^lale  vorgebracht  Avird  und  zu  dem  sich  auch  Semper 
wiederholt  ausdrücklich  bekannt  hat^).  Um  so  unbegreiflicher  muss  es 
erscheinen,  dass  man  trotzdem  die  Anfange  des  Kunstschaffens  erst 
nach  den  Erfindungen  der  Techniken,  die  den  Schutz  des  Leibes  zum 
Zwecke  haben,  setzen  wollte.  Sehen  wir  doch  heute  noch  manche 
polynesische  Stämme  jedAvede  Kleidung  verschmähen,  aber  die  Haut 
von  der  Stirne  bis  zu  den  Zehen  tätoAviren,  d.  i.  mit  linearen  Ver- 
zit-rungen  schmücken'-^).  Leider  feldeii  uns  die  Mittel  um  zu  entscheiden, 
ob  die  Troglodyten  Aquitaniens  ihre  Haut  gleichfalls  tätoAAärt  haben; 
auf  den  erAväliuten  Xachbildungen  von  menschlichen  Figuren  von  ihrer 
Hand  lässt  es  sich  nicht  nachAA'eisen.  Dass  sie  aber  Schmuckgehänge 
trugen,  ist  durcli  Funde  sichergestellt.  Denn  zu  Avelch'  anderem  ZAvecke 
als  zu  demjenigen,  etAA^a  auf  eine  Sehne  oder  einen  Baststreifen  aufge- 
reiht um  den  Hals  getragen  zu  Averden,  konnten  die  durchlöcherten 
Rinder-  und  Bärenzähne,    zum   Tlieil   gleichfalls  mit  graAii-teii    Tliier- 

*)  An  jener  obcitirten  Stelle  Stil  I.  21o:  „Die  Kunst  des  liekleidens  der 
Nacktheit  des  Leibes  (Avenu  man  die  Bemalung-  der  eig-enen  Haut  nicht 
dazu  rechnet)  ist  A'ennuthlich  eine  jüngere  Erfindung  als  die  Beniitzung 
deckender  Oberflächen  zu  Lagern  und  zu  räumlichen  Abschlüssen."  —  IL  466 
.  .  .  „der  Schmuck  des  eigenen  Leibes  aus  kulturphilosophischen  Gründen  den 
Schönheitssinn  zuerst  zu  aktiver  Bethätigung  auffordert. " 

•')  Einen  Widerspruch  mit  Semper's  eben  erörterter  Annahme  begründet 
es,  Avenn  er  I.  92  sagt:  „Die  Ornamente  auf  der  Haut  dieser  Völker  sind  ge- 
bildet aus  gemalten  oder  tätOAvirten  Fäden"  .  ..  Diesen  Widerspruch  mildert 
er  dadurch,  dass  er  das  TätoAviren  möglicherAveise  nicht  für  die  Eigenthüm- 
Jichkeit  eines  primitiA'Cn,  sondern  bereits  eines  sekundären  Kulturzustandes 
erklärt,  welche  Annahme  liinAviederum  nur  zulässig  erscheint  miter  der  bei 
Semper  öfter  Aviederkehrcnden  Idee  A^on  einem  ursprünglichen  \'olikommen- 
lieitszustand  des  Menschengeschlechts.  Wie  verträgt  sich  aber  diese  letztere 
Idee  Aviederum  nnt  der  Descendcnzthcorie  und  der  ihr  ])arallel  gehenden 
teclinisch-matericllcn  Entstehxuigstheorle  der  Künste? 


Der  g-eometrische  Stil. 


23 


bildern  bedeckt,  gedient  luibeu,  deren  man  eine  ganze 
Anzahl  in  den  Höhlen  gefunden  hat?  Hier  begegnen 
wir  bereits  der  Reihung  als  elementarem  Kunstgesetz, 
uiid  nicht  erst  bei  den  regelmässigen  Fadenkreuzungen 
der  Textilkunst,  die  der  Höhlenmensch  noch  nicht  ge- 
braucht hat,  weil  ihm  das  Bedürfniss  darnach  augen- 
scheinlich noch  mangelte.  Und  das  Gleiche  gilt  von 
der  Symmetrie.  Es  ist  schon  Lartet  und  Bertrand  auf- 
gefallen, dass  auf  einem  Geräthe,  das  ersterer  für  einen 
Marklöffel  hält,  sich  symmetrisch  vertheilte  Relieforna- 
mente finden"').  Aber  wir  begegnen  an  den  Erzeug- 
nissen des  aquitanischen  Höhlenmenschen  auch  solchen 
Verzierungen,  die  reiner  Rhythmus  und  abstrakte  Sym- 
metrie sind,  d.  h.  den  linearen  Verzierungen  des  geo- 
metrischen Stils. 

Wir  gewahren  auf  gravirten  Rennthierknochen  die 
Zickzacklinien  (Fig.  3)"),  das  sogen,  Fischgrätenmuster, 
dieses  letztere  mit  der  rhythmisch  bereicherten  Variante, 
dass  beiderseits  Lagen  von  je  drei  Stricheln  miteinander 
alterniren,  netzartig  gekreuzte  Linien  (das  scheinbar 
textilste  aller  Muster),  gereihte  liegende  Kreuze  u.  a.  m. 
Da  haben  wir  es  offenbar  nicht  mit  Abschreibungen  aus 
der  Natur  zu  thun:  es  sind  rein  omamentale  Gebilde, 
bestimmt  eine  gegebene  Fläche  zu  verzieren.  Die  Be- 
stimmung war  dictirt  von  dem  gleichen  Schmuckbedürf- 
niss  oder  horror  vacui,  AAie  die  Thierbilder.  Zu  beachten 
bleibt  aber  hiebei,  dass  diese  geometrischen  „Muster" 
den  Thierbildern  an  Zahl  beträchtlich  nachstehen.  Wer 
diese  Bevorzugung  des  Thierbildes  nicht  für  zufällig 
halten  will,  dem  muss  sich  schon  daraus  eine  Priorität 
der  Entstehung  desselben  gegenüber  den  geometrischen 
„Mustern"  und  die  überwiegend  plastische  Tendenz  des 


Fig.  3. 

Marklöft'el  aus 

Rennthierkuoclien , 

mit  gravirten 

Verzierungen. 

Laugerie  Basse. 


^°)  La  Gaule  avant  les  Gaulois  G6:  .  .  .  „porte  des  onienients  en  relief 
disposes  symmetriquement  et  d'un  tres  hon  g'oüt". 

'')  Die  bisherig-en  Publikationen  haben  den  geometrischen  Verzierungen 
dieser  Höhlenfunde  beg'reiflichermaassen  weit  weniger  Beachtung*  g'eschenkt, 
als  den  verblüffenden  plastischen  Gebilden.  Unsere  Fig.  3  giebt  das  verhält- 
nissmässig-  beste  unter  den  im  Diction.  arch.  de  la  Gaule  publicirten  Stücken 
wieder:  unter  den  Funden  selbst  befinden  sich  aber  weit  besser  und  strenger 
gezeichnete  Muster,  als  das  vorliegende  flüchtis'e  Zickzack. 


24  Dei'  geometrische  Stil. 

primitiven  menschlichen  Kunstschatt'enstriebes  ergeben.  Wie  kam  man 
nun  auf  die  Eründung  dieser  „Muster"'?  Die  Halm-  und  Fadenkreu- 
zungen derTextilkunst,  die  angeblich  hätten  ein  Vorbild  abgeben  können, 
■waren  den  Leuten  augenscheinlich  noch  unbekannt.  Es  ist  aber  jL::ar 
nicht  einzusehen,  warum  man  derselben  zu  dem  Zwecke  überhaupt 
bedurft  hätte.  Wie  die  Troglodyten  zur  Erfindung  der  Linie  als  des 
Elementes  aller  Flächenzeichnung  und  Flächen  Verzierung  von  der 
Plastik  her  gelangt  sein  mochten,  haben  Avir  ja  oben  gesehen.  Es  ist 
dies  offenbar  im  natüi'lichen  Verlaufe  eines  überwiegend  künstlerischen 
Processes  geschehen.  Das  Element  der  Linie  also  kannten  die  Höhlen- 
menschen bereits;  es  bedurfte  nur  der  Zusammenstellung  derselben 
nach  den  Regeln  des  Rhythmus  und  der  Symmetrie  die  beide,  wie  wir 
gleichfalls  gesehen  haben,  den  Troglodyten  nicht  minder  bekannt  und 
vertraut  Avaren.  Wer  Bärenzähne  zum  Schmucke  neben  einander  reiht, 
Avird  dasselbe  mit  graA'irten  Linien  zu  Stande  bringen.  Der  geometrische 
Stil  bei  den  Troglodyten  Aquitaniens  erscheint  hienach  nicht  als 
materielles  Produkt  einer  handwerklichen  Technik,  sondern  als  reine 
Frucht  eines  elementaren  künstlerischen  Schmückungstriebes. 

Die  gesammte  Kunstgeschichte  stellt  sich  ja  dar  als  ein  fortge- 
setztes Ringen  mit  der  Materie;  nicht  das  Werkzeug,  die  Technik  ist 
dabei  das  Prius,  sondern  der  kunstscli äffende  Gedanke,  der  sein  Ge- 
staltungsgebiet erAveitern,  seine  Bildungstahigkeit  steigern  Avill.  Warum 
soll  dieses  Verhältniss,  das  die  gesammte  Kunstgeschichte  durchzieht, 
nicht  auch  für  ihre  Anfange  gelten? 

Was  wir  also  über  das  Kunstschaffen  der  ältesten,  in  iliren  Kultur- 
überresten uns  bekannt  gcAvordenen,  anscheinend  noch  auf  halbkanni- 
balisclier  EntAvicklungsstufe  gestandenen  Vcilker  Avissen,  das  ZAvingt  uns 
nicht  bloss  in  keiner  Weise,  eine  techniscli-matericllc  Entstehung  der 
Künste  und  insbesondere  der  Zierfornu-n  des  geometrischen  Stils  an- 
zunehmen, sondern  es  Aviderstreitet  sogar  direkt  einer  solchen  Annahme. 
Angesichts  dieses  Resultates  dürfen  AAär  es  AVohl  unterlassen,  uns 
im  Wege  spekulativ<'r  I^rA\;iguiig  den  Process  veransch.nilichcn  zu 
tracliten,  wie  denn  etAva  doch  das  eine  oder  antlere  geonu-trisclie  .Motiv 
mittels  einer  Textilteehnik  si)ontan  hervorgelu-aclit  und  zur  l'bertragung 
auf  anderes  Material  mittels  einer  anderen  Technik  l)ercitgestellt  Avurden 
sein  konnte.  Dass  zur  Erklärung  der  Entstehung  aller  geometrischen 
Ornamente  die  textilen  Techniken  allein  nicht  ;nisr('ichen,  Avurde  schon 
mehrfach  eingesehen,  und  man  hat  zu  diiu  ]',(  hufc  aucli  ;indere  Tech- 
niken, insljcsondcre  die  ciinT  \ ci-liiilinissmässig  vorgeschrittenen   Knltui-- 


Der  geometrische  Stil.  25 

stufe  augeliörigen  Metalltechniken  herangezogen.  Auf  einzelne  Ver- 
suche dieser  Art  zurückzukommen  wird  sich  in  den  folgenden  Capiteln 
wiederholt  Gelegenheit  bieten.  An  dieser  Stelle,  wo  auf  die  aller- 
dings Aveitaus  im  Vordei'grunde  der  ganzen  Controverse  stehenden  tex- 
tilen  Techniken  allein  Bezug  genommen  Avurde,  obliegt  es  uns  noch, 
uns  mit  dem  einzigen  Versuche  zu  beschäftigen,  der  bisher  gemacht 
worden  ist,  um  die  Übertragung  der  geometrischen  Ziermotive  von  den 
Textiltechniken  auf  ein  anderes,  und  zwar  auf  das  keramische  Gebiet, 
in  greifbarerer,  über  bloss  allgemeine  4T-^fstellungen  hinaus  gehender 
Weise  zu  erklären. 

Kekule  hat  in  der  Juli-Sitzung  der  Berliner  Archäologischen  Ge- 
sellschaft vom  J.  1890  eine  vorläufige  Mittheilung  ül)er  den  „Ursprung 
von  Form  und  Ornament  der  ältesten  griechischen  und  vorgriechischen 
Vasen"  gemacht,  welcher  eine  ausführlichere  Darlegung  folgen  sollte. 
Bis  jetzt  ist  es  bei  dem  im  archäologischen  Anzeiger  von  1890  S.  106  f. 
abgedruckten  Sitzungsberichte  geblieben,  und  da  im  engen  Rahmen 
eines  solchen  leider  nur  für  allgemeinere  Bemerkungen  Platz  war,  muss 
auch  ich  mich  im  Folgenden  auf  Gegenbemerkungen  allgemeinerer 
Natur  beschränken. 

Kekule  ging  aus  von  der  Beobachtung  der  Ethnologen,  wonach  die 
Korbflechterei  der  Töpferei  Aveit  vorausgegangen  Aväre.  Da  er  nun  fand, 
dass  „innerhalb  des  sogen,  mykenischen  Stils,  bei  den  sogen.  Dipjion- 
und  den  kyprischen  Vasen  u.  dgl.,  bei  den  altrhodischen,  melischen  Thon- 
gefässen  u.  s.  w.  korbartige  Formen  und  korbgeflechtähnliche  Orna- 
mente, oft  auch  beide  zugleich  sich  erkennen  lassen",  so  schloss  er 
daraus,  dass  „die  ersten  bestimmenden  Vorbilder  für  die  Vasen  leib- 
haftige Körbe,  für  ihre  Ornamentik  Korbflechtmotive"  Avaren.  Fast 
noch  mehr  Gewicht  als  auf  die  Abstammung  der  geometrischen  Orna- 
mentmotive  von  den  Korbflechtmotiven  scheint  Kekule  auf  die  Formen 
der  Vasen  zu  legen,  die  er  unmittelbar  von  Körben  entlehnt  sein  lässt. 
Das  geflochtene  Material,  auf  das  er  seine  diesbezüglichen  Beobachtungen 
stützt,  ist  naturgemäss  fast  durchweg  neuerer  Entstehung,  aber  sehr 
umfassend  und  reichhaltig. 

Was  zunächst  die  zur.  Voraussetzung  gegebene  Beobachtung  der 
Ethnologen  betrifft,  so  mag  dieselbe  vielleicht  richtig  sein;  ausgemacht 
ist  sie  sicher  nicht.  Ich  für  meinen  Theil  mache  mich  sofort  anheischig, 
in  Nachahmung  der  hohlen  Hand  oder  einer  ausgehöhlten  Kürbishälfte 
aus  angefeuchtetem  Thon  eine  Trinkschale  aus  freier  Hand  schlecht 
und  recht  zu  formen,    Avogegen  ich  in  Verlegenheit  käme,    Avenn  man 


26  Der  geometrische  Stil. 

mir  zumuthete  einen  Korb  zu  flechten.  Auch  dürfen  die  Körbe,  die  da 
zum  Beweise  herangezogen  Averden,  nicht  so  ohne  weiteres  als  „Urkörbe", 
als  Erzeugnisse  einer  primitiven  Korbflechterei  angesehen  werden.  Es 
giebt  eine  KiTurü^t-Korl^flechterei  ebenso  wie  eine  Kunstkeramik:  dieser 
Kunst -Korbflücliterei  mit  ihren  schrägen  und  complicirten,  durchaus 
nicht  rein  durch  die  Technik  bedingten  Verflechtungen  gehören  Avohl 
auch  die  von  Kekule  angeführten  exotischen  Korbflechtereien  an,  deren 
Schönheit  iind  Stilgefühl  er  gewiss  mit  Recht  rühmt.  Aber  nehmen 
wir  in  der  That  an,  dass  die  Menschen  früher  Körbe  geflochten  als 
Thongefasse  geformt  hätten.  Hatte  man  sich  bei  der  Bereitung  dieser 
letzteren  in  der  That  bloss  an  Körbe  als  Vorbild  zu  halten,  oder  lagen 
nicht  andere  Vorbilder  zu  dem  Zwecke  nälier?  Thongefasse  dienten 
zum  Unterschiede  von  den  Körben  namentlich  zur  Fassung  und  Autbe- 
wahrung flüssiger  Stofte.  Die  Vorbilder  hiefür  in  der  Xatur  und  aller 
"Wahrscheinlichkeit  nach  die  Vorläufer  in  dieser  Funktion  waren  die 
hohle  Hand  und  Fruchtschalen,  Avodurch  man  von  vornherein  auf  rund- 
liche Formen  hingewiesen  Avar,  ohne  dass  es  hiefür  der  Analogien  der 
Körbe  bedurft  hätte.  Schon  die  Handsamkcit  erforderte  beim  Thon- 
gefäss  die  Eundung,  all  dies  natürlich  vor  der  Erfindung  der  Dreh- 
scheibe, die  vollends  aus  der  Rundung  ein  „technisches"  Postulat  ge- 
macht hat.  Bei  Körben  waren  sogar  viereckige  Formen  viel  natürlicher 
als  beim  Tliongefäss.  Hier  ist  der  Punkt,  wo  ich  es  bedauere,  dass  der 
mir  vorliegende  Sitzungsbericht  Kekule's  Gedanken  nur  so  auszugs- 
Aveise  Aviedergiebt.  "Wenn  da  gesagt  Avird:  „im  JMaterial  des  Tliones  sind 
gerade  so  gut  andere  zweckentsprechende  Gefässformen  denkbar,  als 
die,  Avelche  gcAvälilt  und  ausgebildet  Avorden  sind,  und  die  ästhetischen 
Ausdeutungen,  Avelclie  man  Acrsucht  hat,  reichen  zur  Erklärung  nicht 
aus",  so  kann  ich  dem  gegenüber  aucli  nur  im  Allgemeinen  bemerken, 
da.ss  gerade  die  bezügliclie  Partie  aus  Semi)er"s  Stil,  auf  Avelche  im 
Obigen  offenbar  angespielt  ist,  mir  immer  nocli  als  eines  der  überzeu- 
gendsten Capitel  seines  Werkes  gilt,  namentlich  um  des  Umstandes 
Avillen,  dass  A'on  Semper  hiebei  keineswegs  bloss  „ästhetische  Ausdeu- 
tungen" versucht,  sondern  auch  das  statische  Erfahrungsnioment  in 
reclit  sinnfälliger  und  überzeugender  Weise  berücksichtigt  Avorden  ist. 
ZAveifellos  hat  Kekul6  bei  der  Enunciation  des  obigen  Satzes  ganz  be- 
stimmte Beobachtungen  im  Auge  gehabt,  \'on  denen  es  höchst  er- 
Avünscht  Aväre,  dass  er  sie  in  vollständigerem  Maasse  zur  allgemeinen 
Kenntniss  brächte.  Denn  die  ZAvei  einzig<-ii  Beweispunktc  dii'  er  daselbj^t 
A'orbringt,  sinfl  un>eli\\ii-  zu  eutkräfteu.    Es  heisst  nämlieh  Aveiter:  „Beim 


Der  g-eometrische  Stil.  27 

Korbflecliten  ist  es  z.  B.  etwas  Natürliches,  class  man  den  runden,  oben 
offenen,  nach  unten  sich  verengenden  Haupttheil  kleiner  wiederholt 
und,  ihn  umstülpend,  als  Fuss  verwendet;  dass  man  ihn  ein  zweites 
Mal  wiederholt  und  mit  einem  aus  Bastenden  gewundenen  Knopf  ver- 
sehen als  Deckel  oben  aufsetzt  —  für  den  Töpfer  liegt  an  sich  kein 
Grund  vor,  gerade  diese  Formen  zu  Avählen."  Dem  gegenüber  ist  erstens 
zu  bemerken,  dass  mit  einem  Fussring  versehene  Vasen  eine  höhere 
Standfähigkeit  besitzen  als  solche  ohne  Fussring,  also  das  Vorhanden- 
sein dieses  letzteren  am  Korb  wie  an  der  Vase  durch  einen  unmittelbar 
gegebenen  praktischen  Zweck  gefordert  war.  Zweitens,  dass  es  zwar 
für  uns  schM'Cr  hält,  uns  heute  in  den  Gedankengang  des  primitiven 
Töpfers  hineinzufinden,  dass  es  aber  nicht  minder  schwer  hält,  sich 
auszudenken,  wie  er  den  Deckel  anders,  auf  eine  dem  Töpfer  natür- 
lichere Weise  hätte  machen  sollen.  Ebenso  wenig  einleuchtend  ist  mir 
die  darauffolgende  Bemerkung,  dass  „auf  die  flachrundlichen  Henkel- 
formen Avelche  z.  B.  bei  den  altböotischen  Schalen  auffällig  sind,  kein 
Töpfer  je  selbständig  gekommen  sein  kann." 

SoAveit  von  den  Formen  der  ältesten  Vasen  in  ihrem  Verhältnisse 
zu  den  Körben.  Was  aber  uns  im  vorliegenden  Falle  noch  mehr  in- 
teressirt,  das  ist  die  Ableitung  der  gangbarsten  Ornamentmotive  der 
Vasen  von  Korbflechtmotiven.  Leider  sind  Kekule's  diesbezügliche 
Ausführungen  im  Einzelnen  noch  kargere  als  hinsichtlich  der  Formen. 
„Bei  vielen  Henkeln  weist  das  Ornament  schon  äusserlich  ganz  unzwei- 
deutig auf  den  Ursprung  hin."  Das  ist  noch  die  speciellste  Bemerkung 
im  ganzen  Berichte;  man  hat  dabei  offenbar  an  die  in  gewundener 
Strickform  plastisch  modellirten  oder  in  ähnlicher  Weise  bemalten 
Henkel  zu  denken,  wie  sie  sich  mehrfach,  aber  keineswegs  an  den  aller- 
frühesten,  wirklich  prähistorischen  Vasen,  z.  B.  auf  den  Schnabelkannen 
und  anthropoiden Gefässen,  vorfinden.  Dass  gelegentliche  Uebertragungen 
von  einem  Gebiete  auf  das  andere  möglich  waren  und  stattgefunden 
haben  mögen,  wird  auch  kein  Besonnener  in  Abrede  stellen;  aber  die- 
selben sind  eher  das  Produkt  einer  reiferen,  raffinirteren,  mit  dem  Eeich- 
thum  der  technisch  zu  bewältigenden  Formen  spielenden  Kunst,  als  das 
imitative  Nothprodukt  einer  aus  den  Anfängen  sich  emporringenden 
Kunstübung.  Und  hier  muss  ich  dasselbe  wiederholen,  was  ich  schon 
früher  (S.  15)  nachdrücklich  hervorgehoben  habe:  fast  das  gesammte 
Vasenmaterial,  das  uns  heute  zur  Verfügung  steht  und  das  auch  Kekule 
zum  Substrat  seiner  Untersuchungen  gedient  hat,  ist  ein  verhältniss- 
mässig  spätes,   mit  der  Urzeit  sich  gar  nicht  mehr  berührendes.     Wie 


28  Der  g'eometrische  Stil. 

soll  in  einer  Zeit  wie  der  mykenischen,  die  Metalle  zu  inkrustiren  ge- 
wnsst  hat,  Eaum  sein  für  eine  nachahmende  Üliertragung-  von  Formen 
und  Ornamenten  von  den  Produkten  des  primitivsten  Kunsthandwerks? 
Und  auf  die  niykenische  Kunst  folgt  erst  das  Dipylonl  Selbst  Avenn 
sich  zur  Evidenz  nachAveisen  Hesse,  dass  die  bezüglichen  Formen  und 
Ornamente  nur  auf  geflochtenen  Körben  in  die  Welt  gekommen  sein 
konnten,  müsste  ein  so  zähes  atavistisches  Festhalten  an  denselben  in 
der  Keramik  von  der  supponirten  Primitivzeit  bis  in  die  glänzenden 
Jahrhunderte  niykenischer  Kultur  wunderbar  erscheinen.  Wir  haben 
aber  ..Korbflechtmotive"  auf  Beinschnitzereien  eines  Volkes  gefunden, 
dem  die  Textilkunst  augenscheinlich  fremd  und  nicht  Bedürfniss  Avar, 
und  ebenso  haben  AA'ir  auf  dem  Wege  rein  spekulatiA^er  Schlüsse  ge- 
funden, dass  die  plauimetrischen  Liniencombinationen  nach  den  Regeln 
des  Rhythmus  und  der  Symmetrie  nicht  erst  des  materiellen  Anstosses 
einer  geflochtenen  Matte  bedurften,  um  in  die  Welt  zu  kommen. 

Wenn  ich  also  bekennen  darf,  dass  Kekules  Ausführungen 
Avenigstens  in  dem  beschränkten  Ausmaasse,  in  dem  sie  bisher  in  die 
Öffentlichkeit  gedrungen  sind,  mich  nicht  überzeugt  haben,  so  T)in  ich 
doch  weit  davon  entfernt,  den  aufklärenden  Fortschritt  der  in  den  lie- 
züglichen  Untersuchungen  Kekule's  liegt,  nicht  in  aller  gebührenden 
Bedeutung  zu  Avürdigen.  „Man  hat  öfter  das  Vorhandensein  eines  Zier- 
formenschatzes angenommen,  AA^elcher  freilich  vorAAiegend  technischi'U 
Ursprunges  sei  und  hauptsächlich  auf  die  Technik  der  Weberei,  chvu- 
falls  auch  auf  die  des  Flechtens  und  Stickens  zurückAveise.  Dazu 
kommt  dann  die  Bronzetechnik  und  aus  diesen  A-erschiedeneii  Tccliiiikcn 
entsteht  eine  verAvirrende  Zahl  einzelner  Ornamente  und  Ornament- 
systeme, Avelche  als  Erbtheil  einzelner  Volksstämme  oder  irgendAvie 
sonst  nach  und  nach  zu  einem  abstrakten  Formenschatz  zusannnen- 
getragen  Averden  und  zu  beliebiger  A'crAvciulung  bereitstellen.  Dieser 
abstrakte  Formenschatz  soll  dann  ganz  äusserlich  nach  Belieben  auf 
den  Überzug  der  Tliongefässe  üb(>rtragen  Avorden  sein."  Di«^  Verur- 
tlieilung  der  /waiizigjiilirigcn  Teclmikciijagd,  die  in  diesen  AVurten 
Kekules  liegt,  bedeutet  den  namhaftesten  Fortschritt  auf  diesem  Gebiete 
der  klassischen  Archäologie,  der  seit  dem  Tage  gemacht  Avorden  ist,  da 
Conze  uns  über  die  Bedeutung  der  „geometrisclien''  Klasse  unter  den 
frühgriechischen  Vasen  zum  erstenmale  aufgekl.iit   li.ii. 

Es  bleibt  noch  die  Frage  zu  beantAvorten,  wanini  denn  gerade  an 
den  Produkten  der  textilen  Teclmiken,  der  Fh'cliterei  und  der  AVeberei, 
das  bloss  geometrische  Mn>^trr.  (Ijc    lincircii    \'ei-/iei'iinM('ii  sieh  so  h.Mrt- 


Der  geometrische  Stil.  29 

nackig-,  bis  auf  den  lieutigen  Tag,  erhalten  haben.  ZAveifellos  weil 
diese  Muster  den  textilen  Teclniilven  am  besten  entsprechen,  oder  besser 
gesagt,  weil  es  diesen  Techniken  schwerer  als  anderen  fällt,  über  die 
eckig  gebrochenen  linearen  Muster  hinauszugehen.  Dass  es  nament- 
lich in  der  Weberei  schliesslich  doch  gelungen  ist,  leidlich  abgerun- 
dete Configurationen  zu  Stande  zu  bringen,  ist  bekannt:  das  mensch- 
liche Kunstwollen  erscheint  el)en  von  Anbeginn  unablässig  darauf 
gerichtet  die  technischen  Schranken  zu  brechen.  Aber  daneben  blieb, 
namentlich  für  geringere  Waare  das  mit  leichterer  Mühe  zu  erreichende 
geometrische  Muster  fortdauernd  in  Gebrauch.  Man  nehme  nur  die 
spätantiken  Wirkereien  aus  Egypten.  Es  giebt  keine  Rundung  die  man 
daran  nicht  ausgeführt  fände,  aber  in  Säumen  und  einfacheren  Bordüren, 
also  an  Theilen,  die  nicht  in's  Auge  fallen,  sondern  nur  zur  Trennung 
oder  neutralen  Einfassung  dienen  sollten,  begegnen  uns  fortwährend 
die  Gamma-  Tau-  und  anderweitige  geometrische  Muster,  gewiss  nicht 
infolge  einer  Reminiscenz  an  einstige  textile  Urmotive,  sondern  weil 
es  eben  die  am  leichtesten  und  einfachsten  darstellljaren  ^lotive  waren. 

Die  „geometrischen"  Motive,  soweit  sie  geradlinig  nach  den  Regeln 
des  Rhythmus  und  der  Symmetrie  zusammengesetzt  sind,  erscheinen  in 
der  That  einer  mit  einfachen  Mitteln  arbeitenden  Textilkunst  als  die 
angemessensten.  Daraus  folgt  aber  bei  weitem  noch  nicht,  dass  die  be- 
treffenden Muster  ursprünglich  nur  einer  textilen  Technik  eigenthüm- 
lich  und  von  dieser  sozusagen  geboren  waren.  Niemand  vermag  heute 
zu  sagen,  ob  die  ältesten  Linienornamente,  wie  wir  sie  etwa  auf  den 
Geräthen  der  aquitanischen  Höhlenl)ewohner  vor  Augen  haben,  zuerst 
in  Knochen  geritzt,  in  Holz-  oder  Fruchtschalen  geschnitten  oder  in  die 
Haut  tätowirt  Avorden  sind. 

Entgegen  der  bisherigen  Anschauung  vermag  ich  gar  nichts  so 
Unnatürliches  darin  zu  erblicken,  dass  auf  die  flguralen  Schnitzereien 
und  Gravirungen  der  Steinzeit  die  geometrischen  Verzierungen  der  sogen. 
Bronzezeit  gefolgt  sein  sollen'-).   Nachdem  man  einmal  zur  Kenntniss  der 


'2)  Einen  analogen  Vorgang-  glaubt  Hjalmar  Stolpe  in  der  Ornamentik 
gewisser  polynesischer  Inselvölker  festgestellt  zu  haben:  zuerst  Nachbildung- 
der  menschlichen  Figur  in  Holz  mittels  Kerbschnitts,  zunehmende  Stilisirung 
derselben,  endlich  Verwendung  einzelner  zu  geometrischen  Lineamenten  ge- 
wordener Glieder  dieser  Figuren  zur  selbständigen  Vervielfältigung  und 
rhythmischen  Reihung.  Der  bezügliche  Aufsatz  erschien  zuerst  in  der  Schwe- 
dischen Zeitschrift  „Ymer"  und  in  deutscher  Uebersetzung  in  den  Mittheil,  der 
Wiener  Anthropologischen  Gesellsch.  Jahrg.  1892  Heft  1  und  2.  Der  Vorgang 
Stolpe's,  einzelne  begrenzte  ornamentale  Gebiete  zur  Bearbeitung  vorzunehmen 


30  Der  geometrische  Stil. 

Linie  und  zu  plauimetrischen  Combinationen  derselben  nach  den  Reg"eln 
von  Rhythmus  und  Symmetrie  gehängt  war,  Uisst  sich  ganz  gut  einsehen, 
warum  man  gerade  diese  zunächst  mit  überwiegender  Vorliebe  zur 
Flächenverzierung'  verwendet  hat.  Diese  Combinationen  Avaren  eben 
weit  leichter 'hervorzubringen  als  Schattenrisse  von  Thier  und  Mensch. 
Für  letztere  Avar  übrig:ens  immer  noch  Platz  im  plastischen  Kunstschaffen. 
Aber  auf  den  zahlreichen,  insbesondere  keramischen  Geräthen  und  Ge- 
tässen,  deren  eine  steigende  Civilisation  bedurfte,  mochte  man  sich  gerne 
mit  einfacheren,  leichter  darstellbaren  Vcrzierung-en  begnügt  haben,  und 
dies  Avaren  die  geometrischen,  Avie  sie  erst  der  ritzende  Griffel  und  dann 
A'^ollends  leicht  der  malende  Pinsel  auf  die  ThonA^asen  brachte.  Erst 
die  nächste  grosse  Stufe  der  kunsthistorischen  EntAAdcklung  brachte 
den  Menschen  dazu,  den  geometrischen  Stil  zu  Aderlässen  oder  doch  auf 
die  geAvöhnlichste  Dutzendwaare  zu  beschränken.  Diese  nächste  Stufe 
ist  bekanntlich  u.  a.  besonders  charakterisirt  durch  das  Aufkommen 
pflanzlicher  OrnamentmotiA^e.  Da  ist  es  nun  unter  Hinblick  auf  das 
A-orhin  Gesagte  überaus  lehrreich  zu  sehen,  dass  man  sofort,  nachdem 
einmal  die  Pflanze  unter  die  Zierformen  aufgenommen  Avar,  sich  l>eeilt 
hat,  dieselbe  (Lotus!)  zu  geometrisiren,  offenbar  um  der  Vortlieile  Avillen, 
die  eine  planimetrischc  Gestaltung  l)ei  der  technischen  Durchführung 
und  künstlerischen  VcrAverthung  mit  sich  brachte.  Anscheinend  noch 
früher  als  das  Ptlanzenbild  hat  das  Thier-  (und  Menschen-)  Bild  sicli 
eine  gelegentliche  Umsetzung  in  den  geometrischen  Stil  gefallen  lassen 
müssen.  Dass  diese  Umsetzung  keinesAvegs  immer  nur  ein  Produkt 
der  Noth,  ein  Ausfluss  der  Ohnmacht,  Besseres  zu  schaffen,  gcAvesen  ist, 
lehren  zur  Genüge  die  vorhin  betrachteten  Leistungen  der  Troglodyten, 
bei  denen  das  Thier-  Avie  das  Menschenbild  unter  unverkennbarem  Be- 
streben, der  realen  Erscheinung  in  der  Silhouette  möglichst  nahezu- 
kommen, entworfen  ist.  Die  geometrischen  Stilisirungen  von  .Mensch 
und  Thier  sind  also  Avohl  ursprünglich  bewusste  Umsetzungen  dieser 
Figuren  in  das  lineare  Schema  gcAvesen,  ebenso  Avie  die  geometrischen 
Ornamente  bcAvusste  Combinationen  der  Linie  nach  den  Gesetzen  von 
Symmetrie  und  l>'liytlnnus.  Darum  ist  es  auch  verfehlt,  Avenn  man  — 
wie    es    häutig    zu    geschehen    pflegt  —  geometrisirte    figürliche    Dar- 


und  die  grossen  universale»  Fragen  vorlilulig  ruhen  zu  lassen,  schehit  mir 
auf  ctlinograi»hischeni  Gebiete,  avo  bisher  nur  wenig  und  ziemlich  systemlos 
in  Dingen,  die  die  Kunst  betreffen,  gearbeitet  wurde,  der  einzig  richtige. 
Seine  in  dem  citirten  Aufsatze  niedergelegten  Forschungsergebnisse  erscheinen 
mir  daher  auch  sehr  beachtensAverth. 


Der  g-eometrische  Stil.  31 

Stellungen  gleich  denjenigen  auf  den  Dipylonvasen  oder  auf  gewissen 
Kunsterzeugnissen  der  Naturvölker,  ohne  weiteres  als  rudimentäre 
Überbleibsel  eines  vermeintlichen  geometrischen  (textil-technischen) 
Urstils  erklärt.  Die  geometrisirten  animalischen  Figuren  sind  vielmehr 
nicht  minder  wie  die  rein  geometrischen  Configurationen  das  Ergebniss 
eines  keineswegs  mehr  primitiven,  sondern  bereits  eines  über  die  erste 
Stufe  hinaus  fortgeschrittenen  künstlerischen  Entwicklungsprocesses. 

Ein  doppelt  vorgeschrittenes  Stadium  der  Entwicklung  muss  vor- 
ausgesetzt werden  für  den  Augenblick,  da  man  anscheinend  geometri- 
sche Configurationen  bereits  zu  symbolischen  Zwecken  verwendete. 
Bei  dem  sinnlichen  Charakter  aller  primitiven  Xatiirreligiouen  darf  mit 
Gewissheit  angenommen  werden ,  dass  mit  jenen  Symbolen  (z.  B.  mit 
dem  Hakenkreuz)  ursprünglich  die  Vorstellung  eines  vorbildlichen 
realen  Xaturwesens  verknüpft  gewesen  ist.  Die  Geometrisii'ung  der  in 
der  Kunst  nachgebildeten  Naturformen  muss  daher  schon  zeitlich  vor- 
aufgegangen sein.  In  diesem  Lichte  betrachtet,  mag  der  Symbolismus 
ursprünglich  nichts  anderes  gewesen  sein  als  der  Fetischismus:  während 
aber  die  Objekte  dieses  letzteren  entweder  selbst  reale  Xaturformen 
sind,  oder,  wenn  im  todten  Material  gebildet,  den  Bezug  auf  reale 
Naturformen  noch  deutlich  erkennen  lassen,  erscheint  an  den  Sym- 
bolen die  letztere  Bezugnahme  sehr  häufig  durch  die  geometrische 
Stilisirung  bis  zur  Unkenntlichkeit  verwischt.  Es  ist  deshalb  eine  der 
schwierigsten  Aufgaben,  die  Grenzen  zwischen  Ornament  und  Symbol 
auseinander  zu  halten;  nach  dieser  —  bisher  wenig  und  fast  aus- 
schliesslich vom  Dilettantismus  verfolgten  —  Richtung  steht  dem  mensch- 
lichen Scharfsinn  noch  ein  überreiches  Feld  zur  Bebauung  offen,  von 
dem  es  heute  sehr  zweifelhaft  scheint,  ob  es  jemals  gelingen  wird,  das- 
selbe in  halbwegs  befriedigender  Weise  zu  bestellen'^). 

Nach  dieser  Digression  in  die  dunkle  Zwischenzeit,  die  zwischen 
der  Erschaffung  der  geometrischen  Verzierungsformen  (Kunststufe  der 
Troglodyten)  und  zwischen  der  raämüten  Verwendung  dieser  Formen 
in  den  vorgriechischen  Stilen  liegt,  kehren  wir  wieder  zu  unserem 
Hauptgegenstande  zurück.  Was  also  die  beiden  bisher  in  allgemeiner 
Geltung  gestandenen  Lehrsätze  vom  geometrischen  Stil  betrifft,  so 
können  wii'  den  zweiten,  der  die  Motive  dieses  Stüs  wenigstens  zum 
überwiegenden  Theile   aus    den    textilen  Techniken  des  Flechtens  und 


'^)  Beachtenswerthe  Anläufe  hiezu  erscheinen  u.  a.  gemacht  in  der  Schrift 
von  A.  R.  Hein  über  „Mäander,  Kreuze,  Hakenkreuze  und  urmotivische  Wir- 
belornamente in  Amerika  (Wien  1891). 


32  Der  geometrische  Stil. 

Webeiis  auf  rein  zwecklicli-maturielleiu  "Wege  entstanden  sein  lässt, 
nnn  nicht  mein"  gelten  lassen.  Ist  aiier  damit  in  der  That  so  viel  ver- 
loren V  Für  dasjenige,  was  im  ^Menschen  gemäss  jenem  Lehrsatze  den 
Gefallen  an  den  rhythmischen  Fadenkrenzungen  erweckt  haben  soll,  so 
dass  er  dieselben  demnächst  in  anderem  Stoffe,  ohne  durch  die  Anfor- 
derungen des  Zweckes  dazu  genöthigt  zu  sein,  wiederholt  liat,  dafür 
giebt  uns  jene  nunmehr  hoffentlich  überwundene  Theorie  doch  keine 
Erklärung.  Die  ganze  Theorie  erscheint  hienach  bloss  als  Glied  der 
materialistischen  "Weltanschauung,  bestimmt  die  Ableitung  einer  der 
geistigen  Lebensäusserungen  des  Menschen  aus  stofflich -materiellen 
Prämissen,  um  einen  Schritt  Aveitcr  liinauf  zu  rücken.  AYir  Avollen  diesen 
Schritt  gar  nicht  thnn,  um  schliesslich  eingestehen  zu  müssen,  dass  wir 
des  Pudels  Kern  doch  nicht  zu  erkennen  vermögen.  Wir  sagen  lieber 
gleich,  dass  jenes  Etwas  im  Menschen,  das  uns  am  Formschönen  Ge- 
fallen finden  lässt,  und  das  die  Anhänger  der  technisch -materiellen 
Descendenztheorie  der  Künste  ebensoAvenig  wie  wir  zu  detiniren  im 
Stande  sind,  —  dass  jenes  EtAvas  die  geometrischen  Linienconilnuationen 
frei  und  selbständig  erschaflfen  hat,  ohne  erst  ein  materielles  Zwischen- 
glied einzuschieben,  das  die  Sache  im  letzten  Grunde  nicht  heller 
machen  kann  und  höchstens  nur  zu  ciiuMn  armseligen  Scheinerfolg  der 
materialistischen  "Weltanschauung  füliren  würde. 

Xoch  drängt  es  mich,  um  jedwedes  Missverständniss  zu  vermeiden, 
ausdrücklich  zu  Aviederholen,  Avas  ich  schon  mehrfach  angedeutet  hal)e: 
dass  ich  Gottfried  Semper  keinesAvegs  dafür  verantAvortlich  machen 
möchte,  dass  man  seine  "\^"()rte  in  der  erörterten  LMchtung  interpretirt 
und  Aveiter  entAAÜckelt  hat.  Semper  handelte  es  sich  keinesAAU'gs 
darum,  eine  möglichst  materielle  Erklärung  für  die  frühesten  Kunst- 
äusserungen  des  Menschen  zu  finden;  es  Avar  seine  Lieblingstheorie 
vom  BekleidungSAvesen  als  Ursprung  aller  l^aukunst,  di«'  ilni  dazu  ge- 
führt hat,  der  Textilkunst  unter  allen  übrigen  Künsten  i'ine  b'olle  zu- 
zuweisen. Avie  sie  ilu"  besonnenermaassen  nicht  mehr  Aviivl  eingeräumt 
Averden  dürfeu.  Auf  dem  angedeuteten  Wege  gelangte  Semper  dazu, 
geAvisse  textile  Begriffe  und  ästhetische  Unterscheidungen  wie  Band 
und  Decke,  die  erst  einer  vorgeschritteueren ,  ratt'inirteren  Zeit  des 
Kunstschaffens  angehören  können,  an!'  piiniitiAc  Knnstzustände  anzu- 
wenden. \'(<]\  <ler  Cberseliiitznng  dei-  Textilkunst  in  Seniper"s  Stil 
Averden  Avir  daher  gründlich  zurückkommen  müssen;  nichtsdestuAveniger 
bleibt  jede  Seite,  auf  der  er  sicJi  über  dieses  Thema  äussert,  auch  für- 
derliin  noch  lesenswerth,  wo  nicht  klassisch. 


II. 
Der  Wappenstil. 


Die  übliche  Identificirung  der  Textilornamentilc  mit  Flächeiiorna- 
mentik  im  Allgemeinen  hat  eine  weitere  Reihe  von  Irrthümern  zur 
Folge  gehabt.  Einer  der  anspruchvollsten  darunter,  der  noch  heute  in 
unbeschränktem  Ansehen  steht,  betrifft  jenes  System  der  Ornamentik, 
dem  eine  paarweise  Gruppirung  unter  symmetrischer  Gegenüberstellung 
(Affrontirung  bezw.  Adossirung)  zu  Grunde  liegt. 

Auf  Ernst  Curtius')  geht  die  Unterscheidung  zwischen  einem 
Teppichstil  und  einem  Wappenstil  zurück.  Den  Teppichstil  erblickt  Cur- 
tius in  jener  Art  von  Flächenverzierung,  wo  z.  B.  Thiere  in  regel- 
mässiger Reihenfolge,  und  zwar  mehrere  solcher  Thierreihen  in  Zonen 
übereinander  angeordnet  sind.  Den  Wappenstil  bezeichnen  ihm  dagegen 
die  paarweise  gruppirten  Thiere,  zu  beiden  Seiten  eines  trennenden 
Mittels  symmetrisch  einander  gegenübergestellt. 

Was  Cm-tius  Teppichstil  nennt,  das  hat  weder  mit  der  Textilkunst 
im  Allgemeinen,  noch  mit  den  Teppichen  im  Besonderen  etwas  Wesent- 
liches zu  thun.  Hatte  man  nämlich  eine  Fläche  überhaupt  (nicht  l)loss 
eine  textile)  zu  verzieren,  so  lag  es  am  nächsten,  den  Raum  in  der 
Weise  zu  brechen,  dass  man  denselben  in  einzelne  horizontale  Streifen 
zerlegte  und  innerhalb  dieser  Streifen  die  Einzelornamente  unter- 
brachte. Eine  solche  Streifendekoration  begegnet  uns  auf  historischem 
Boden  bereits  bei  den  Altegyptern  (Reihen  figuraler  Scenen  überein- 
ander an  den  Grabwänden),  bei  den  Assyrern^),  aber  auch  später  in 
den  reifsten  Stilen  immer  wieder 3).    Um  diese  Art  der  Dekoration  mit 


1)    Abh.  der  Berl.  Akad.  1874. 

-)  Z.  B.  bei  Layard  Ninive  I.  23  unten  am  Gewände  der  äussevsten 
Figur  rechts,  mit  rein  geometrischen  Einzelmotiven. 

=*)  Nach  Schreiber  (Wiener  BrunnenreUefs  S.  84)  ist  die  „Streilendeko- 
ration"  auch  in  der  hellenistischen  Dekorationskunst  sehr  maassgebend  ge- 
wesen . 

Riegl,  StiltVageD.  " 


34  Der  Wappenstil. 

Berechtigung'  als  Teppicbstil  zu  bezeichnen,  müsste  man  erst  nach- 
weisen,  dass  sie  zuerst  auf  Teppichen  angcAvendet  worden  ist.  Lässt 
man  aber  g-emäss  unseren  Ausführungen  im  1.  Capitel  den  gänzlicli 
unbewiesenen  aprioristischen  Lehrsatz  fallen,  wonach  die  ältesten 
Flächenverzierungen  auf  textilem  Gebiete  zu  Stande  gekommen  sein 
müssten,  so  kann  man  heute  eine  Geschichte  der  Flächenornamentik 
schreil)en.  in  welcher  den  einzelnen  Zweigen  der  Textilkunst  kein  be- 
deutsamerer Platz  eingeräumt  ist,  als  etwa  der  Wandmalerei,  der  Gra- 
virung  und  Emaillirung  u.  s.  w.  Wir  könnten  daher  die  Sireifendeko- 
ration  mit  ebenso  gutem,  wahrscheinlich  aber  mit  besserem  Rechte 
als  Sehnitzereistil  oder  Gravirstil  bezeichnen,  weil  der  Mensch  mittels 
dieser  Techniken  gewiss  mindestens  ebenso  früh  Ijereits  Flächen  ver- 
ziert hat,  als  er  dies  mittels  der  Teppichweberei  gethan  haben  kann. 
Was  dagegen  die  symmetrische  Gruppirung  von  je  zwei  Thieren 
u.  dgl.  um  ein  gemeinsames  ^Mittel  anbelangt,  so  lässt  sieh  ('urtius^) 
hierüber  vernehmen,  er  sei  durch  sassanidische  Gewebe  dazu  gelangt, 
auch  diesen  Wappenatil  nicht  minder  wie  den  Teppichstil  auf  die  Webe- 
kunst zm'ückzuf Uhren.  Den  Beweis  dafür  erblickt  er  darin,  dass  auch 
der  Buntwirker  (worunter  offenbar  der  Kunstweber  gemeint  ist)  aus 
technischen  Gründen  eine  öftere  Wiederholung  des  Musters  braucht 
und  anderseits  die  Fläche  möglichst  auszufüllen  trachtet,  um  an  der 
Rückseite  keine  langen  Fäden  flott  liegen  zu  lassen,  und  auch  die  kost- 
baren Einschlagfäden  möglichst  nach  vorne  zu  bringen.  In  ganz  ähn- 
licher Weise  finde  man  aber  an  orientalisirenden  Thonwaaren  und 
Metallarbeiten    frühgriechischer   Herkunft    einerseits    die    wappenartige 


*)  In  den  Abb.  der  Berl.  Akad.  1879  S.  23.  —  Der  verehrte  Nestor  der 
an  g-länzenden  Vertretern  und  Erfolg-en  so  reiclien  Berliner  archäologischen 
Schule  möge  verzeihen,  wenn  ich  mich  hier  auf  Abhandlungen  beziehe,  deren 
Verfassung-  nun  schon  eine  beträchtliche  Reihe  von  Jahren  zurückliegt,  und 
die  heute  vielleicht  nicht  einmal  mehr  seinen  eigenen  Anschauungen  völlig 
entsprechen.  Aber  dieselben  haben,  wie  die  seitherige  Literatur  lehrt,  in  der 
klassischen  Archäologie  allenthalben  Schule  gemacht,  und  so  bleibt  mir  nichts 
anderes  übrig ,  als  mich  auf  denjenigen  Autor  zu  beziehen ,  der  die  Sache 
zuerst  vor  die  Öffentlichkeit  gebracht  hat.  Übrigens  wird  Jeder  aus  dem 
Context  meiner  Ausführungen  in  diesem  und  dem  vorigen  Capitel  entnehmen, 
Avie  ich  von  der  Einsicht  durchdnnigen  lün,  dass  u.  a.  auch  die  von  Curtius 
aufgestellte  Lehre  vom  Teppichstil  und  Wapi)enstil  im  allgemeinen  Zuge  der 
Zeit  begründet  war,  und  dass  es  dem  so  vielbewährteu  Forscher  unter  diesem 
Hinblick  nur  zum  Verdienst  angerechnet  werden  kann  ,  dass  er  einmal  die 
vollen  Consequeiizen  gezogen  hat ,  da  man  nur  auf  diesem  Wege  zu  einer 
weiteren  Klärung  der  Anschauungen  gelangen  konnte. 


Der  Wappenstil. 


35 


Anordnung'  der  Hauptmotive,   anderseits   den   Grund   naeli  Mög-liclikeit 
ausgiebig'  mit  Mustern  gefüllt. 

Da  nun  diese  wappenartigc  Ornamentik  sich  besonders  häutig  an 
Werken  der  assyrischen  Kunst  (Fig.  4)-'')  vorfindet,  und  die  früh- 
griechische  Kunst  nachweisbar  vielfach  unter  orientalischen  Einflüssen 
gestanden  ist,  so  ergeben  sich  daraus  unschwer  die  Schlüsse,  welche  die 
klassische  Archäologie  aus  der  Curtius'schen  Hypothese  nothwendiger- 
maassen  gezogen  hat.  Einer  ihrer  namhafteren  und  auch  mit  den  alt- 
orientalischen Verhältnissen  bestvertrauten  Vertreter  hat  noch  vor 
Kurzem  die  diesbezüglich  herrschende  Lehrmeinung-  in  folgende  Worte 
zusammengefasst :  „Die  Bildertyi>ik  des  Orients  hängt  zum  grössten 
Theile    von    den    Gewebemustern    der    grossen   Wandtapeten    ab,    und 


Fig.  4. 
Skulpirter  assyrischer  Fries  mit  geflügelten  Stieren  im  Wappenstil. 

manche  stilistische  Eigenheiten  ihrer  Plastik,  z.  B.  die  übermässige  Kon- 
turirung  der  Muskeln,  findet  darin  am  natürlichsten  ihre  Erklärung^)." 
Auch  diesem  Lehrsatze  gegenüber  werden  wir  die  Frage  aufwerfen 
müssen,  ob  sich  derselbe  historisch  rechtfertigen  lässt,  und  ob  für  die 
ihm  zu  Grunde  liegenden  Erscheinungen  nicht  eine  andere  Erklärung 
gegeben  werden  kann. 

Woher  wissen  Avir,  dass  die  Assyrer  bereits  eine  Kunstweberei 
gekannt  hätten,  die  im  Stande  gewesen  wäre  Stoffe  mit  Thierpaaren  im 
Wappenstil  zu  mustern  V  Und  zwar  handelt  es  sich  hier  um  eine  „Kunst- 
■^veberei"  im  vollen  Sinne  des  Wortes,  —  um  eine  Weberei,  die  mittels 
Schiff"chens  im  Stande  ist,  auf  Grundlage  einer  vollkommenen  Beherr- 


^)   Nach  Layard,  The  monu.inents  of  Ninive  Taf.  45. 
^)    Schreiber,  Wiener  Brunnenreliefs  37. 


3* 


36  ^^1"  ^Vappenstil. 

schung  der  freien  Bindung-en,  beliebig  konturirte  Fig-iiren  wiederzugeben: 
denn  nur  eine  solche  bis  zu  einem  geAvisscn  Grade  mechanische  Art 
der  Weberei  bedarf  der  symmetrischen  Wiederliolung-  der  einzelnen 
Figui-en,  Avie  sie  Curtius')  ganz  richtig  an  den  sassanidischen  Seiden- 
stoffen beobachtet  hat. 

Curtius"  Vermuthung  hiusiohtlicli  der  Assyrer  stützt  sich  auf  die 
"Wahrnehmung,  dass  auf  den  in  Steinrelief  dargestellten  Gewändern 
einiger  Könige,  insbesondere  des  Assurnasirpal  zu  Ximrud.  sich  Bor- 
düren finden,  in  denen  die  wappenartigen  Gruppen  von  paarweisen 
Thieren  (Fig.  4),  Menschen,  Fabelwesen  sich  fortAvährend  Aviederholen, 
nach  einem  Schema  wie  es  in  der  That  auch  an  sassanidischen  Seiden- 
stoffen zu  sehen  ist.  Curtius  glaubte  daraus  sofort  auf  Seiden -Kunst- 
webereien, als  unmittelbare  autochthone  "Vorbilder  schliessen  zu  dürfen. 
Semper,  der  diese  wandverkleidenden  Eeliefs  der  assyrischen  Künigs- 
paläste  gleichfalls  mit  steinernen  Tapeten  identificirt  hat,  drückte  sicli 
aber  in  Bezug  auf  die  technische  Erklärung  der  im  "Wappenstil  gehal- 
tenen Thiere  weit  vorsichtiger  aus.  Als  Teclniiker  mochte  er  wahr- 
scheinlich das  Gewagte  einer  Behauptung  Avie  derjenigen  Curtius'  ein- 
gesehen haben;  er  erblickte  darin  nicht  Kunstwebereien,  sondern 
Stickereien^),  Avas  an  und  für  sich  viel  mehr  "Wahrscheinlichkeit  bean- 
spruchen darf,  da  die  technische  Ausführung  in  diesem  Falle  Aveit  ge- 
ringere SchAAaerigkeiten  bereitet  hätte. 

Die  Hypothese  von  der  Entstehung  des  "Wappenstils  aus  einer  alt- 
assyrischen  Kunstweberei  wird  aber  noch  unhaltbarer,  sobald  Avir  das- 
jenige in  Betracht  ziehen,  Avas  Avir  in  den  letzten  Jahren  über  das 
"Wesen  der  Textilkunst  im  Altertlium  in  Ertahrung  gebracht  haben. 
Als  die  Aveilaus  maassgebendste  Technik  hat  sich  die  Wirkerei  (Gobelin- 
technik) herausgestellt'').  Gewirkte  Einsätze  mit  Figuren  in  genau  der- 
selben Avappenartigen  Symmetrie,  aber  von  klassischer  Formgebung, 
sind  unter  den  egyptischen  Gräberfunden  aus  spätantiker  und  früh- 
mittelaUerliclier  Zeit  (Fig.  5)  zalilreicli  an  den  Tag  gekommen.  Da- 
gegen befand  sich  die  Seidenknnsl  Weberei  denselben  Funden  zufolge 
in  spätantiker  Zeit  noch  auf  einer  ziemlich  niedrigen  Stufe  der  Ent- 
Avicklung.  EssenAvein  berichtet  über  einen  der  in's  Germanische  Museum 
gelangten    spätantiken  Seidenstoffe  folgendermaassen :   „Man  sieht  deut- 

^)    Wi(!  icli  erfaliro,  unter  A.  Pahst's  (Cölni  kuiKliy-ei'  Anlcitinit;". 
")    Stil  I.  '61h. 

^)  In  dieser  Tcclniik  sind  aucli  aller  Walirsclieiiiliclikcit  nach  die  wappeu- 
artigen  Thiere  auf  den  assyrischen  KönigsgcAvälndern  ausgeführt  gcAvcscn. 


Der  Wappenstil.  37 

lieh,  dass  der  Weber  jeden  Faden  einzeln  zwischen  die  Kettfäden  ge- 
schlungen und  möchte  fast  meinen,  es  sei  dies  eher  mit  der  Nadel  als 
mit  dem  Schiffchen  geschehen.  Wenn  man  so  etwa  mehr  Handarbeit 
als  Fabrikation  in  der  Herstellung  der  Gewebe  erkennt,  ward  man  auch 
über  die  vielen  Unregelmässigkeiten  nicht  erstaunt  sein."  Es  war  eben 
noch  nicht  so  lange  her,  dass  die  Seide  ausserhalb  der  ostasiatischen 
Kulturwelt  verarbeitet  wurde;  keinesfalls  reichen  unsere  Nachrichten 
darüber  in  die  Zeiten  der  altorientalischen  Monarchien  zurück.  Ein 
ununterbrochener  technischer  Zusammenhang  zwischen  einer  vermeint- 
lichen altassyrischen  und  der  nachweisbaren  sassanidischen  Seidenkunst- 
weberei lässt  sich  somit  nicht  herstellen;  nach  stilhistorischer  Seite  liegt 
aber  dazwischen  die  Ausbreitung  der  hellenistischen  und  römischen 
Antike,  die  —  allerdings  unter  unmittelbarer  Berührung  mit  den  alt- 
orientalischen Künsten  entstanden  und  herangebildet  —  ihrerseits  wieder 
insbesondere  die  Luxuskünste  im  Oriente  durchaus  in  ihre  Einfluss- 
sphäre zu  ziehen  gewusst  hat. 

Das  Princip  des  Wappen sti Is ,  die  absolute  Symmetrie  hat  in  der 
späten  Antike  überhaupt  eine  sehr  maassgebende  Rolle  gespielt,  Avas 
vielleicht  mit  der  sinkenden  Schaffenskraft  im  Kunstleben  dieser  Zeit 
zusammenhängt,  da  die  hellenistische  Kunst  noch  die  relative  Symmetrie 
in  der  Dekoration  beobachtete,  und  die  Langweiligkeit  der  absoluten 
Symmetrie  nach  Möglichkeit  vermied.  Es  ist  daher  nicht  recht  zu  ver- 
stehen, warum  uns  das  wappenartige  Ornamentationssystem  der  sassa- 
nidischen Seidenstoffe  so  fremdartig  asiatisch,  so  ganz  und  gar  nicht- 
abendländisch erscheinen  soll.  Wenn  die  Beherrschung  der  Anfangs 
so  schwierigen  Technik  der  Kunstweberei  bereits  am  Ausgange  der 
Antike  rasche  Fortschritte  gemacht  zu  haben  scheint,  so  ist  dies  wohl 
aus  der  zwingenden  Nothwendigkeit  zu  erklären,  die  man  empfunden 
haben  musste,  für  das  eben  zur  vorherrschenden  Geltung  gelangte  neue 
Rohmaterial,  die  Seide,  auch  die  passendste  Technik  auszubilden,  wofür 
sich  aus  anderwärts '°)  von  mir  erörterten  Gründen  die  antike  Wirkerei 
durchaus  nicht  empfahl.  Für  die  Seidenkunstweberei  hatte  nun  das 
zur  damaligen  Zeit  wieder  allgemein  verbreitete  Ornamentationssystem 
des  Wappenstih  allerdings  jene  grossen  Vorzüge,  auf  die  auch  Curtius 
hingewiesen  hat,  und  wohl  aus  diesem  Grunde,  nicht  einer  vermeint- 
lichen assyrischen  Textilüberlieferung  halber,  finden  wir  das  genannte 
Dekorationsschema  an  den  Seidenstoffen  von  spätantiker  Zeit  (Fig.  5)  an 


'")    Bei  Bucher,  Geschichte  der  technischen  Künste  III.  361  f. 


38  Der  Wai)penstil. 

bis  in  das  gothiscbo  Mittelalter  iu  überwiegendstem  Maasse  zur  Anwen- 
dung" gebracht.  Nicht  die  Technik  hat  das  Scliema  geschaffen,  son- 
dern sie  hat  das  bereits  vorhandene  als  das  ihr  zusagendste  über- 
nommen und  im  Besonderen  für  ihre  Zwecke  weitergebildet. 

Mit   Rücksicht    auf   die   schon   früher  hervorgehobene  Bedeutung-, 
welche    die   egyptisch-spätantiken   Textilfunde    für    die  Erklärung    der 


m    


i^\ 


^# 


l'ig    5. 
Hewirktcr  (icwandcinsatz  ans  einem  Orabc  bei  Snkkarah  (.Kgypten),  spütaiitik. 


^Val)p(•IlstiI-Frage  liaben,  crschcini  hi<'ii<l)cii  in  l-ig.  .'>  <iii  l)laftf(»rmig('r 
ri«-wand»-iii.satz  aus  der  in  das  k.  k.  .istnrricliisrlic  Miixinu  für  Kunst 
lind     Iii'histrio    gelangten    Saininhing"i     jtiKr    l'undr    \\  ii-dergegeben. 


")  K.-italof,'  dieser  Sainnilmi;;- No.  HC.  Das  Stück  i.st  aucii  (hnch  seinen 
Inhalt  bemerkenswerth,  da  es  eines  drr  überaus  seltenen  Bcisitiflc  vom  Nach- 
beben altegyptisch-nationaler  Kunstfornicn  im  spHtcren  Alterllnnn   liictet. 


Der  Wappenstil.  39 

Das  Muster  ist  fast  in  allem  Wesentlichen  symmetrisch  angeordnet:  die 
Figuren  in  der  oberen  Hälfte  zu  beiden  Seiten  einer  trennenden  drei- 
blättrigen Blume,  darunter  die  zwei  Xaclien  mit  je  zwei  Fischern,  so- 
wie die  Fische  und  Blattpflanzen  im  W'asser.  Und  doch  war  durch 
die  Technik,  in  welcher  dieser  Einsatz  gearbeitet  ist,  keine  Veranlas- 
sung gegeben  zu  solcli  symmetrischer  Gestaltung.  Wie  schon  die  an 
der  Abbildung  deutlich  wahrnehmbare  Ripsbindung  verräth,  handelte 
es  sich  hiebei  nicht  um  eine  Seidenkunstweberei,  die  ein  Interesse 
daran  gehabt  hätte,  die  gleichen  Tritte  und  Schäfte  bald  wiederkehren 
zu  sehen,  sondern  um  eine  höchst  einfache  Handwirkerei,  die  auf  keine 
technischen  Abkürzungen  ausgeht,  weil  sie  dieselben  gar  nicht  brauchen 
kann.  Die  symmetrische  Kunstform  als  solche  wav  also  gegeben  und 
in  der  Textiltechnik  angewendet,  nicht  umgekehrt.  Symmetrisch  ver- 
zierte Einsätze  in  Wirkerei  sind  auch  sonst  nicht  selten  unter  den  ge- 
nannten Funden'^). 

Was  zwingt  uns  denn  überhaupt,  das  Verhältniss  umzukehren 
und  mit  Curtius  und  Anderen  den  Wappenstil  aus  der  Technik  der 
Kunst  Weberei  abzuleiten?  Das  dem  Schema  zu  Grunde  liegende  Ge- 
setz der  Symmetrie  war  doch  den  Menschen  längst  bekannt  und  von 
ihnen  im  Kunstschaffen  beobachtet,  bevor  die  Assyrer  ihre  grosse 
orientalische  Monarchie  aufgerichtet  haben.  W^ie  Avir  im  vorigen  Capitel 
gesehen  haben,  übten  es  bereits  die  Troglodyten;  der  ganze  geometrische 
Stil  ist  nichts  anderes  als  abstrakter  Rhythmus  und  abstrakte  Symme- 
trie. Sobald  die  Pflanze  in  die  Ornamentik  eingeführt  wird,  geht  das 
ganze  Bestreben  daliin  ihre  Erscheinung  symmetrisch  zu  gestalten.  Als 
Resultat  dieses  Bestrebens  werden  wir  im  folgenden  Capitel  die  sym- 
metrische Seitenansicht  im  Lotus,  die  synmietrische  Vollansicht  in  der 
Rosette,  eine  dritte  Art  der  Projektion,  die  man  etwa  als  halbe  Voll- 
ansicht  bezeichnen  könnte,  in  der  nicht  minder  symmetrischen  Pal- 
mette kennen  lernen.  Wie  steht  es  nun  mit  der  symmetrischen  Dar- 
stellung der  animalischen  Wesen?  Die  Vorderansicht  ist  zAvar  bei 
Menschen  und  Thieren  symmetrisch  gestaltet,  aber  diese  Vorderansicht 
ist  für's  Erste,  wenigstens  was  die  Thiere  betrifft,  die  minder  charak- 
teristische, dann  bot  ihre  Wiedergabe  in  der  Fläche  dem  primitiven 
Künstler  wegen  der  obwaltenden  Verkürzungen  allzu  viele  Schwierig- 
keiten. Man  wählte  daher  die  charakteristischere  und  annähernd  in  einer 
Fläche  verlaufende  Seitenansicht,  die  aber  der  Symmetrie  entbehrte.  Um 


^'^)  Bucher,  Gesch.  der  techn.  Künste  II,  Fig.  356,  3.57. 


4y  Der  Wappenstil. 

nun  die  Thierfiguren  in  Seiteuansicht  dennoch  dekorativ '^j  zu  verwertheu, 
gab  es  zwei  Wege.  Entweder  man  liess  die  Symmetrie  ganz  fallen 
und  reihte  die  Thiere  bloss  rhythmisch  hinter  einander  —  dies  geschah 
in  dem  von  Curtius  sogenannten  Teppiehstil  — ,  oder  mau  nahm  die 
Thiere  paarweise  und  stellte  sie  in  absoluter  Symmetrie  einander 
gegenüber,  und  zwar  womöglich  zu  beiden  Seiten  eines  symmetrisch 
aufgebauten  Mittels ,  wozu  sich  ein  vegetabilisches  Element  am  besten 
eignete.  Auf  diese  Weise  etwa,  keineswegs  aber  aus  einer  gar  nicht 
zu  beweisenden  Technik,  werden  wir  uns  die  paanveisen  assyrischen 
Bestien  zu  beiden  Seiten  des  sogen,  „heiligen  Baumes"  (Fig.  4)  zu  er- 
klären haben. 

Die  Symmetrie  erweist  sich  eben  als  ein  dem  Menschen  einge- 
borenes, immanentes  Postulat  alles  dekorativen  Kunstschaffens  von  An- 
beginn. Der  Chinese  kennt  sie  ebensogut  wie  der  Altegypter,  und 
nicht  bloss  im  geometrischen  Ornament,  wiewohl  man  versucht  hat, 
ihnen  diese  Kenntniss  abzusprechen.  So  finden  wir  z.  B.  zwei  Böcke 
um  einen  Baum  symmetrisch  gruppirt  bereits  im  Alton  Reiche  unter 
der  G.  Dynastie'^},  also  mehr  als  tausend  Jahre  vor  der  Entstehung  der 
assyrischen  Königspaläste.  Dass  Altegypter  wie  Chinesen  über  eine  be- 
scheidene Beobachtung  der  Spnmetrie  in  der  figürlichen  Composition 
nicht  hinausgekommen  sind,  mag  vielleicht  in  dem  anscheinend  frühen 
Reifen  und  Sichabschliessen,  und  dem  hierauf  erfolgten  relativen  Still- 
stehen ihrer  uralten  Kulturen  begründet  sein.  Ein  Volk,  das  auf  den 
Errungenschaften  eines  anderen  unter  frischen  Impulsen  weiter  zu 
bauen  in  der  Lage  war,  hat  die  künstlerische  Bedeutsamkeit  der  Sjtu- 
metrie  sofort  schärfer  erfasst:  so  sehen  wir  sie  eben  l)ei  den  Assyrern 
l)eobachtet,  die  aucli  den  Unterschied  zwischen  Decke  und  Band,  Fül- 
lung und  Bordüre,  Inhalt  und  Rahmen,  wie  es  scheint  zuerst  nicht 
bloss  deutlich  begriffen,  sondern  auch  zu  unbedingter  praktischer  Gel- 
tung gebraclit  haben;  h-ider  vermögen  wir  mit  den  heutigen  Mitteln 
niclit  zu  beurtheilen,  welcher  Antheil  hiervon  auf  ilire  älteren  Stam- 
me'Sgenosscn,  die  Chaldäer,  entfallt.  Bedarf  es  da  erst  der  Kunst- 
weberf'j,  um  zu  erkhiren,  wie  dieses  Volk  zur  Übung  des  symmetrischen 
Wappfnstils  gelangt  ist? 

•'V  Nicht  mit  lUrscriptiv  -  f;;cgcnstiin(ilichcr  l'cdi'iitiui^- ,  wie  etwa  die 
Heeiden  auf  altcg'yptisclieii  Orabreliefs. 

",;    Lepsiiis  r)<'iil<in:ller  IV.  Taf.  lOS,  111. 


III. 

Die  Anfänge  des  Pflanzenornaments  und  die 
Entwicklung  der  ornamentalen  Ranke. 


Es  ist  heute  schwer  zu  entscheiden,  Avelches  von  den  beiden  orga- 
nischen Bereichen  der  Xatur,  das  animalische  oder  das  vegetabilische, 
dem  Menschen  bei  seinen  ersten  Versuchen,  bestimmte  körperliche  Er- 
scheinungen aus  seiner  Umgebung  zeichnend  auf  einer  Fläche  zu  repro- 
duciren,  grössere  SchAvierigkeiten  bereitet  hat.  Die  Pflanze  hat  diesbe- 
züglich vor  den  Thieren  den  Vortheil  voraus,  dass  ihre  Theile,  wenigstens 
für  den  naiven  Beschauer,  scheinbar  in  absoluter  Euhe  verharren,  wo- 
durch es  dem  Menschen  leichter  geworden  sein  könnte,  ein  typisches  Bild 
von  den  Pflanzen  zu  gewinnen,  als  von  den  ihre  Haltung  und  Lage 
beständig  verändernden  Thieren.  Aber  ebensowenig  wie  bei  den  Thieren, 
insbesondere  bei  den  der  Aufmerksamkeit  des  Menschen  zunächst  ge- 
rückten Vierfüsslern,  liegen  bei  den  Pflanzen  alle  ihre  Theile  in  einer 
und  derselben  Fläche.  Es  musste  also  auch  bei  der  Eeproduktion 
der  Pflanzen  eine  Stilisirung  Platz  greifen,  sobald  der  Mensch  dieselben 
auf  eine  gegebene  Fläche  (Stein,  Bein,  Thon)  zeichnen  oder  gravh'en 
wollte.  Dies  äussert  sich  an  den  frühesten,  uns  bisher  bekannt  gewor- 
denen Pflanzendarstellungen  namentlich  in  der  symmetrischen  Abzwei- 
gung der  Seitensprösslinge  rechts  und  links  vom  gerade  emporstrebenden 
Schaft,  während  in  der  Natur  die  Zweige  strahlenförmig  um  den  Stamm 
herum  angeordnet  sind,  ferner  in  der  Darstellung  der  Blätter  als  wären 
sie  von  oben  gesehen,  Avährend  dieselben  dem  seitwärts  gedachten  Be- 
schauer mehr  oder  minder  das  Profil  zukehren.  Diese  Flach-Stilisirung 
blieb  so  lange  in  Kraft,  bis  allmälig  die  perspektivische  Darstellung, 
aufkam,  vermittels  welcher  man  sich  in  Stand  gesetzt  sah,  körperliche 
Erscheinungen  mit  sämmtlichen  Merkmalen  ihrer  räumlichen  Abstufung 
und  Ausdehnung  auf  eine  ebene  Fläche  zu  bringen. 


42 


Die  Antaiio-e  des  Priauzeiiornameiits  etc. 


Soviel  aber  die  l^i^lle^  geiiuicliteii  i'iinde  aus  präliistoriselier  Zeit 
erkennen  lassen,  hat  sich  der  Mensch  —  entgegen  dem  ErAvarten,  das 
Avir  an  das  oben  Gesagte  zu  knüpfen  bt'rechtigt  Avären  —  früher  in  der 
Nachbildnng  von  Thieren  als  in  derjenigen  von  Pflanzen  versucht.  So 
hat  man  atif  den  in  den  Höhlen  der  Dordogne  gefundenen  skulpirten 
Rennthierknochen.  neben  der  so  stattlielien  An/.ahl  aniiualisclier  Bild- 
werke, bloss  ein  einziges  Mal  (Fig.  6)  ^lotive  gefunden,  die  man  um 
ihrer  rosettenartigeu  Form  willen  für  die  Copie  einer  Blume  halten 
könnte').  Almliche  Beobachtungen  hat  man  auf  dem  Ge- 
biete der  Ethnologie  der  heutigen  Naturvölker  gemacht. 
Überall  geht  das  geometrische  Ornament  und  das  Thier- 
l)ild  der  Darstellung  von  Pflanzen  voraus.  Ganze,  ver- 
liältnissmässig  hoch  ausgel)ildete  Ornamentiken,  wie  z.  B. 
die  inkaperuanische,  sclieinen  des  Pflanzenbildes  voll- 
ständig zit  entbehren.  Die  Erklärung  diest'r  Erscheinung 
werden  wir  wühl  in  dem  Umstände  zu  suchen  haben, 
dass  die  bewegliche,  scheinbar  mit  freiem  AVillen  ausge- 
stattete Thierwelt  in  weit  höherem  Grade  als  die  Pflan- 
zenwelt die  Aufmerksamkeit  des  Menschen  erregt  haben 
niociit"'.  Thiere  und  iiielit  rilauzen  spielen  im  Fetiscliis- 
mus  die  Hauptrolle,  Avi('  nocii  die  altegyi>ische  (Jötter- 
inythologie  in  ihren  den  Thierkult  l)etrei1'eiiden  rudimen- 
tären Theilen  deutlicli  lieweist.  Und  ähnlich  ist  ja  das 
Verhältniss  des  Menschen  zti  Tliier  und  l'flanze  in  der 
Kunst  allezeit  auch  späterhin  gebliel>en.  Die  perspekti- 
vische Durchbildung  Avurde  früher  an  .Menschen  und 
Thieren,  als  an  den  Pflanzen  erprobt,  die  Blume  blieV) 
am  längsten  ,.Flachornament"  und  die  „LaiulschalV  ist 
weit  später  nicht  bloss  als  die  religiöse  und  Historien- 
malerei, sondern  auch  als  Porträt  und  Genre.  Es  ist  also  Avohl  ein- 
mal   «las    gerimii'i'e    lnter<'sse,    «las    dei"   Mensch    an    der  scheinbar   be- 


W 

Fig.  6. 

Rennthierknochen 

mit  gravirten 

Blumen  (?j. 

I..1  >fa<tclcinc. 


'j  Wäre  niciit  die  angesichts  der  Zeit-  und  Kultuj  iniistämtc  \  ('rl)liilVciule 
Leistungsfähigkeit  der  Troglodytenkunst,  so  dürfte  mau  nucli  auf  die  Schwie- 
rigkeit hinweisen ,  die  das  Nacldnlden  der  i'eicli  gf;^liederten  Pflanzen  in 
Skulptur  gcfccnüber  den  weit  minder  gc^^liedcrtcn  Thievkörpern  mit  sich  brachte. 
Die  älteste  Kmisttechnik  war  aber  gemäss  unseren  Ausführungen  im  ersten 
(.'apitel  S.  20  die  Skuljdur.  I'.ildete  diese  nun  Tliierliguren,  so  konnte  di«'s 
imm(;rliin  auf  die  nachfolgenden,  in  dei-  Plüclie  bildenden  Künste  bereits  von 
traditioneller,  also  das  PlL-inzcnipild  zuniidist  ausscliliessender  AVirktni^-  sein. 


Die  Antangc  des  PHanzeiioniameiits  etc.  43 

wegungslosen  Pflanzenwelt  nahm,  wodurch  wir  uns  die  spätere  Ein- 
führung' der  Pflanze  in  die  bildende  Kunst  hauptsächlich  zu  erklären 
haben  werden. 

Eine  weitere  Frage,  die  sich  sofort  beim  Beginne  dieses  Capitols 
aufdrängt,  lautet  dahin,  ob  die  ältesten  Kunstdarstellungen  vegetabi- 
lischen Inhalts  als  Ornamente  gedacht  waren  oder  ob  dieselben  um 
einer  ihnen  innewohnenden  gegenständlichen  (hieratischen,  symbolischen) 
Bedeutung  willen  zur  Ausführung  gelangt  sind?  Letztere  Annahme 
würde  zur  Voraussetzung  liaben,  dass  wir  für  den  Menschen,  der  zuerst 
Pflanzenformen  nachgebildet  hat,  eine  vorgeschrittenere  Kulturstufe  an- 
nehmen müssten,  —  eine  Kulturstufe,  welche  über  das  blosse  elemen- 
tare Bedürfniss  des  Schmückens  (S.  22)  in  der  Kunst  bereits  wesentlich 
hinausgekommen  Avar.  Und  in  der  That,  wenn  wir  erwägen,  dass  überall 
dort,  A\'o  wir  einen  zwar  alterthümlichen,  aber  fertigen  und  geschlossenen 
Kulturzustand  näher  kennen  gelernt  haben,  bildende  Kunst  und  Re- 
ligion augenscheinlich  in  engsten  Wechselbeziehungen  zu  einander  ge- 
standen sind,  werden  Avir  von  einem  gewissen,  freilich  nielit  mehr  näher 
zu  bestimmenden  Zeitpunkte  au,  den  Anstoss  zu  Aveiteren  Versuchen  in 
einer  Avahrhaft  „bildenden",  d.  h.  körperliche  Naturerscheinungen  nach- 
empfindenden und  wiedergebenden  Kunst,  nicht  mehr  allein  auf  einen 
immanenten  Schmückungs-  und  plastisch -imitativen  Gestaltungstrieb, 
(wie  bei  den  a(iuitanischen  Troglodyten?),  sondern  auch  ganz  Avesentlich 
auf  religiöse  d.  h.  gegenständliche  BcAveggründe  zurückführen  dürfen. 
Die  ältesten  Darstellungen  vegetabilischer  Motive,  die  Avir  heute  kennen, 
finden  sich  auf  Kunstwerken  aus  der  Zeit  des  Alten  Reiches  von  Egypten. 
Bei  dem  eminent  gegenständlichen  Charakter,  Avelcher  aller  altegyptischen 
Kunst  und  insbesondere  derjenigen,  die  uns  in  den  Gräbern  aus  dem  Alten 
Reiche  entgegentritt,  eigen  gcAvesen  ist,  Averden  Avir  auch  die  bezüglichen 
Pflanzendarstellungen  nicht  als  blosse  Ornamente,  sondern  als  religiöse 
Symbole  aufzufassen  haben.  Um  ihrer  selbst  Avillen  dürften  Avir  die- 
selben somit  in  dem  Capitel  über  das  Pflanzenornament  unberück- 
sichtigt lassen.  Wenn  Avir  trotzdem  die  Betrachtung  der  altegyptischen 
Pflanzenmotive  zum  Ausgangspunkte  unserer  gesammten  Darstellung 
machen,  so  geschieht  dies  um  der  nachfolgenden  rein  ornamentalen  Ent- 
Avickluug  willen,  die  sich  nachAveislich  an  diese  Motive  geknüpft  hat. 

Jedes  religiöse  Symliol  trägt  in  sich  die  Prädestination,  um  im  Laufe 
der  Zeit  zu  einem  vorwiegend  oder  lediglich  dekorativen  Motive  zu 
Averden,  sobald  es  nur  die  künstlerische  Eignung  dazu  besitzt.  Die 
fortgesetzte   überaus   häufige  AuAvendung,    die   infolge   ihrer  Heiligung 


44  Die  Anfänge  des  Pflanzenornaments  etc. 

stereotyp  geAvordene  äussere  Form,  die  -Vustuliruiiii'  in  verschiedenen 
^laterialien,  alles  dies  trägt  dazu  bei,  das  betreffende  Symbol  dem 
Mensehen  vertraut  und  dessen  Anblick  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
unentbehrlich  zu  machen.  Der  naive  Glaul)t'  der  Alton  kam  diesem 
Process  ganz  besonders  zu  Hilfe.  Mau  trug  das  Symbol  auf  den 
Kleidern,  den  Geräthen,  überliaui>t  auf  Dingen,  die  Einem  möglichst 
oft  zu  Gesichte  kamen.  Es  gal)  fast  keinen  Gegenstand  im  Haushalte 
der  alten  Egypter,  an  dem  sie  nicht  den  Lotus  angebracht  hätten.  Die- 
jenigen Völker,  die  die  Symbole  von  den  Egyptern  übernahmen,  Avaren 
in  ihrer  Anschauung  von  denselben  —  nach  dem  freien  Gebrauche,  den 
sie  in  der  Regel  davon  gemacht  haben,  zu  seiiliessen  —  nicht  mehr 
von  den  gleichen  hieratisclien  Vorstellungen  befangen.  Die  symbolische 
Bedeutung  des  Lotus  lockert  sich  zusehends  bei  Assyrern,  Phönikern, 
Griechen;  die  Summe  der  ganzen  Entwicklung  erscheint  gezogen  in  der 
hellenistisch-römischen  Kunst,  deren  dekorativer  Apparat  zum  aller- 
grössten  Theile  im  letzten  Grunde  von  dem  altorientalischen  Symbo- 
lismus bestritten  ist.  Nur  haben  die  Griechen  aus  diesem  letzteren  mit 
ihrem  vollendeten  Sinn  für  das  Kunstschöne  bloss  jene  Motive  ausge- 
wählt, die  in  der  That  einer  küiistlerisehen  Fortbildung  und  Ausge- 
staltung fähig  waren-). 

Dafür,  dass  die  bezüglichen  Pflanzenmotive  wenigstens  zum  über- 
wiegenden Theile  schon  von  Haus  aus  die  Befähigung  zu  einer  künst- 
lerischen Ausgestaltung  an  sich  trugen,  war  von  der  altegyptischen 
Kunst  selbst  genügend  vorgesorgt.  Schon  von  Seiten  dieser  ersten 
pflanzenbildenden  Kunst  erhielten  die  pflanzlichen  Vorbilder  bei  der 
Übertragung  auf  die  Fläche  (mittels  des  Relief  en  creux  Avie  mittels 
der  Malerei)  die  nothwendig(,'  Stilisirung.  Das  maassgebende  Postulat 
bei  dieser  letzteren  Avar  Aviederum  die  Symmetrie.  Das  Motiv  hatte  zwar 
um  seiner  gegenständlichen  Bedeutung  AA'iJlen  Darstellung  gefunden, 
aber  diese  Darstellung  sell)St  erfolgte  unter  strenger  Berücksichtigung 
derjenigen  primitiven  künstlerisclien  Postulate,  die  schon  dem  rein  deko- 
rati\''en,  dfin  bloss'^ii  ['.idürfiiiss  des  Selimüekeiis  dicin  ndcn  Kunstschaffen 
zu  Grunde  g<  l<'g<ii  Avan-n.  Die  Altegyi)t<'i"  s<dl)si  mussicn  das  künst- 
lerisch durchgebildete  Symbol  zugleich  als  Sclnuuck  empi'unden  liaben. 
Umsomehr  die  auf  niedrig«ii  r  Kulturstufe  a  «iliaiTi  udcu  Völker,  die  im 
Lauf«-    der  Zeit  mit   difscu  Sxiiiholiii   lickniini    wnrdru.      Besassen  die- 


■-;    So  die  Palinett(;ii,  Spldiigi-n,  Kentauren,  nicht  aber  die  tliieiliiiuptiyen 
Götter,  die  Skarabiien  u.  df;l. 


Die  Anfänge  des  Pflanzenornaments  etc.  45 

selben  —  wie  wir  annehmen  dürfen  —  bis  zu  dem  Zeitpunkte  ilirer 
Berührung'  mit  der  egyptischen  Kultur  kein  eigenes  vegetabilisches 
Schmuckmotiv,  so  lernten  sie  nunmehr  eines  kennen,  das  sie  sich  fürder 
entweder  im  Handel  erwerben  oder  selbst  kopirend  nachbilden  konnten. 
Aus  der  eigenen  Flora  ein  Motiv  sich  mit  Mühe  heraus  zu  stilisiren, 
daran  hat  Avohl  Niemand  gedacht,  sobald  er  ein  fertiges  Motiv  von  an- 
derer Seite  her  empfingt).  Aus  dem  gleichen  Grunde  gebrauchen  wir 
doch  heute  noch  in  unserer  dekorativen  Kunst  überwiegend  die  über- 
lieferten antiken  Motive,  obzwar  wir  Ornamentzeichner  und  Entwerfer 
besitzen,  Avie  sie  das  Alterthum  gar  nicht  gekannt  hat*). 

Die  Altegypter  haben,  so  viel  wir  sehen,  zuerst  eine  monumentale 
Kunst  ausgebildet,  und  für  die  übrigen  Völker  des  Alterthums  deren 
Geschichte  parallel  mit  derjenigen  des  pharaonischen  Egypten  läuft, 
beginnt  die  Kunstgeschichte  mit  dem  Momente,  in  dem  sie  in  eine  nähere 
Beziehung  zur  egyptischen  Kunst  getreten  sind.  Dieser  Moment  lässt 
sich  zwar  nicht  in  einem  Falle  genau  zeitlich  bestimmen;  aber  die 
Thatsache  selbst  lässt  sich  kaum  mehr  bestreiten,  angesichts  der  fun- 
damentalen Verbreitung,  welche  gerade  die  typischen  dekorativen 
Formen  der  egyptischen  Kunst  bei  den  übrigen  ältesten  Kulturvölkern 
des  Alterthums  gefunden  haben.  Damit  ist  auch  die  grundlegende  Be- 
deutung, die  Avir  den  altegyptischen  Pflanzenmotiven  für  alle  nach- 
folgende Pflanzenornamentik  eim'äumen  müssen,  genügend  charakterisirt. 

Aus  dem  Gesagten  folgt  aber  noch  nicht,  dass  Avir  alle  durch  die 
altegyptischen  Denkmäler  überlieferten  Darstellungen  vegetabilischen 
Inhalts  in  unsere  Betrachtung  Averden  einbeziehen  müssen.  In  der 
gegenständlichen  egyptischen  Kunst  finden  wir  vielfach  Nachbildungen 
von  Pflanzen,  namentlich  A^on  Bäumen  (Tell-el-Amarna) ,  denen  augen- 
scheinlich keine  symbolische  Bedeutung  beigelegt  wurde  und  an  die 
sich  daher  auch  keine  ornamentale  Fortbildung  geknüpft  hat.  üeber- 
haupt  ist  es  nicht  so  sehr  die  Pflanze  als  Ganzes,   als  Baum  oder  als 


^)  Man  braucht  also  gar  nicht,  ^\ie  Goodyear  thut,  einen  religiösen  Sym- 
bolismus, sei  es  den  Sonnenkult  oder  einen  anderen  zu  Hilfe  zu  rufen,  um 
die  Verbreitimg  altegyptischer  Kunstmotive  in  der  ganzen  frühantiken  Welt 
zu  erklären.  Hierzu  genügt  allein  schon  der  im  Menschen  allmächtige  Trieb 
des  Nachahmens,  Nachbildens,  Nachformens. 

■*)  Das  bCAvusste  Heranziehen  der  heimischen  Flora  zu  dekorativen 
Zwecken  ist  ein  echt  moderner  Zug,  und  charakterisirt  in  ganz  besonderem 
Maasse  die  Art  unseres  heutigen  Kunstschaffens ;  nichtsdestoweniger  be- 
herrschen noch  heute  der  Akanthus  und  die  klassischen  Blüthenprofile  alle 
vegetabilische  Ornamentik. 


4(3  Die  Anfänge  des  Pflanzenornanients  etc. 

Strauch,  oder  selbst  als  niedriges  Zierblumengewächs,  sondern  vielmehr 
deren  einzelne  Theile,  Blüthe  oder  Blatt,  die  man  zu  Symbolen  ver- 
wendet hat.  Wir  werden  sehen,  dass  solche  Theile  schon  in  den 
ältesten  Denkmälern  der  egyptischen  Kunst  mehrfach  bis  zur  Unkennt- 
lichkeit stilisirt  gewesen  sind:  trotz  ihrer  Verwendung  in  gegenständ- 
lichem Sinne  trugen  sie  somit  bereits  damals  in  sich  den  siclieren  Keim 
späterer  ornamentaler  Bedeutung  und  Fortbildung. 

Der  künstlerisch  wichtigste,  Aveil  vollendetste  Theil  eines  Pflanzcn- 
gebildes  ist  die  Blüthe  mit  ihrer  farbenprächtigen  Krone,  die  sich  in 
der  Regel  aus  dem  Kelche  strahlenftirmig  entwickelt.  Die  Vorstufe  zur 
Blüthe  bildet  die  in  der  Regel  sjutz  zulaufende  und  darum  zur  Bekrö- 
nung  geeignete  Knospe;  der  dritte  wichtige  Theil  ist  das  Blatt.  Die 
Frucht  tritt  dagegen  im  ältesten  Symbolismus  und  daher  auch  in  der 
ältesten  Ornamentik  merklich  zurück;  die  nächstliegende  Erklärung  für 
diese  bemerkenswerthe  Thatsache  mag  zum  Theil  vielleicht  darin  zu 
suchen  sein,  dass  die  Frucht  wegen  ihrer  wenig  gegliederten,  oft 
asymmetrischen  Form  sich  der  künstlerischen  Nachbildung  nicht  sonder- 
lich empfahl. 

Ein  selir  wichtiges  Element  in  der  Pflanzendnrstellung,  insbesondere 
mit  Rücksicht  auf  die  spätere  ornamentale  EntAvicklung,  ist  endlich  der 
Stiel.  Durch  den  Stiel  Avird  es  nämlich  erst  möglich  die  einzelnen 
Blüthen,  Knospen  und  Blätter  untereinander  in  Verl)indung  zu  setzen: 
diese  Verbindung  ist  aber  hinwiederum  die  Vorbedingung  für  eine 
zusammenhängende  Ausfüllung  sei  es  bandartiger  Streifen,  sei  es  decken- 
artiger Flächenfelder  mit  vegetabilischen  Motiven.  Der  Stiel  tritt  uns 
nun  in  der  altegyptischen  Kunst  überwiegend  nicht  als  ein  der  Wirklich- 
keit nachgezeichnetes  Gebilde,  sondern  als  ein  lineares,  geometrisches 
Element  entgegen.  Dadurch  Avar  er  von  Aornherein  befähigt,  alle  die 
geschwungenen  und  gerollten  Formen  anzunehmen,  die  den  rein  geo- 
metrischen, aus  Curven  gebildeten  Configurationen  zu  Grunde  liegen. 
Hiernach  erscheint  der  Stiel  als  ein  ganz  besonders  Avichtiger  Faktor 
für  die  zunelmiend  ornamentale  Ausgestaltung  dei-  ursi)rünglich  gegen- 
ständlich-symbolischen Plianzenmotive.  So  AA-erden  wir  frühzeitig  in 
der  altegyptischen  Kunst  Verbindungen  von  Blütlien  und  lUätteru 
mittels  der  Stiele  beobachten  können ,  Avie  sie  in  der  Natur  an  den 
betreff'enden  Pflanzen  keinesAvegs  vorkommen,  un<i  nur  als  eine  Ver- 
fjuickung  geom<-trischer  Kunstformen  mit  AM-getaliilisch-gegenständlichen 
aufgefasst  werden  können. 

Unsere  Aufgabe  Avird  es  also  sein   iinn-rliall)  i'inrs  Jcilrn  Stiles  den 


Die  Anfänge  des  Pflanzenornaments  etc.  47 

wir  in  unsere  Betrachtung-  einbeziehen  werden,  zuerst  die  darin  vor- 
kommenden Blüthen-  (Knospen-  und  Blatt-)  Formen  für  sich  vorzu- 
nehmen, und  sodann  die  Art  ihrer  Verbindung"  untereinander  zum 
Behufe  der  Flächenfüllung  zu  untersuchen.  Nach  beiden  Eichtungen 
wird  sich  ein  zusammenhängender  historischer  Faden  von  der  ältesten 
egyptischen  bis  auf  die  hellenistische  Zeit  verfolgen  lassen,  d.  h.  bis 
zu  dem  Punkte,  da  die  Griechen  die  EntAvicklung  zur  Reife  gebracht 
haben:  indem  sie  einerseits  den  einzelnen  Theilmotiven  den  Charakter 
vollkommener  formaler  Schönheit  zu  verleihen  gewusst,  anderseits  — 
und  das  ist  ihr  besonderes  Verdienst  —  die  gefälligste  Art  der  Verbin- 
dung zwischen  den  einzelnen  ^lotiven  geschaffen  haben,  nämlich  die 
line  of  beauty,  die  rhythmisch  Ijewegte  Bänke.  Chronologisch  genommen 
zerfällt  hiernach  unsere  Untersuchung  in  zwei  Theile:  1.  die  Nach- 
weisung des  Ursprungs  der  in  der  hellenisch-römischen  Universalkunst 
(der  Mittelmeerkunst)  verbreiteten  Pflanzenmotive  in  den  altorientalischen 
Künsten  und  die  Geschichte  ihrer  allmäligen  Ausbildung  in  diesen 
Künsten,  2.  die  Verfolgung  der  Fortbildung  dieser  Motive  durch  die 
Griechen  bis  auf  die  hellenistische  Zeit,  insbesondere  die  Entfaltung 
des  specifisch  griechischen  Motives  der  ornamentalen  Eanke.  In  diesem 
zweiten  Theile  wollen  wir  unsere  eigentliche  Hauptaufgabe  erblicken, 
zu  der  sich  der  erste  Theil  bloss  als  eine  möglichst  knapp  gefasste 
Einleitung  verhalten  soll. 

Wir  werden  da  eine  fortlaufende  Entwicklung  kennen  lernen,  die 
auf  ihren  eigenen  Spuren  einhergeht.  Um  einer  symbolischen,  gegen- 
ständlichen Bedeutung  Avillen  mögen  die  ersten  Pflanzenformen  in  die 
Kunst  gekommen  sein.  An  diese  Typen,  und  im  Wesentlichen  bloss 
an  diese  wenigen  Typen,  knüpft  die  Aveitere  Fortbildung  an;  an  eine 
neuerliche  Heranziehung  bestimmter  Pflanzen  in  ihrer  natürlichen  Er- 
scheinung dachte  zunächst,  und  noch  Jahrtausende  darüber  hinaus, 
Niemand.  Sogar  als  die  deutliche  Tendenz  hervortrat,  die  solchermaassen 
nahezu  geometrisirten  pflanzlichen  Ornamentformen  wieder  dem  natür- 
lichen Pflanzenhabitus  näher  zu  bringen,  erfolgte  dies  zunächst  nicht  in 
dem  Wege  einer  realistischen  Nachbildung  leibhaftiger  Pflanzen,  sondern 
im  Wege  allmäliger  leiser  Naturalisirung ,  Belebung  der  überlieferten 
Pflanzenornamente.  Die  Schlüsse,  die  sich  aus  dieser  Beobachtung  für 
die  Geschichte  der  Ornamentik  im  Allgemeinen  ergeben,  liegen  auf  der 
Hand.  Darin  beruht  nicht  zum  Geringsten  die  Bedeutung,  die  wir  den 
in  diesem  Capitel  zu  behandelnden  Fragen  beizumessen  uns  für  berech- 
tigt halten. 


48 


A.    Altorientalisches. 


A.  Altorientalisiiehes. 

1.    Egyptisches. 

Die  Schaffung-  des  Pflanzenoriiameuts. 

ZavcI  Pflanzen  sind  es,  die  man  bisher  als  untrennbar  von  aller 
egyptisehen  Kultur  gx'halten  hat  und  die  man  auch  in  der  bilden- 
den Kunst  der  Altegypter  als  die  gebräuchlichsten  Symbole  überall 
an  den  Denkmälern  wiederzufinden  glaubte:  der  Lotus  und  der  Pa- 
pyrus. Hinsichtlich  der  kulturellen  Bedeutung  dieser  beiden  Pflanzen 
für  die  alten  Egj^pter  hatte  man  eine  kostbare  Stütze  an  dem  Be- 
richte, den  uns  Herodot  über  die  Stellung  derselben  im  Haushalte 
der  Egypter  hinterlassen   hat.     Und  auch  auf  Kunstdenkmälern  lagen 


Fig.  7. 
I.otusblüthe  in   Profilansicht. 


Fig.  8. 
Lotusblüthe  in  Profilansiclit  (sogen.  Papyrus). 


zwei  in  die  frühesten  Zeiten  zurückreichende,  stilisirte  Blumenprofile 
vor,  von  denen  das  eine  mit  deutlich  ausgeprägten  dreieckigen  Blättern 
(Fig.  7)  mit  dem  Lotus,  das  andere,  glockenföi-migc,  ohne  Andeutung 
von  Blättern,  mit  dem  Papyrus  (Fig.  8)  identificirt  wurde.  In  der 
That  zeigt  die  Blüthenkrone  derjenigen  Pflanzenspecies,  die  man  bisher 
für  den  Lotus  der  Altegypter  angesehen  hat,  einen  Kranz  von  drei- 
eckigen Blättern.  Die  Papyruspflanze  dagegen  ist  bekrönt  von  einem 
Wedel,  dessen  einzelne,  haarförmige  Halme  nach  allen  Seiten  strahlen- 
artig auseinanderfalleii;  da  aber  die  realistische  Wiedergabe  eines 
solchen  zerflatternden  Gebildes  einer  noch  unperspektivisclien,  mit 
Umrisszeichnungen  in  der  Fläclie  opcrinnden  Kunst  geradezu  unmög- 
lich gewesen  sein  mochte,  nahm  man  an,  dass  der  egyptischo  Künstler 
sich  die  Halme  des  Wedels  in  einen  glockenförmigen  Schopf  zusammen- 
gefasst  dachte,  dessen  kompakte  Masse  sich  dann  unschwer  von  einem 


1.    Egyptisches.  49 

festen  Kontui'  umschreiben  liess.  Eine  entscheidende  Eolle  hei  dieser 
Zuweisung  der  Profile  an  Lotus  und  Papyrus  spielte  ein  angeblicher 
Symbolismus  des  Papyrus  für  das  sümpfe-  und  schilfreiche  Delta,  des 
Lotus  für  das  trockene  Oberegypten. 

Innerhalb  der  Kunst  des  Alten  Reichs  Hessen  sich  die  beiden  Profile 
leidlich  streng  auseinanderhalten.  In  der  Kunst  des  Neuen  Reichs 
aber,  dessen  Zeitstellung  gleichwohl  im  Verhältniss  zu  den  übrigen  uns 
bekannt  gewordenen  Künsten  der  antiken  Kulturvölker  noch  als  eine 
weit  zurückliegende  gelten  darf,  kam  man  mit  einer  absoluten  Schei- 
dung der  beiden  Grundtypen  von  einander  nicht  mehr  aus.  Dies  ist 
auch  den  Forschern  nicht  entgangen,  die  sich  bisher  der  Mühe  unter- 
zogen haben  den  altegyptischen  Denkmälern  vom  kunsthistorischen 
Standpunkte  aus  näherzutreten;  doch  wagte  Niemand  an  der  Stich- 
haltigkeit der  Scheidung  selbst  zu  rütteln.  Bezeichnend  hiefür  ist  die 
Haltung  von  G.  Perrot,  dem  wir  doch  bisher  die  einzige  wahrhaft 
wissenschaftliche  Gesammtbearbeitung  der  altegyptischen  Kunstgeschichte 
verdanken.  Auch  dieser  Forscher  wusste  sich  keinen  Rath,  w^enn  er 
z.  B.  Papyrusprofile  von  Glockenform,  aber  mit  dreiblättrigem  Lotus- 
kelch versehen,  vorfand;  er  behalf  sich  in  solchem  Falle  mit  der  aus- 
weichenden Bezeichnung:  Wasserpflanzen^),  womit  sowohl  Lotus  als 
Papyrus  gemeint  sein  konnte.  Ich  w-ar  geneigt  mir  den  Sachverhalt 
so  zu  erklären,  dass  in  der  Kunst  des  Neuen  Reichs  eine  auch  an 
vielen  anderen  Motiven  nicht  zu  verkennende  Tendenz  zur  ornamen- 
talen Behandlung  der  überkommenen  Sjnnbole  allmälig  zu  einer  Ver- 
mengung des  Lotus-  mit  dem  Papyrustypus  geführt  haben  mochte.  Dies 
hätte  freilich  auch  eine  Vermengung  der  beiden  Symbole  in  der  religiösen 
Anschauung  der  Egypter  des  Neuen  Reichs  zur  Voraussetzung  haben 
müssen,  und  darin  lag  für  mich  das  Unbefriedigende  meiner  eigenen 
Erklärung,  weil  aus  den  bisherigen  Arbeiten  der  Egyptologen  kein 
Zeuguiss  für  eine  solche  Wandlung  der  religiös-symbolischen  Begriffe 
zu  ersehen  Avar. 

W.  G.  Goodyear 6)  w^ar  es  nun,  der  die  Frage  jüngst  in  der  Weise 
zur  Entscheidung  gebracht  hat,  dass  er  die  Identificirung  des  Glocken- 
typus mit  dem  Papyrus  als  auf  einem  Irrthume  beruhend  nachweist, 
und  denselben  ebenso  für  den  Lotus  in  Anspruch  nimmt  wie  den  Typus 


'")  Histoire  de  l'art  dans  l'antiquite  I.  S.  845  Fig.  586. 
^)  The  grammar   of  the  lotus,   a  new  history  of.  classic  ornament  as  a 
development  of  sun  worship.     London,  Sampson  Low,  Marston  &  Co.  1891. 

Riegl,  Stilfragen.  4 


5( )  A.    Altovientalisches. 

mit  den  dreieckigen  Blättern').  Das  Hauptarg'ument  in  seiner  Beweis- 
führung bildet  der  Hinweis  auf  den  Umstand,  dass  die  Hieroglyphe 
mit  der  Gloekenbekrönung  keineswegs  zwingend  als  Papyrus  inter- 
prctirt  werden  mnss,  und  dass  die  auf  das  Papyrusland  Unteregypten 
bezogene  Bekronung  nicht  bloss  auf  dem  angeblichen  Papyrus,  sondern 
auch  auf  ausgesprochenem  Lotus  mit  dreispaltigem  Profil,  also  auf  dem 
vermeintlichen  Repräsentanten  von  Oberegypten  vorkommt.  Damit 
Avaren  die  in  der  Eg^^ptologie  wurzelnden  Hmdernisse,  über  Avelche  die 
Nichtegyptologen  nicht  hinweg  konnten,  hinweggeräumt  und  der  kunst- 
historischen Forschung  der  Weg  geebnet,  um  das  Verhältniss  der  beiden, 
dieselbe  Blumenspecies  symbolisirenden  Typen  zu  einander  zu  klären. 
Aber  noch  eine  weitere  fundamentale  Aufklärung  verdanken  wir 
dem  genannten  amerikanischen  Forscher.  Wie  sich  aus  seinen  Aus- 
führungen'a)  überzeugend  ergiebt,  hat  man  bisher  das  Lotnsmotiv  der 
altegyptischen  Kunst  beharrlich  mit  einer  Pflanzenspecies  als  angeb- 
lichem Vorbild  identificirt,  die  in  Jenen  bildlichen  Darstellungen  gar 
nicht  gemeint  ist.  Es  ist  dies  die  Species  Nymphaea  Nelumbo 
(oder  Xelumbium  speciosum),  die  streng  genommen  gar  nicht  zur 
botanischen  Gruppe  des  Lotus  gehört.  Den  Irrthum  hat  in  letzter  Linie 
Herodot's  Bericht  verschuldet,  der  von  einer  in  Egypten  sehr  populären 
Lotusgattung  berichtete,  dass  deren  Samen  essbar  wären.  Dies  stimmt 
nun  allerdings  nur  für  die  erwähnte  Species,  die  aber  in  Egypten  nicht 
heimisch,  heute  daselbst  gar  nicht  zu  finden  ist,  dagegen  in  Indien 
hauptsächlich  gedeiht  und  von  dort  in  das  altegyptische  Reich  für  eine 
gewisse  Zeit  verpflanzt  worden  sein  mochte,  bis  dieselbe  Mangels  fort- 
gesetzter Kultur  wieder  vom  Boden  des  Nilthals  verschwand.  Der 
wirkliche  heilige  Lotus  dagegen,  der  noch  heute  in  Egypten  gedeiht, 
ist  die  Nymphaea  Lotus  (weisser  Lotus),  von  dem  auch  eine  blaue 
Abart  (Nymphaea  caerulea)  existirt.  Auch  diesbezüglich  Avürde  es  zu 
weit  führen  die  ganze  Beweisführung  Goodyear's  hierher  zu  setzen, 
und  ich  beschränke  mich  daher  nur  auf  die  Hervorhebung  des  über- 
zeugendsten Punktes,  nämlich  der  Uebereinstimmung  des  Lotusblattes 
CFig.  9),  wie  es  an  den  Kunstdenkmälern  typisch  wiederkehrt,  mit  der 
gespaltenen  Blattform  von  Nymphaea  Lotus,  wogegen  die  Trichterform 
des  Blattes  von  Neluinliinm  speciosum  sicli  ;nil'  keine  Weise  —  man  mag 
selbst   eine  noch   so  wimdei-liche  Projektion   d<'s   Blattes  in    der   künst- 


7)  a.  a.  O.  43  ff. 
7»)  a.  a.  0.  S.  2r)  ff. 


1.    Egyptisclies. 


51 


lerischen  Anschauung-  der  cältesten  Egyi)ter  für  die  Erklärung  zu  Hilfe 
nehmen  —  mit  dem  Blatttypus  der  Denkmäler  vereinigen  lässt^). 

Von  den  einzelnen  Theilen  der  Lotuspflanze,  die  in  der  bildenden 
Kunst  des  alten  Egyptens  zur  Darstellung  gelangt  sind,  nimmt  weitaus 
das  grösste  Interesse  die  Blüthe  in  Anspruch.  Wir  wollen  daher  die 
minder  wichtigen  Theile,  Knospe  und  Blatt,  gleich  Eingangs  abthun, 
um  später  nicht  mehr  darauf  zurückkommen  zu  müssen.  Das  Charak- 
teristische des  Lotus-Blattes  (Fig.  9)  ist,  wie  oben  erwähnt  wurde,  der 
Spalt,  der  oft  nahezu  bis  zur  Mitte  des  Blattes  reicht.  Die  Grundform 
lässt  sich  am  besten  einer  Schaufel  vergleichen;  die  dem  Spalt  entgegen- 
gesetzte Seite  ist  zumeist  im  Halbkreis  abgerundet,  doch  läuft  sie  nicht 
selten  auch  in  eine  Spitze  aus,  die  gelegentlich  sogar  etwas  geschweift 
erscheint.     In    dieser   letzteren  Form,  die  mit  dem  Epheublatt  grosse 


Fig.  10. 
Lotusknospe. 

Aehnlichkeit  zeigt,  wäre  das  ■  Blatt  in  die  griechische  Kunst  über- 
gegangen, sofern  nämlich  Goodyear  Recht  hat,  indem  er  das  mykenische 
Epheublatt  als  Nachbildung  des  zugespitzten  egyptischen  Lotusblattes 
erklärt.  Was  mich  zögern  lässt,  dieser  Meinung  Goodyears  schlankweg 
beizustimmen,  ist  der  Umstand,  dass  das  Epheublatt  in  der  mykenischen 
Kunst  in  solchen  Verbindungen  auftritt,  wie  sie  der  egyptischen  Kunst 
fremd,  für  die  spätere  hellenische  aber  charakteristisch  gewesen  sind. 
Hiervon  wird  übrigens  im  Capitel  über  die  mykenische  Pflanzenorna- 
mentik noch  im  Besonderen  zu  handeln  sein. 


^)  Die  hellenistisch-römische  Kunst  in  ihrer  naturalisirenden  Tendenz  hat 
dagegen  auch  das  Nelumbium  speciosum,  die  essbare,  von  Herodot  erwähnte 
Species  dargestellt,  wie  die  pompejanischen  Nil-Mosaiken  in  Neapel  zeigen: 
geschuppte  Knospen,  Fruchtknoten  in  Form  eines  Spritzkannen-Siebes,  und 
die  Trichterblätter  in  nahezu  perspektivischer  Projektion. 

4* 


52  -A-.    Altorientalisches. 

Die  Lotus-Knospe  in  der  egyptisclien  Kunst  zeigt  die  typische 
Form  eines  Tropfens  {Fig.  10) ,  und  ist  häutig-  ohne  alle  Gliederung- 
l^elassen.  In  der  Natur  ist  der  innere  Kern  der  Knospe  von  Nyniphaea 
lotus  umschlossen  von  vier  gieiehlangen  Blättern,  die  denselben  voll- 
ständig einhüllen..  Die  Lotusknospe  ist  am  häufigsten  alternirend  mit 
der  Lotusblüthe  (Fig.  11)  dargestellt.  Die  beiden  Motive  —  Blüthe 
und  Knospe  —  sind  neben  einander  gereiht ;  die  Blüthen  sind  das  grössere 
Motiv  und  ihre  weit  ausladenden  Kelchblätter  schlagen  oft  von  beiden 
Seiten  über  der  dazwischen  stehenden  Knosj>e  zusammen.  Dass  in  den 
Lotusblüthen-Knospen-Eeihen  der  Ausgangspunkt  für  das  griechische 
Kyma  un<l  den  Eierstab  zu  suchen  ist,  wurde  schon  öfter  bemerkt, 
und  auch  neuerlich  von  Goodyear-')  ausführlich  begründet.  Die  Lotus- 
knospe kommt  aber  auch  ohne  Begleitung  der  Blüthe  vor,  und  zwar  ent- 
weder vereinzelt,  oder  in  stetiger  Wiederholung  gereiht;  sie  dient  dann 


Fitr.  11. 
Keihung  von  alteniirenden  LotiisbUithen  uud  Knospen. 

in  der  Regel  zur  Bekrönung  eines  Schaftes  (Säule)  oder  eines  horizon- 
talen Gebälkes.  Eine  nähere  Erklärung  für  diese  Funktion  wird  sich 
bei  Betrachtung  des  Lotuskapitäls  ergeljen. 

Die  Lotus-Blüthe  tritt  uns  in  der  altegyptischen  Kunst  in  allen 
drei  Projektionen  entgegen,  in  denen  überhaupt  Blüthenformen  dar- 
gestellt worden  sind,  so  lange  die  Kunst  in  der  Wiedergabe  von  Pflanzen 
auf  dem  Standpunkte  der  Flachstilisirung  stehen  geblieben  war.  Es 
sind  dies  1.  die  Vollansicht  (en  face),  2.  die  Seitenansicht  (en  profil), 
3.  die  halbe  Vollansicht  (en  demiface). 

Die  Lotusl)lüthe  in  der  Vollansicht  ist  die  Boseüc.  (Fig.  12.) 
Goodyear'*')  hält  sie  zwar  fiir  eine  Nachbildung  des  Fruchtknotens  von 
Nymp)haea  lotus,  der  in  der  That  eine  ähnliche  Zeichnung  zur  Schau 
trägt.     .\ber  späterhin   verstand   man  unter  der  Ro-sette  immer  zweifel- 

'■')  a.  a.  0.  S.  ir)5  ff.  Goodyear  liat  hiebe!  hauptsächlich  das  dorische 
Kyma  im  A-Ufre.  Vom  Icshischcn  läs.st  es  sicli  aber  i>-leichfalls  naclnveiscn: 
man  betrachte  bloss  Prisse  d'Avcnncs,  L'art  eg-vptieii,  Frises  (leuronnecs, 
Fig.  5  und  6. 

'°)  a.  a.  0.  103. 


1.    Egyptisches.  53 

los  die  vollentfaltete  Blumenkrone  und  es  ist  nicht  einzusehen,  warum 
das  künstlerisch  Bestechende  dieser  Projektion,  die  centrale  Contigura- 
tion  der  strahlenförmig  zusammengesetzten  Blättchen,  sich  nicht  auch 
schon  den  alten  Egyptern  in  höherem  Maasse  aufgedrungen  haben 
sollte,  als  der  Fruchtknoten  der  abgewelkten  Blume.  Goodyear  stützt 
seine  Meinung  hauptsächlich  darauf,  dass  sich  neben  spitz  auslaufenden 
Blättchen,  wie  sie  der  Lotusblüthenkrone  entsprechen,  auch  umgekehrt 
solche  in  Tropfenform,  mit  dem  stumpfen  Ende  nach  Aussen  (Fig.  12) 
finden"),  in  welcher  Form  sie  den  Blättchen  auf  dem  vorerwähnten 
Fruchtknoten  sehr  ähnlich  sehen.  Dass  auch  im  letzteren  Falle  ein  Pro- 
dukt der  Lotuspflanze  gemeint  ist,  bcAveisen  die  Denkmäler,  an  denen  das 
Motiv  als    gleichwerrhig  mit  unzweifelhaften  Lotusmotiven   vorkommt. 


Fig.  12. 
Stnmpfblättrige  Lotusblüthe   in  A'ollansicht   (Rosette). 

Wir  werden  aber  die  Bildung  mit  abgestumpften  Blättern  eher  als  eine 
blosse  Variante  der  spitzblättrigen  Blüthe  zu  erklären  haben,  Avie  sie 
sich  im  Gefolge  der  typischen  Ausgestaltung  des  centralen  Rosetten- 
motivs von  selbst  eingestellt  haben  mochte,  indem  das  Hauptgewicht 
auf  den  radianten  Blattkranz,  und  nicht  auf  die  Zeichnung  der  einzelnen 
Blätter  gelegt  wurde.  Goodyear  hat  übrigens  selbst  die  Möglichkeit 
eingeräumt,  die  Rosette  als  Lotusblüthe  in  Vollansicht  zu  erklären ;  dass 
er  sich  schliesslich  für  den  Fruclitknöten  als  das  Vorbildliche  entschied, 
hängt  mit  der  ausgesprochenen  Tendenz  dieses  Autors  zusammen,  mög- 
lichst viel  aus  sinnenfälligen  und  möglichst  wenig  aus  künstlerischen 
Prämissen  abzuleiten. 

Die  Rosette  findet  sich,  sow^eit  unsere  Denkmälerkunde  heute  reicht, 
erst  in  der  Kunst  des  Neuen  Reiches  häufiger  angewendet.    Gleichwohl 


^')  Zusammengestellt  bei  Goodyear  Taf.  XX. 


54  A.   Altorientalisches . 

besitzen  "wir  Avenigstens  ein  Beispiel  dafür  ans  dem  Alten  E eiche,  näm- 
lich die  Statue  der  Xofret'-),  deren  Diadem  mit  Rosetten,  und  zwar  vom 
Typus  mit  stumpf  auslaufenden  Blättern,  verziert  ist.  Besonders  charak- 
teristisch ist  die  Rosette  späterhin  für  die  Ornamentik  der  assyrischen 
Kunst  geworden. 

Ich  kann  Ludwig  v.  Sybel'^)  nicht  beipflichten,  der  darum  die 
Rosette  den  Egyptern  von  den  Semiten  aus  Asien  zugebracht  sein  lässt. 
Das  Xeue  thebanische  Reich  beginnt  zu  einer  Zeit,  aus  der  uns  die 
Existenz  einer  Pflanzenornamentik  weder  von  der  chaldäischen  noch  von 
irgend  einer  anderen  asiatischen  Kunst  durch  sichergestellte  Denkmäler 
bezeugt  ist.  Die  Möglichkeit,  dass  die  Chaldäer  bereits  im  IG.  und 
17.  Jahrh.  v.  Chr.  die  Rosette  ornamental  verwendet  haben,  soll  ja 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden.  Aber  der  Umstand  allein,  dass  die 
Rosette  im  Alten  Reiche  noch  nicht  öfter  nachzuweisen  ist  und  ander- 
seits in  der  späteren  mesopotamischen  Kunst  eine  Hauptrolle  spielt, 
reicht  noch  nicht  aus,  um  ihren  asiatischen  Ursprung  auch  für  die 
egyptische  Kunst  zu  beweisen.  Einer  solchen  Annahme  widerspricht 
sclion  der  Charakter  der  Altegypter,  ihr  stolz  ablehnendes  Verhalten 
gegen  alles  Fremde,  in  ihren  Augen  Barbarische.  Mit  der  siegreichen 
Xcuaufrichtung  der  nationalen  Sell)Ständigkeit  nach  der  Vertreibung 
der  Hyksos  scheint  eben  ein  intensiver  Kulturaufschwung  Hand  in  Hand 
gegangen  zu  sein,  der  auch  zu  gesteigertem  Schaffen  auf  dem  Gebiete 
der  dekorativen  Formen  angeregt  haben  mochte.  Das  ganze  Kunstleben 
der  Egypter  in  der  Zeit  der  Thutmessiden  und  Ramessiden  zeugt  von 
einer  tief  greifenden  Neubelebung.  Die  Erklärung,  die  Sybel  hierfür 
hat:  eine  vorgebliche  Befruchtung  eg5q)tischer  Trockenheit  durch  asia- 
tische Ueberfülle  wird  insolangc  unstichhaltig  bleiben,  als  diese  vor- 
gebliche Ueberfülle  in  der  asiatischen  Kunst  jener  Zeit  nicht  monu- 
mental erwiesen  ist. 

'-;  Maspero,  Egyptisclie  Kunstgeschiclite  S.  21.3  V\g.  1!U. 

")  Kritik  des  egyptischen  Ornaments  S.  17.  Die  nicht  zu  unterschätzende 
Bedeutung  dieses  im  J.  1883  erschienenen  Schriftchens  beruht  darin,  dass  es 
ein  ganz  vereinzelter  Erstlingsversuch  gewesen  ist,  der  Wiclitinkeit  des  Stu- 
diiuns  der  Ornamentik  für  die  Kuiistgescliichte  des  Altertluxnis  gorecht  zu 
werden.  Mit  der  Tendenz  der  Sclirift,  die  neuen  Erscheinungen  in  der  Kunst 
des  zw(!iten  thebanischen  Reiches  auf  asiatische  Einflüsse  zurückzuführen, 
kann  icli  mich  in  keinem  Punkte  einverstanden  erklären.  —  Neuerlich  hat 
licli  auch  Goodyc^ir  (S.  09  ff.)  dagegen  ausgesprochen,  unter  sehr  glücklicher 
Ausführung  seiner,  von  mir  vollstiindi;;-  getlieilten  Meiiuing  üln-r  das  Veiliiilt- 
niss  zwisclien  altegyptischer  und  mesopolanüscher  Kunst. 


1.    Egyptisches.  55 

Weitaus  die  wichtigste  Projelvtion,  in  der  uns  die  Lotusblüthe  in 
der  altegyptischen  Kunst  entgegentritt,  ist  diejenige  in  Seitenansicht. 
Und  zwar  haben  wir  hier  mehrere  Typen  zu  unterscheiden. 

Der,  wo  nicht  älteste,  so  doch  ursprünglich  verbreitetste  Typus 
ist  derjenige,  den  wir  bereits  früher  in  Gegenüberstellung  zum  augeb- 
lichen Papyrus  kennen  gelernt  haben  (Fig.  7).  Typisch  hierfür  sind 
drei  spitze  Kelchblätter,  eines  in  der  Mitte,  zwei  an  den  Seiten,  ent- 
weder geradlinig  oder  —  was  das  Gewöhnlichere  ist  —  in  leise  ge- 
schwungenem Karniesprofil  (Fig.  7)  ausladend.  In  die  spitzen  Winkel, 
oder  dreieckigen  Zwickel,  die  durch  je  zwei  benachbarte  Kelchblätter 
gebildet  werden,  sind  wiederum  ähnliche  spitze  Blätter  eingezeichnet, 
und  in  die  hierdurch  entstandenen  vermehrten  Zwickel  abermals  Blätter 
von  derselben  Form,  aber  entsprechend  kleiner.  Alle  diese  zwickel- 
füllenden Blätter  bilden  zusammen  die  Blüthenkrone,  die  drei  grössten, 
zuerst  erwähnten  Blätter  den  Kelch.  Goodyear  hat  nun  gezeigt  (S.  25flf.), 
dass  von  der  Blüthe  der  Nymphaea  Lotus  in  der  That  bei  der  Betrach- 
tung von  einer  Seite  nur  drei  von  den  vier  grossen  Kelchblättern  zu 
sehen  sind,  und  die  Blätter  der  Krone  in  ganz  ähnlicher,  wechselseitig 
zwickelfülleuder  Weise  wie  in  Fig.  7  innerhalb  des  Kelches  empor- 
ragen. Goodyear  hat  zugleich  auch  nachgewiesen,  dass  das  bisher  irr- 
thümlich  für  das  Vorbild  der  egyptischen  Lotusdarstellungen  gehaltene 
Nelumbium  speciosum  einen  mehr  als  vierblättrigen  Kelch  hat,  und  die 
Blätter  desselben  sich  keineswegs  so  scharf  von  denjenigen  der  Krone 
unterscheiden  lassen,  dass  es  gerechtfertigt  erscheinen  könnte,  darauf 
eine  Stilisirung  zu  basiren,  wie  sie  in  dem  durch  Fig.  7  repräsentirten 
Typus  enthalten  zu  sein  scheint. 

Dieser  Typus  der  Lotusblüthe  in  Seitenansicht  hat  im  Laufe  der 
Zeit  einige  Abbreviationen,  und  in  Folge  dessen  auch  leichte  Verände- 
rungen erfahren.  Es  würde  zu  weit  führen,  dieselben  so  weitgehend 
zu  erörtern,  wie  dies  Goodyear'*)  gethan  hat.  Nur  eine  Abkürzung 
des  Typus  muss  hier  Erwähnung  finden,  da  dieselbe  auf  die  Ausgestal- 
tung des  angeblichen  Papyrus-Typus  nicht  ohne  Einfluss  gewesen  zu 
sein  scheint.  Die  Abkürzung  bestand  darin,  dass  man  bloss  die  drei 
Blätter  des  Kelches  zur  Ausführung  brachte,  diejenigen  der  Blätterkrone 
aber  unterliess  und  sich  damit  begnügte,  diese  letztere  durch  eine  die 
Scheitel  der  drei  Kelchblätter  verbindende  krumme  Linie  zu  bezeichnen. 
(Fig.  13.) 


M)  Vgl.  insbesondere  seine  Taf.  III. 


oü 


A.    Altoi"ientalisches. 


Ein  zweiter  Typus  von  Lotusblüthe  in  der  Seitenansiclit  ist  der 
glockenförmige  (Fig.  8),  den  man  bisher  ausnamslos  auf  den  Papyrus- 
wedel als  vermeintliches  Vorbild  zurückgeführt  hat.  Der  Unterschied 
gegenüber  dem  ersten  Typus  berulit  in  dem  glockenförmigi-n  Profil 
und  in  dem  ursprünglichen  Mangel  jeglicher  Andeutung  von  Blättern. 
Aber  selbst  wenn  wir  die  beiden  Typen  ohne  Zuhilfenahme  eines 
äusseren  vermittelnden  Dritten  nebeneinander  halten,  so  werden  wir 
gewisse  Züge  entdecken,  die  beiden  gemeinsam  sind  und  eine  Brücke 
zwischen  denselben  bilden.  Der  karniesförmige  Schwatng,  der  den  seit- 
wärtigen  Kelchblättern  des  ersten  Typus  so  überaus  häufig  gegeben 
erscheint  (Fig.  7),  bereitet  bereits  vor  auf  den  potenzirten  Schwung, 
als  dessen  Resultat   die  Glockenforni    erscheint.     Und  was   den  Mangel 


Fig.  13. 

Lotusblüthe  in  I'rolilausicht 

mit  schematisch  gezeichneter  Krone. 


Fig.  14. 

Glockenförmiges 

Lotusblüthen-K.apitäl. 


an  Blattzeichnung  am  sogen.  Papyrus-Profil  lietrifft,  so  braucht  nur  auf 
di(;  erwähnte  Al)breviatur  des  ersten  Typus  (Fig.  13)  hingewiesen  zu 
werden,  um  zu  zeigen,  dass  in  der  altegyptischen  Kunst  eine  Tendenz 
vorhanden  Avar,  gelegentlich  die  Details  zu  unterdrücken,  soliald  nur 
die  begrenzenden  Grundlinien  gezogen  waren.  Doch  werden  wir  an- 
gesichts der  Häufigkeit  des  Papyrus-Profils'^)  darauf  bedacht  sein 
müssen,  über  die  vorgebrachten  allgemeinen  Erwägungen  liinaus  nach 
einem  bestimmteren  äusseren  Beweggrund  zu  suchen,  der  zur  Adoi)tion 
des  Glockeni)rofils  für  die  Darstellung  der  Lotusblüthe  in  Seitensicht 
geführt  haben  nioclite. 

Goodyear,    dem    wir    die  Aiilkhiruiig  ülx-r  die  Vorbildlichkeit  des 
Liitiis  jiiistatt  des  Paiixrns    für    die    glockenfürmig(^  Blütlie   verdanken, 


",)  -Nach  Goody<;ir  macht  dasselbe  seit  dem  Alten  Reiche  die  Hälfte  aller 
Lotusdarstellunffen  in  S<:iteiiansicht  aus. 


1.    Egyptisclies. 


57 


hat  auch  für  das  Zustandekommen  dieser  letzteren  Form  eine  selir  an- 
sprechende Hypothese  geliefert.  Er  hat  nämlich'^)  darauf  hingewiesen, 
dass  die  bildnerische  Darstellung  der  Lotusblüthe  als  Kundwerk  in 
hartem  Material  (Stein)  nothgedrungenermaassen  zu  einer  glockenähn- 
lichen Form  ohne  Angabe  von  Blättern  mittels  Skulptur  führen  musste. 
Zum  Beweis  hierfür  citirt  er  das  glockenförmige  Kapital  (Fig.  14),  das 
in  der  That  nichts  anderes  ist,  als  eine  in  EundAverk  übersetzte  Lotus- 
blüthe, an  welcher  die  Blätter  nicht  plastisch  herausgearbeitet,  sondern 
aufgemalt  sind.  ]\[an  hat  ferner  in  Gräbern  kleine  Säulchen  mit  dem 
Glockenkapitäl  gefunden,  die  offenbar  als  Amu- 
lete  zu  erklären  sind  und  beweisen,  dass  die 
bildnerische  Herstellung  von  Lotusblüthen  in 
Eundwerk  eine  sehr  umfassende  und  verbreitete 
gewesen  sein  muss.  Goodyear  nimmt  hiernach 
an,  dass  die  Lotusblüthe  mit  Glockenprofil  zwar 
nicht  die  Lotusblüthe  als  solche,  sondern  ein 
Lotus-Amulet  darstelle,  und  als  solches  wiederum 
in  die  flächen  verzierende  Kunst,  in  die  Malerei 
oder  das  Eelief  en  creux,  Aufnahme  gefunden 
habe.  Was  sich  nun  die  alten  Egypter  unter 
der  glockenförmigen  Lotusblüthe  zum  Unter- 
schiede von  dem  ersterwähnten  Typus  Beson- 
deres gedacht  haben,  wird  heute  schwer  zu  ent- 
scheiden sein.  Aber  die  Erklärung  des  Zustande- 
kommens des  Motivs  in  Folge  des  Durchpassirens 
durch  die  Skulptur  in  liartem  Material  wird  sich 
kaum  durch  eine  bessere  ersetzen  lassen. 

Diese  Stelle  halte  ich  für  die  passendste,  um 
einige  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  des 
Lotusmotivs  in  der  Architektur  der  alten  Egypter  einzuschalten.  Wir 
haben  eben  eine  Art  des  Lotuskapitäls,  diejenige  des  glockenförmigen, 
kennen  gelernt.  Eine  andere  nicht  minder  häufige  Art  von  Kapital 
ist  diejenige,  die  das  Motiv  der  Lotus -Knospe  verwendet  (Fig.  15). 
Zur  Funktion  des  Vermitteins  zwischen  tragender  Säule  und  lasten- 
dem Architrav  war  ein  zartes  Blumen-  oder  Knospen -Motiv  doch 
wohl  nicht  geeignet,  zumal  angesichts  der  wuchtigen  Formen,  in  denen 
sich   die   altegyptische    Architektur    ergieng.       Aber    auch    die    andere 


Fig.  15. 

Säule  mit  Lotus-Knospeu- 

Kapitäl. 


'6)  a.  a.  0.  S.  51  ff. 


58  -^-    Altorieiitalisches. 

Hypothese,  die  darin  den  Xachklang  einer  nrsprünglieh  üblichen  Ver- 
kleidung des  Säulenkerns  mit  festliehen  Lotusgewinden  zu  erblicken 
meint,  ist  zu  weit  hergeholt  und  aus  dem  Gesammtcharakter  dieser 
Kunst  kaum  zu  rechtfertigen.  Das  Wahrscheinlichste  ist  vielmehr,  dass 
di-r  Verwendung  '  des  Lotusmotivs  als  Kapital  eine  sehr  primitive 
künstlerische  Empfindung  —  etwa  Avie  das  Postulat  der  Symmetrie, 
Avenn  auch  ein  minder  gebieterisches  —  zu  Grunde  lag,  die  den  Alt- 
egyptern,  Avie  allenthalben  die  Denkmäler  lehren,  ausserordentlich  mass- 
gebend erschienen  sein  muss:  nämlich  jene  Empfindung,  die  eine 
künstlerische  Behandlung  der  freien  Endigung  verlangt.  Ueberall  dort, 
wo  ein  wichtigerer  Gegenstand,  namentlich  von  überAviegender  Längen- 
ausdehnung (z.  B.  eine  Stange)  in  eine  Spitze  ausläuft,  A^erlangte  der 
altegA'ptische  Kunstsinn  eine  ornamentale  Betonung  dieses  Auslaufens, 
Endigens.  Besonders  ZAA'ingend  Avar  das  Postulat  dort,  avo  es  sich  um 
ein  Auslaufen  nach  oben,  um  eine  Bekrönung  handelte;  in  diesem  Falle 
musste  selbst  die  AA-agrechte,  in  überwiegender  Breitenrichtung  A^er- 
laufende  MauerAvand  sich  einen  deutlichen  Krönungssclimuck,  die 
bekannte  egA'ptische  Ilohlkelüe  gefallen  lassen.'^) 

Lm  nun  die  Endigung,  Bekrönung  zum  künstlerischen  Ausdrucke 
zu  bringen,  gab  es  verschiedene  Mittel.  Wie  der  menschliche  Körper 
A'om  Kopfe  bekrönt  ist,  so  Avird  in  der  egyptischen  und  mesopotamischen 
Kunst  der  Thierkopf  nicht  selten  zur  Bekrönung  von  Möbelpfosten  ver- 
Avendet.  '^)  Das  Aveitaus  gebräuchlichste  MotiA'  zur  Bezeichnung  der  freien 
Endigung  Avar  aber  allezeit,  soweit  Avir  die  altegyptische  Kunst  zurück 
zu  A'erfolgen  im  Stande  sind,  die  Lotusblütlie.  In  IjOtusl)lüilicn  laufen 
dif  Maschen   der  geknoteten   Diadembinden '^)   aus,   in   sogen.    Papyrus 

'')  Auf  so  platt-rationalistischcin  Wege,  Avie  Sybel  (a.  a.  0.  S.  5)  sich  die 
Entstehung-  der  egyptischen  Hohlkehle  denkt  —  durch  Umbieg'ung  dea- 
krönenden  Eohrstababschnitte  in  Folge  ihrer  Belastung-  durch  einen  auf- 
liegenden Balken  in  der  ureg-yptischen  Holzarchitektur  —  pflegen  Ornamente 
doch  wohl  nicht  zu  entstehen.  Der  egyptischen  Hohlkehle  liegt  vielmehr 
derselbe  Gedanke  der  Bekrönung-  zu  Grunde,  wie  z.  B.  dem  völlig-  analogen 
Ko|itschmuck  einer  (löttin  (Prisse,  ;i.  a.  0.  La  deesse  Anouke  et  Panises  11). 
Als  vorbildlich  für  letzteren  möchte  ich  wiederum  den  kranzförmigen  Federn- 
kopfschmuck ans(!hen,  den  z.  B.  die  Aethiopier  tragen  bei  Prisse,  Arriv6e  a 
The.bes  «lune  princesse  d'Ethiopie. 

'*;  Parallelen  dazu  zeigen  schon  in  den  ältesten  Gräbern  von  Memphis  die 
Stuhlfüsse,  die  in  Hufe,  oder  in  Löwentatzen  auslaufen,  wodurch  olTcnhar  die 
besondere  Funktion  dieser  nicht  frei  sondern  stuni|)r  auf  dem  rxxlcn  endi- 
genden Glieder  betont  Averden  sollte. 

'»)  Z.  B.  Lcpsius  Denkmäler  H.  73. 


1.   Egyptisches. 


59 


das  Sitzbrett  am  Stuhle  nach  rückwärts,  und  zwar  alles  dies  schon  in 
der  Kunst  des  Alten  Reiches.  Die  Stricke,  mit  denen  die  Gefangenen 
der  thebanischen  Pharaonen  gefesselt  erscheinen,  endigen  ebenso  in 
Lotusprofile,  wie  seit  ältester  Zeit  die  Schnäbel  der  Mlboote.  Aus  der- 
selben Bedeutung  heraus  werden  wir  nunmehr  auch  die  Lotuskapitäle 
der  Egypter  zu  erklären  haben.  Es  bedarf  hiezu  gar  nicht  der  her- 
geholten Erklärungen,  die  man  für  die  Lotuskelch-  und  Lotusknospen- 
Kapitäle  gesucht  hat.  Die  Säule  ist  eben  ursprünglich  gar  nicht  eine 
belastete  Dachstütze,  sondern  ein  frei  endigender  Pfosten  (Zeltstange !),  so 
wie  die  palmettengekrönte  griechische  Stele.  Dementsprechend  ist  das 
Kapital  ursprünglich  ebenfalls  nur  Bekrönung  und  nichts  als  Bekrönung: 
die  Funktion  des  Vermitteins  zwischen  tragender  Säule  und  lastendem 


Fig.  IG. 

Lotusblüthe  in  halber  Vollansicht. 

(egyptische  Palmette.) 


Fig.  17. 

Lotusblüthe  in  Profil 

mit  Volutenkelch. 


xA.rchitrav  ist  erst  viel  später  dem  baukünstlerischen  Sinn  bewusst  und 
ein  ästhetisch  bedeutsamer  Faktor  geworden.  Zum  Ausdrucke  der 
freien  Endigung  trägt  nun  die  Säule  bei  den  Egyptern  die  Lotusblüthe 
oder  Knospe  als  Kapital:  daher  auch  der  Steinwürfel,  der  sich  als 
Kämpfer  zwischen  Kapital  und  Architrav  einschiebt,  sobald  die  Säule 
zum  Tragen  bestimmt  ist. 

Die  dritte  Projektion,  in  der  uns  die  Lotusblüthe  auf  den  alt- 
egyptischen  Denkmälern  entgegentritt,  ist  die  halbe  Voll  an  sieht 
(Fig.  16).  Wir  vermögen  daran  drei  distinkte  Theile  zu  unterscheiden: 
einen  unteren,  der  am  Ansatz  durch  eine  von  der  Lotusblüthe  in  Profil 
(Fig.  7)  entlehnte  Blatthülse  (a)  bezeichnet  ist  und  nach  oben  in  zwei 
divergirende  Voluten  (b)  ausläuft,  in  deren  äusseren  Zwickeln  je  ein 
kleiner  tropfenförmiger  Ansatz  (c)  sichtbar  ist,  —  einen  mittleren  in  Form 


60  J^-   Altorientalisches. 

eines  bogeuförmigen  Zäpfchens  (d)  das  den  von  dm  beiden  Voluten 
im  Zusammenstossen  gebildeten  "Winkel  oder  Zwickel  ausfüllt,  —  und 
einen  krönenden  Blattfächer  (e).  Wir  pflegen  dieses  Motiv  in  der  Form, 
in  der  es  uns  in  der  griechischen  Kunst  entgegentritt,  als  Pahnette  zu 
bezeichnen. 

Der  wichtigste,  weil  für  die  Gesammtform  bezeichnendste  Theil 
sind  hier  die  Voluten.  Sie  sind  als  der  in  Seitenansicht  projicirte 
Kelch  der  Blüthe  aufzufassen,  Avie  das  Zwischenglied,  Fig.  17,  (von 
einem  sogen.  Porzellan-Aniulet  im  Louvre)  beweist,  wo  der  Kelch  nicht 
mit  Zwickelzapfen  und  Blattfächer,  sondern  mit  den  dreieckigen  Blättern 
des  ersten  Profiltypus  (Fig.  7)  gefüllt  erscheint. 

Das  erste  Auftreten  des  Volutenkelchs  ist  von  ausserordentr 
lieber  Wichtigkeit  für  die  gesammtc  Geschichte  der  Orna- 
mentik. Dass  mindestens  ZAvischen  den  Volutenkelchformen  der  antiken 
Stile  ein  kausaler  Zusammenhang  obwalten  müsse,  hat  man  bereits 
seit  Längerem  gemuthmasst;  insbesondere  die  Voluten  des  jonischen 
Kapitals  gaben  in  ihren  augenscheinlichen  Beziehungen  zu  den  alt- 
orientalischen  Volutenkapitälen  den  Forschern  viel  zu  denken.  Es  hat 
sich  allmälig  eine  ganze  Literatur  über  diesen  Gegenstand  angesammelt, 
die  sich  bei  Puchstein  2'^)  und  zum  Theil  auch  bei  Goodyear^')  zusanmien- 
gestellt  findet.  Die  Mehrzahl  der  Forscher  rieth  auf  asiatischen  Ur- 
sprung, und  der  Umstand,  dass  man  —  oifenbar  unter  dem  flinflusse  der 
beliebten  Theorie,  wonach  so  ziemlich  alle  älteren  Künste  eine  wesentlich 
autochthone  Entwicklung  genommen  hätten  —  den  historischen  Zu- 
sammenhang der  mesopotamischen  mit  der  altegyptischeu  Kunst  ge- 
flissentlich unterschätzte,  war  auch  die  Ursache,  dass  man  die  alt- 
egj'ptischen  Volutenformen  nicht  in  ihrer  vollen  Bedeutung  als  Ausgangs- 
punkt der  ganzen  Entwicklung  erkannte,  trotzdem  schon  vor  mehreren 
Jahren  ein  französischer  Ingenieur,  .^1.  Dieulafoy--),  die  Vorl)ildliehkeit 
gewisser  altegyptischer  Bläfterformen  für  das  jonische  Kapital  aus- 
drücklich behauptet  hat.  Mit  aller  Entschiedenheit  ist  für  den  egyptischen 
Volutenkelcli  als  Ausgangspunkt  für  alle  übrigen  Palmettenformen  der 
antiken  Stile  Goodyear  (S.  71  ff".)  eingetreten,  wobei  er  zugleich  eine 
f>klärung  für  die  Entstehung  des  Volutenmotivs  versucht  hat. 

Goodyear's  Erklärung  für  das  Aufkommen  des  Volutenkelchs  knüpft 


'^'>)  Das  jonische  Kapital,  im  Aulianye. 

")  S.  71  ff.  in  den  Anmerkung-en  verstreut. 

'*)  Dieulafoy,  L'art  antique  de  la  Ferse  TU.  :'. I  tr. 


1.    Egyptisches. 


61 


wiederum  an  die  natürliche  Erscheinung  von  Nymphaea  Lotus  an.  Sie 
beruht  auf  der  Wahrnehmung,  dass  die  vier  Kelchblätter  dieser  Blüthe 
häufig  sich  nach  unten  einrollen,  so  dass  eine  solche  Blüthe  in  der 
Seitenansicht  in  der  That  einen  von  zwei  seitlichen  Voluten  gebildeten 
Kelch  zeigt,  aus  dem  sich  der  Blätterbüsehel  der  Krone  erhebt  (Fig.  18). 
Die  Erklärung  besticht  durch  ihre  Einfachheit  und  scheinbare  Exaktheit. 
Wenn  man  aber  erwägt,  dass  das  Motiv  des  Volutenkelches  in  der 
stilisirten  Blumenornamentik  aller  späteren  Völker  und  Stile,  nicht  bloss 
des  Alterthums,  sondern  auch  des  Mittelalters,  insbesondere  des  sarace- 
nischen,  und  noch  in  der  neueren  Zeit  bis  auf  unsere  Tage  eine  so 
überaus  wichtige  Rolle  gespielt  hat,  so  hält  es  schwer,  seinen  Ursprung 
auf  eine  mehr  zufällige  Erscheinung  zu- 
rückzuführen, wofür  wir  das  Einrollen 
der  Kelchblätter  von  Xymphaea  Lotus 
wohl  aufzufassen  haben.  Es  muss  dem 
Motiv  etwas  Dauerhaftes,  Gemeingiltiges, 
Klassisches  zu  Grunde  gelegen  haben, 
dass  dasselbe  überall  so  gleichmässig 
Aufnahme  finden  und  durchdringen  liess. 

Wodurch  nun  die  Lotusblüthe  mit 
Volutenkelch  sich  von  dem  Typus  mit 
geraden  Kelchblättern  (Fig.  7)  im  künst- 
lerischen Effekt  unterscheidet,  ist  die 
schärfere  Trennung  zwischen  Kelch  und 
Krone.  Und  in  der  That  lässt  sich  ein 
künstlerisches  Postulat  namhaft  machen, 
das,  wie  zahlreiche  Denkmäler  lehren, 
bei  den  Altegyptern  mindestens  in  der 
Zeit  des  Neuen  Reiches  ausserordentliche 

Berücksichtigung  gefunden  hat,  und  das  eine  Accentuirung  der  Kelch- 
form  geradezu  forderte.  Bevor  ich  aber  dieses  Postulat  des  Näheren 
kennzeichne,  erscheint  es  mir  geboten,  die  übrigen  zwei  Bestandtheile 
der  egyptischen  Palmette  zu  diskutiren,  wobei  auch  die  tropfenförmigen 
Füllungen,  die  in  die  Zwickel  der  besprochenen  Voluten  eingesetzt  er- 
scheinen,   ihre  Erklärung  finden  Averden. 

Haben  wir  im  Volutenkelch  eine  Seitenansicht  gegeben,  so  ist  der 
bekrönende  Blattfächer  von  Fig.  16  (e)  offenbar  mit  der  Projektion  der 
Rosette  (Fig.  12)  zusammenhängend.  Dieser  Fächer  giebt  sich  in  der 
That  als  ein  Ausschnitt  aus  der  Rosette.     Goodvear  hat  auch  bei  seiner 


Fig.  18. 

Lotusblüthe  (in  Natur)  mit  überfallenden 

Kelchblättern.    Kach  Goodyear. 


62  A.    Altorientalisches. 

Erörterung"  der  egyptischen  Palmette-^)  für  den  Fäclier  dieselbe  Er- 
klärung geg-eben  wie  für  die  Rosette;  demzufolge  wäre  die  Palmette 
eine  Kombination  des  Lotuskelehs  mit  dem  Lotus-Fruchtknoten.  Auf 
S.  53  habe  ich  die  Gründe  auseinander  gesetzt,  welche  mich  bestimmen, 
das  Vorbild  der  'Kosette  nicht  mit  Goodj'ear  im  Fruchtknoten,  sondern 
in  der  Vollansicht  der  aufgeblühten  Lotusblume  zu  erblicken.  Dies 
angewendet  auf  die  Palmette,  lässt  die  letztere  als  eine  Vereinigung 
des  Kelches  in  der  bequemen  und  natürlichen  Seitenansicht  mit  der 
Krone  in  Vollansicht  erscheinen.-^)  Man  wollte  den  Vollstern  zur  An- 
schauung bringen,  und  das  Profil  dennoch  nicht  aufgeben.  Ich  habe 
daher  vorgeschlagen,  diese  Projektion  als  „halbe  Vollansielit"  zu  l)e- 
zeichnen. 

Es  bleibt  uns  noch  ein  drittes  Element  zu  besprechen,  das  in  der 
Zeichnung  der  egyptischen  Palmette  (Fig.  16)  als  typisch  entgegen- 
tritt :  nämlich  das  kleine  Zäpfchen  (d),  das  den  zwischen  beiden  Voluten 
gähnenden  Zwickel  ausfüllt.  Zur  Rosette  oder  dem  Ausschnitte  der- 
selben gehört  das  Zäpfchen  nicht.  Demselben  liegt  vielmehr  wiederum 
ein  primitives  künstlerisches  Postulat  zu  Grunde,  das  in  der  altegypti- 
schen  Kunst  allmächtig  geAvesen  ist  und  in  dem  wir  einen  der  grund- 
legenden Stilbegi'iffe  dieser  Kunst  zu  erblicken  haben.  Es  ist  dies  das 
Postulat  der  Zivickelfüllung.  Wo  immer  zwei  divergirende  Linien  einen 
einspringenden  Winkel  zurücklassen,  erfordert  es  das  egyptische  Stil- 
gefühl, den  leeren  Winkel  mit  einem  füllenden  Motiv  auszustatten;  im 
letzten  Grunde  geht  dieses  Postulat  Avohl  auf  den  Horror  vacui  und 
dieser  wiederum  auf  das  Schmückungsbedürfniss  als  maassgebendstes 
Agens  aller  primitiven  Künste  zurück.  Dass  die  Beweise  hierfür  aus 
der  Kunst  des  Alten  Reiches  verhältnissmässig  spärlich  vorliegen,  hängt 
wiederum  damit  zusammen,  dass  uns  aus  dieser  Frühzeit  überwiegend 
bloss  Darstellungen  rein  gegenständlicher  Natur  in  den  Gräbern  erhalten 
geblieben  sind.  Die  üppigste  Fundstätte  für  zwickelfüllende  ]\rotive 
bilden  die  Deckendekorationen  des  Xouen  Reiches,  an  denou  die  Einzel- 
motive zwar  nicht  minder  noch  imiiK'r  die  alte  synil>oliscli<'  l'cdcutuiig 
beibelialten  zu  haben  sclKiincn,  aber  zum  ausgesprochenen  IJehnfe  der 
Flächenfüllunff  ilire  Zusammenstellunsr  ofFenbnr  unter  dekorativ-küiistle- 


")  a.  a.  0.  S.  lon  ff. 

■''*)  Es  ist  flies  otVciih.-ir  die  ghüclie  künstlerische  Absiclit,  die  sich  aiudi 
in  der  saracenischeii  Kunst  (namentlich  an  Fliesen  und  Teppichen)  in  der 
Vereinigung  tulpen-  oder  knospenf'önniger  Blunienprofilc  mit  Vollrosetten  an 
einem  und  demselben  I'liunenniotiv  ihissert. 


1.    Eg-yptisches.  63 

rischen  Gesichtspunkten  gefunden  haben.  Gleichwohl  ist  es  die  gleiche 
Tendenz,  die  schon  an  der  Bildung  des  uralten  geradblättrigen  Typus 
des  Lotusblüthenprofils  (Fig.  7)  unverkennbar  mitthätig  gewesen  ist: 
die  Blätter,  welche  die  Krone  bilden,  füllen  die  Zwickel  der  Kelch- 
blätter, und  über  die  hiedurch  neuerdings  gebildete  Reihe  von  Zwickeln 
steigt  eine  weitere  Lage  von  kleineren  füllenden  Blättern  empor. 

Der  Erfüllung  des  gleichen  Postulats  der  ZwickelfüUung^s)  dienen 
auch  die  beiden  Tropfen  (c),  welche  in  die  äusseren  Zwickel  der  Voluten 
an  unserer  Palmette  (Fig.  16),  sowie  an  dem  Amulet  (Fig.  17)  hinein- 
componirt  sind.  Goodyear,  der  alle  diese  Dinge  bloss  im  Lichte  ihrer  sym- 
bolischen Bedeutung  auflfasst  (ihm  ist  die  gesammte  altegyptische  Orna- 
mentik bloss  eine  Symbolik  des  Sonnencultus),  und  die  künstlerisch 
dekorativen  Empfindungen,  von  denen  sich  die  Altegypter  ebenso  wie 
jedes  andere  alte  Kunstvolk  leiten  Hessen,  fast  grundsätzlich  ausser 
Rechnung  lässt,  Goodyear,  sage  ich,  erklärt  dagegen  die  erwähnten 
Tropfen  in  Fig.  KI  und  17  als  Lotusknospen,  d.  h.  als  eine  rein  äusser- 
liche  Zusammenstellung  zweier  Symbole,  der  Blüthe  und  der  Knospe, 
geradeso,  wie  er  den  Begriff  der  Palmette  aus  Blüthenkelch  und  Frucht- 
knoten konstruirt  hat. 

Das  vorbesprochene  Zäpfchen  (d)  in  Fig.  16  sucht  Goodyear  in 
ähnlicher  Weise  zu  erklären.  In  den  Fällen,  wo  dasselbe  —  wie  wir 
gleich  sehen  werden  (Fig.  20)  —  ohne  bekrönenden  Blattfächer,  als 
blosse  Füllung  des  Volutenkelchzwickels  vorkommt,  erscheint  es  ihm 
als  umgekehrte  Lotusknospe,  genau  wie  an  den  seitlichen  Zwickeln. 
Ein  andermal  könnte  es  das  mittlere  Kelchblatt  sein,  das  der  egyptische 
Künstler  nicht  wie  die  seitlichen  Kelchblätter  überfallend  dargestellt,  son- 
dern am  oberen  Ende  perspektivisch  verdickt  hätte.  Hievon  wird  man 
die  zweite  Erklärung  völlig  abweisen  müssen  und  von  der  ersten  nur  so- 
viel zugeben  dürfen,  das  auf  die  tropfenförmige  Stilisirung  der  Zwickel- 
füllungen das  Motiv  der  Lotusknospe  in  der  That  von  Einfiuss  gewesen 
sein  mag.  Der  Grund  für  die  Einfügung  dieser  knospenartigen  Füllung 
in  die  Zwickel  liegt  aber  jedenfalls  ausserhalb  der  symbolischen  Be- 
deutung der  Lotusknospe  und  ist,  wie  eben  gezeigt  wurde,  wohl  haupt- 
sächlich ästhetisch-dekorativer  Natur. 


2')  Wir  werden  noch  des  öfteren  Veranlassung-  haben,  die  Bedeutsamkeit 
dieses  Postulates  innerhalb  der  antiken  Ornamentik  zu  erproben.  Der  Nach- 
weis,  dass  demselben  eine  weit  verbreitete,  primitive  ästhetische  Em- 
pfindung- zu  Grunde  liegt,  wird  g-leichfalls  an  geeigneterer  Stelle  Einschaltung- 
finden. 


64  -^-    Altoriontalisclies. 

Wie  -svichtig-  gerade  der  Yolutenkelch  bei  der  Zusammensetzung' 
der  egyptischen  Palmette  gewesen  ist,  erhellt  am  besten  daraus,  dass  zahl- 
reiche Beispiele  vorkommen,  an  denen  der  bekrönende  Fächer  in  Weg- 
fall gekommen  ist.  An  Fig.  19  allerdings  ist  dieser  Wegfall  nur  ein 
scheinbarer,  die  einzelnen  Blätter  der  Fächer  sind  zwar  nicht  in 
Zeichnung  ausgeführt,  aber  der  Gesammt-Aussencontour  desselben  ist 
deutlich  umschrieben.  Diese  Stilisirung  der  Krone  läuft  vielmehr  ganz 
parallel  jener  in  Fig.  13  beobachteten,  wo  die  Blätter  der  Krone  völlig 
in  der  gleichen  Weise  nicht  einzeln  ausgeführt,  sondern  nur  durch  den 
Gesammtcontour  angedeutet  sind.-'')  Eine  zweifellose  Eeduction  des 
Palmettenmotivs  bietet  dagegen  Fig.  20,  nach  einem  Kapital  aus  der 
Zeit  Thutmes'  TIT.     Hier  haben  wir,  wenn  wir  von  der  untersten  Blätt- 


rig, ly.  Fig.  20. 

Egyptische  Palmette  Volutenlielcli  mit  blossem  Zäpfchen 

mit  scbematiscb  gezeichnetem  Ulattfächer.  als  Zwickclfüllunp:.  Aus  Karnak. 

hülse  des  Kapitals  absehen,  bloss  einen  Volnienkeleh  mit  zwiekel- 
füllenden  Zäpfchen.  Da  gilt  es  aber  vor  Allem,  den  Nachweis  zu 
liefern,  dass  wir  es  in  der  That  mit  einer  Verkürzung  des  schon 
fertigen  Palmettenmotivs  zu  tliun  liaben,  und  nicht  umgekehrt  mit  einer 
früheren  einfacheren  Vorstufe,  aus  welclier  sich  unter  Hinzufügung 
des  Fächers  die  Palmette  erst  naclilräglich  entwickelt  hätte.  So  viel 
nun  bis  jetzt  bekannt,  ist  die  T.ilincttc  frühfr-")  an  r)rnl<ni;il(rn  iiacli- 

-••)  Diese  Parallele  scheint  übrigens  g'eeignct,  uns  vollends  zu  bestärken  in 
der  Ueberzeugunff,  dass  der  krönende  Fächer  der  Pabnette  eben  als  Blüten- 
krone und  nicht  als  Fruchtknoten,  wie  Goodyear  will,  aufzufassen  ist. 

'■'')  Nach  Goodyear  (S  112j  unter  Berufung  aul'Flinders  Petrie  an  Aniuieten 
aus  der  XII.  Dyn.,  «lie  Palmette  mit  blosser  Contourumschreibung  des  Fächers 
sogar  schon  an  Denkmälern  aus  der  Zeit  der  TV.  Dyn. 


1.    Egyptisches.  ß5 

geAviesen  als  der  blosse  Volntenkelch.  Wichtiger  ist  aber,  dass  wir 
für  das  nachträgliche  Aufkommen  des  bekrönenden  Blattfächers  über 
dem  Zwickelzäpfchen  kaum  einen  bestimmten  Grund  anzugeben  AYüssten, 
wogegen  das  gelegentliche  Fallenlassen  des  Fächers  sich  ganz  gut 
motiviren  lässt. 

Es  wurde  schon  bei  Besprechung  des  Yolutenkelches  (S.  61)  darauf 
hingewiesen,  dass  die  durch  denselben  zum  Ausdruck  gebrachte  stren- 
gere Scheidung  zwischen  Kelch  und  Krone  einer  bestimmten  künst- 
lerischen Empfindung  entgegengekommen  sein  müsse,  die  namentlich 
in  der  Kunst  des  iSTeuen  Reiches  überaus  maassgebend  geworden  ist. 
Hier  ist  nun  der  Platz,  um  die  dort  unterbrochene  Erörterung  dieses 
Punktes  wieder  aufzunehmen.  Die  angedeutete  Empfindung  verlangte, 
dass  man  den  Ansatz,  den  Angriffspunkt  eines  in  überwiegender  Längen- 
ausdehnung verlaufenden  Gegenstandes  zu  markiren  suchte.  Das  ge- 
wöhnlichste Mittel  hiezu  bestand  darin,  den  betreffenden  Gegenstand 
aus  einem  Kelch  oder  einer  Hülse  von  dreieckigen  Blättern  (die  Avohl 
auch  vom  ältesten  Lotusblüthen-Typus  abzuleiten  sind)  am  Ansätze 
hervorwachsen  zu  lassen.  Die  Säulenschäfte  stecken  mit  ihrem  unteren 
Ende  gemeiniglich  in  solchen  Hülsen  (Fig.  15);  auf  das  gleiche  Grund- 
motiv gehen  die  Gruppen  dreieckiger  Blätter  zurück,  aus  denen  sich 
die  Palmetten  Fig.  16  und  19  erheben,  und  nicht  anders  ist  die  Bedeu- 
tung der  ebensolchen  Blätter  am  unteren  Ende  des  Kapitals  in  Fig.  20 
aufzufassen.  Eine  solche  typische  Blatthülse  genügte  dort,  wo  es  sich 
um  eine  flache  Ausführung  (namentlich  in  Malerei)  handelte;  wo  man 
dagegen  einen  Gegenstand  aus  hartem  Material  rund  herauszuschnitzen 
hatte,  da  musste  auch  die  zur  Versinnbildlichung  der  erwähnten  grund- 
legenden Empfindung  ein  für  alle  Mal  gewählte  Lotusblüthe  ent- 
sprechende Formen  annehmen.  Nach  dem  auf  S.  57  Gesagten  ist  es 
klar,  dass  sich  hierzu  besonders  der  Typus  mit  glockenförmigem  (sogen. 
Papyrus-)  Profil  eignete.  Daneben  tritt  in  der  Kunst  des  Neuen  Reiches 
als  bevorzugt  der  Volutenkelch  auf-^).  Ich  halte  nun  dafür,  dass  diese 
Verwendung  hauptsächlich  das  Fallenlassen  des  hindernden  Blattfächers 
zur  Folge  gehabt  hat:  man  Hess  den  Fächer  zunächst  an  solchen  Bei- 
spielen weg,  wo  der  Volutenkelch  als  kunstsymbolische  Hülse  diente, 
und  später,  als  man  sich  an  das  abgekürzte  Motiv  einmal  gewöhnt 
hatte,    übertrug  man  es  auch  auf  die  freien  Endigungen,    wie  z.  B.  an 


■^*)  Beispiele  für  solche  Verwendung  beider  Formen  an  Geräthen,  Fächern, 
Geissein  u.  dgl.  bei  Lepsius  ITT.  1  und  2. 

Riegl,  Stilfrageii.  " 


(3ß  A.    Altorientalisches. 

dem  Kapital  aus  Karnak  (Fig.  20).  In  letzterem  Falle  war  aber.  Avenn 
schon  der  Fächer  in  Wegfall  kam,  der  krönende  Zapfen  ein  unimi- 
gäugliches  Postulat  des  altegyiitischen  Kunstsinns,  und  in  der  That  ist 
mir  kein  Beisjüel  eines  frei  endigenden  egyptischen  ^'olul^'nkelehs  ohne 
zwickelfüllendem  Zäpfchen  bisher  bekannt  geworden --'i. 

Der  Hinwegfall  des  krönenden  Fächers  hat  natürlich  zur  Folge 
gehabt,  dass  an  dem  abbreviirten  Palmettenmotiv  auch  die  Projektion 
in  der  halben  Vollansicht  vollständig  unterdrückt  worden  ist.  Es  blieb 
bloss  die  Projektion  des  Kelchs  in  der  Profilansicht,  und  in  der  That 
erscheint  der  frei  endigende  Volutenkelch  in  der  Kunst  des  Neuen 
Eeiches  vollständig  gleichwerthig  mit  den  fnilur  betrachteten  reinen 
Lotusblüthen-Typen  in  Seitenansicht  (Fig.  7,  8).  Die  aus  dreieckigen 
Blättern  gebildete  Hülse  aber,  die  wir  an  Fig.  IG  und  10  neben  den 
Voluten  des  Kelches  wahrnehmen,  braucht  uns  selbst  dann  nicht  zu 
verwundern,  wenn  wir  sie  thatsächlicli  als  Pleonasmus  gelten  lassen 
Avollen,  da  die  Ineinanderschachtelung  von  Kelchen,  wie  zahlreiche 
Beispiele,  namentlich  von  gemalten  Kapitalen,  bcAveisen,  gleichfalls 
einer  bestimmten  Tendenz    der    altegyptischen  Kunst    entgegenkommt. 

Die  gegebene  Erklärung  für  die  Ausbildung  des  Volutenmotivs  in 
der  altegyptischen  Kunst  gewinnt  eine  Aveitere  Stütze  durch  den  Um- 
stand, dass  selbst  das  glockenförmige  (das  sogen.  Papyrus-)  Profil  ge- 
legentlich beiderseits  eine  volutenartige  Krümmung  erfahren  hat,  und 
zwar  überaus  bezeichnendermaassen  bloss  an  solchen  Beis})ielen,  wo 
das  betreffende  3Iotiv  als  Ansatz  für  irgend  einen  Gegenstand  (ein  Ab- 
zeichen, Spiegel  u.  dergi.)  dient 2"). 

Hiermit  liaben  wir  die  wichtigsten  vegetabilischen  Formen  kennen 
gelernt,  Avelche  die  altegyptische  Kunst  gebraucht  und,  Avie  es  allen 
Anschein  hat,  auch  selbständig  erfunden  hat.  Wir  haben  sie  sämmt- 
lich,  nach  Goodyear's  Vorgang  auch  den  Papyrus,  von  dem  echten 
egyptischen  Lotus  abgeleitet.  Einige  minder  A\'ichtige  Varianten  dürfen 
wir  hier  ausser  Betracht  lassen;  sofern  dieselben  dennoch  .iiir  dir. 
Fjitwicklung  des  l'fianzcnornaments  ausserhalb  Egyptens  von  irgend 
welchem  Einflüsse  gewesen  sein  könnten,  Averden  sie  an  JinA^eilig  ge- 
(■i'_nictcr  Strllc   y.ur  S])r;icl)e  gebnicht  Avcrden. 

■•)  l;if  iiaiurgcinassc  \  (■r^Tosscnuiy  und  Verlängerung',  die  das  Zäi)rclicn 
in  solchem  Falle  erlitt,  scheint  (Joodycar  in  ganz  besonderem  Maasse  zu  seiner 
Hypothese  bestimmt  zu  lialx-n,  darin  nidits  als  eine  umgekehrte  Lotusknospe 
zu  erblicken. 

■•")  Beispiele  hei  Goodyear  YII.  2,  ?,. 


1.    Eg-yptisches. 


67 


Es  obliegt  uns  nunmehr  die  Art  und  Weise  festzustellen,  in  welcher 
die  erörterten  pflanzlichen  Einzelmotive  unter  einander  in  Ver- 
bindung gebracht  worden  sind,  sobald  die  Aufgabe  herantrat,  mit 
denselben,  sei  es  bandartige  Streifen,  sei  es  grössere  Flächen  zu  verzieren. 
Ueberaus  häufig  begegnet  da  die  Verbindungslosigkeit,  die  einfache 
Xebeneinanderreihung  wobei  das  künstlerische  Motiv  in  der  Alternirung 
von  Blütheii  und  Knospen  (Fig.  11),  grossen  ausladenden  Fächern  und 
kleinen  spitz  zulaufenden  Zwischengliedern  gelegen  war.  Solchermaassen 
gereihte  Lotusblüthen  und  Knospen  (oder  Palmetten)  eigneten  sich  wohl 
zur  Verzierung  eines  fortlaufenden  Bandes,  etwa  eines  Gesimses,  eines 
Frieses,  einer  Bordüre,  minder  dagegen  zur  Musterung  einer  grösseren 
Fläche,  Avas  schon  durch  die  einseitige  Richtung  der  Einzelmotive  er- 
schwert wurde.    Dagegen  liess  sich  die  Auskunft  finden,  dass  man  ZAvei 


Fig.  21. 
Bordüre  mit  gegenübergestellten  Reiben  von  Palmetten  und  Profil-Lotusblüthen. 


solche  Reihungen  einander  gegenüberstellte,  so  dass  die  eine  Reihe 
in  die  Zwischenräume  der  anderen  gegenüberstehenden  zahnartig  ein- 
griff. Die  einseitige  Richtung  wurde  dadurch  paralysirt,  und  man 
konnte  durch  beliebige  Wiederholung  des  Streifens  eine  beliebig  grosse 
Fläche  verzieren,  ohne  nach  t:4ner  Richtung  hin  zu  Verstössen  (Fig.  21). 
Im  Grunde  genommen  kam  man  aber  auch  damit  über  eine  blosse 
Streifenmusterung  nicht  hinaus. 

Bei  der  einfachen  verbindungslosen  Reihung  ist  nun  die  Kunst  des 
ISTeuen  Reiches  von  Egypten  nicht  stehen  geblieben:  sie  hat  aucli  die 
einzelnen  Pflanzenmotive  unter  einander  durch  BoqenJinien  verbunden. 
Betrachten  wir  den  Bordürestreifen  Fig.  22^°^).  Wir  sehen  da  Lotus- 
blüthen abwechselnd  einmal  mit  Lotusknospen,  das  anderemal  mit  pal- 
mettenfächerartigen  Varianten  des  Lotusprofils,    wie    sie    die    frei    und 


^'^^)  Nach  Prisse  a-  a.  0.  Courounements  et  frises  fleuronnees  No.  6. 

5* 


68 


A.    Altorientalisches. 


imbeliindert  schaltende  Technik  der  "Wandmalerei  ans  der  typischen 
Form  heraus  spielend  erzeugt  haben  mochte:  alle  drei  Motive  aber 
untereinander  verbunden  durch  rundbogenförmig"  geschwungene  Stengel. 
Es  ist  dies,  die  gefälligste  Art  von  Verbindung  zwischen 
Blüthenmotiven,  Avelche  die  vorgriechischen  Stile  geschaffen 
haben,  und  nicht  l)loss  für  die  altorientalischen  (^altegyptisch,  assyrisch, 
phönikisch.  persisch),  sondern  selbst  noch  für  gewisse  orientalisirende 
griechische  Stile  (rhodische,  kyrenische  Vasen)  typisch.  Die  Alternirung 
dreier  Motive,  wobei  in  Folge  der  steten  Wiederholung  des  einen  (der 
Blüthe)  bereits  eine  Art  rhythmischer  Gruppirung  (von  Knospe  zu  Knospe 
oder  von  kleinerer  Blüthe  zu  kleinerer  Blüthe)  hergestellt  erscheint, 
ist  gleichfalls  besonders  zu  vernun-ken.  Dagegen  sind  die  füllenden 
Rosetten  und   kleinen    tropfentVinnigen   Knospen    fin   der  Reproduction 


Hogenfries  mit  LotusblUthcu  mid  Kiiosiieii. 

Fig.  22  weggelassen)  ohne  weitere  Bedeutung  für  nnscren  (Tcgenstand: 
ein  malerischer  Ueberscliwulst,  durch  den  wir  uns  in  der  Fixirnng  des 
Grundschemas  nicht  beirren  lassen  dürfen. 

Ein  solcher  Bogenfries  mit  Pflanzenmotiven  wies  ebenso  wie  die 
blosse  Reihung  nur  nach  einer  Seite,  eignete  sich  somit  in  dieser  Form 
wohl  für  Bordürstreifen,  aber  nicht  für  grössere  Flächenfelder.  Um 
ihn  für  letzteren  Zweck  verwendbar  zu  machen,  Hess  sich  aber  wieder 
dieselbe  Auskunft  treffen  wie  Ix'i  der  einfacluMi  I»riliung  durch  Gegen- 
überstellung einer  zweiteii  in  die  erstere  eingreifenden  Reihe  Fig.  23^'). 


"j  Dieses  Auskunt'tsniittcl  entsprach  zugleich  einer  bcstinuiiten  niik-htigen 
TeiKlcnz  des  rein  oniaincntalen  Kunstschaft'ons,  die  sich  namentlich  in  der 
;,'-eonietrischcn  Ornamentik  in  hohem  Grade  bemerkbar  gemaclit  liat:  jedem 
ornamentalen  Ek-mcmte  ein  womöglich  congnientes  Gegenüber  zu  geben. 
Auf  solche  Weise  cntstan<l(5n  die  sogen,  rcciproken  Ornamente,  unter  denen 
der  laufende  Hund  und  der  einfache  Mäander  die  s:rö.sste  Berühmtheit  erlan"-t 


1.   Egyptisches. 


69 


Noch  eines  vereinzelten  Versuches,  die  ornamentalen  Lotusmotive 
unter  einander  in  Verbindung  zu  bringen,  niuss  hier  gedacht  werden, 
nicht  zwar  als  ob  es  sich  dabei  um  ein  für  die  Fortentwicklung  wich- 


lunenmustei'ung  aus  gegenübergestellteu  Bogenfriesen  mit  Palmetten  und  Profil-Lotusblüthen. 

tiges  Beispiel  handeln  würde,    sondern    nur   vom  Standpunkte   des  all- 
gemeinen Interesses,  da  Avir  auch  hieraus  wieder  ersehen,  dass  die  Alt- 


haben. Abel"  auch  die  Gamma-  und  Taufiguren  in  ihrer  wechselseitigen  Ver- 
schränkuug  in  den  Säumen  gehen  auf  dasselbe  Bestreben  zurück,  die  Richtung 
eines  Ornaments  durch  seine  Wiederholung  im  Gegensinne  aufzuheben.  Mit 
geometrischen  Ornamenten  liess  sich  in  der  That  die  ganze  Fläche  einer 
Bordüre  in  solche  zwei  congruente  Streifen  zerlegen,  die  fortlaufend  von  oben 
und  unten  ineinandergriffen.  Bei  den  vegetabilischen  Ornamenten  hatte  dies 
natürlich  seine  Schwierigkeiten,  und  so  begnügten  sich  die  Altegypter  dies- 
bezüglich mit  der  blossen  Wiederholung    der  Motive   im   Gegensinne,    wobei 


das  Problem,  pflanzliche  Motive  in  ein  reciprokes  Schema  zu  bringen,  von 
der  sogen,  mauresken  Kunst  gelöst,  was  dann  von  den  raaurisirenden  euro- 
päischen Renaissancekünsten  eine  Zeitlang  auf  beschränktem  Gebiete  nach- 
geahmt wurde.  Vgl.  Spanische  Aufnäharbeiten,  in  der  Zeitschr.  des  bayr. 
KunstgCAverbevereins  in  München,  Dec.  1892. 


:o 


A.    Altoricntalisches. 


egypter  keineswegs  starr  bei  ihren  ursprünglichen  Bildungen  stehen 
geblieben  sind,  sondern  auf  verschiedenen  Wegen  getrachtet  haben,  die 
Verwendung  der  überkommenen  Elemente  mannigfaltiger  und  reicher 
zu  gestalten. '  So  sehen  wir  nämlich  in  Fig.  24  eine  Art  Ranke  in 
Kreisform  eingerollt  und  mit  eben  solchen  fortlaufend  durch  Tangenten 
verbunden,  von  denen  je  eine  Lotusblüthe  und  Knospe  abzweigen. 
Die  einzelnen  Kreise  sind  mit  Rosetten  gefüllt.  Das  ganze  Motiv  er- 
innert in  Folge  der  Verbindung  mittels  Tangenten  an  ähnliche  Bildungen 
in  der  frühgriechischen  Kunst,  insbesondere  im  Dipylon,  welch  letztere 
aber  lediglich  geometrischer  Natur  sind  und  keinerlei  vegetabilische  Ele- 
mente tragen.  Von  der  lebendig  bewegten  griechischen  Ranke  ist 
dieses  steife  einseitige  Schema  noch  dnreli  eine  ganze  "Welt  getrennt. 


Fig.  21. 
Jlankenartige  Verbindung  von  Lotiisblütlun  und  Knospen. 

Eine  Vereinigung  geschwungener  Stengellinien  mit  Lotusblütlien 
'in  den  verschiedenen  Profilansiehten.  die  wir  kennen  gelernt  haben) 
treffen  wir  ferner  an  dem  nicht  seltenen  Geschlinge,  das  die  l)eiden 
Reiche  von  Ober-  und  Unteregypten  syml)olisiren  soll,  z.  B.  l)ei  Lepsjus  II. 
120,  III.  10.  Der  elegante  Schwung  der  Linicm  und  die  Gruppirung  der 
Blüthen  untereinander  bietet  uns  in  der  Tliat  eine  Vorahnung  dessen, 
was  die  Griechen  später  mit  diesen  —  Avenn  einmal  frei  bewegten  — 
Motiven  anzufangen  wissen  Averden.  Aber  die  Bedeutung  des  in  Rede 
stehenden  Geschlinges  Avar  )iicht  so  sehr  <ine  ornamentale  als  eine 
gegenständliche  und  es  hat  sich  auch  dai-an,  so  \iel  wir  srlicii,  keine 
weitere  Entwicklung  geknüpft. 

Die  \'erl»indung  der  gereiliten  Lotus-Motive  mitlels  Hogeniinien  hat 
in  der  Xatnr  kein  Voi'])ild,  sie  ist  zweifellos  eine  rein  ornamentale 
Erfindung.  Wenn  wir  hinsichtlich  der  Stilisirung  der  Lotusblütlnui, 
die  ja  in  der  Mehrzahl  der  Typen,  (insbesondere  beim  glockenförmigen 
und  beim  Volutenkelcli)  der  realen  Ersclieinung  der  Lotusblüthe  el)en- 

/ 


1.    Egyptisches. 


71 


falls  nur  in  sehr  geringem  Maasse  entsprechen,  die  Unzulängliehkeit 
einer  vielfach  noch  primitiven,  ohne  belehrende  Einflüsse  von  Aussen 
her  aus  sich  selbst  heraus  schaffenden  bildenden  Kunst  zur  Mitver- 
antAvortung  heranziehen  dürfen,  so  fällt  ein  solcher  Entschuldigungs- 
grund bei  den  verbindenden  Bogenlinien  hinweg:  man  hatte  offenbar 
gar  nicht  die  Absicht  hierin  bloss  die  Xatur  zu  kopiren,  sondern  man 
schuf  sich  aus  besonderen  Beweggründen  —  und  diese  konnten  doch 
wohl  nur  rein  künstlerischer  Xatur  sein  —  eine  gefällig»'  Verbindung 
zwischen  den  gereihten  Blüthenmotiven :  der  altegyptisehe  Bogenfries 
kann  daher  nichts  Anderes  gewesen  sein  als  blosses  Ornament''-). 

Wir  begegnen  aber  in  der  altegyptischen  Kunst,  insbesondere  au 
Denkmälern  aus  der  Zeit  des  Neuen  Reiches,  noch  einem  anderen 
Schema  von  Flächenverzierung,  in  welchem  die  verbindenden  Ele- 
mente als  das  ]Maassgebende,  Musterbildende   erscheinen,  die 


Fig.  25. 
Spirale  mit  zwickelfüllenden  LotusbUithen. 

vegetabilischen  Motive  dagegen  als  das  Untergeordnete, 
Acciden teile.  Es  sind  dies  jene  Flächenverzierungen,  denen  das 
Motiv  der  Spirale  zu  Grunde  liegt. 

Die  Spirale  in   der  flächenverzierenden   Kunst   ist   ursprünglicli  ein 
rein  lineares,  also  ein  geometrisches  Element.    Wir  werden  weiter  unten 


*-)  Das  Gleiche  könnte  von  einer  anderen  Art  der  Verbindung-  von  Lotus- 
motiven  gelten.  Man  findet  häufig  die  von  einer  Lotusblüthe  bekrönten 
langen  Schaftsteng-el  mit  kleinen  tropfenförmigen  Gebilden  besetzt,  denen 
augenscheinlich  dasselbe  Vorbild  zu  Grunde  liegt,  wie  den  tropf enförmig-en 
Zwickelfüllungen.  Goodyear  (S.  50)  hat  dieselben  ohne  Zögern  für  Lotus- 
knospen erklärt,  aber  zugleich  auf  den  Widerspruch  einer  solchen  Anbringung 
der  Knospe  längs  des  Schaftstengels  mit  der  Wirklichkeit  hingewiesen,  da  in 
der  Xatur  jede  Knospe  von  einem  selbständigen,  aiis  dem  Wasser  empor- 
ragenden Stengel  getragen  wird.  Es  bleibt  sonach  kaum  Anderes  übrig,  als 
auch  diese  Art  der  Verbindung  zwischen  Knospen  und  Blüthe  aus  bloss  deko- 
rativen Beweggründen  heraus  zu  erklären.  In  diesem  Falle  nitn,  sowie  bei 
der  Verbindung  mittels  Bogenlinien  bilden  immer  die  Blüthen-  (oder  Knospen-) 
Motive  die  Hauptsache,  die  verbindenden  Linien  die  Nebensache,  das  Accidens 


72  -^-    Altorieiitalisches. 

auscbeiuend  primitive,  von  Aussen  lier  unbeeiiiflusste  Künste  zur  Yer- 
gleichung  heranziehen,  die  das  Pflanzenornament  gar  nicht  kennen,  aber 
die  Spirale  in  ausserordentlichem  Maasse  ausgebildet  haben;  es  soll 
dann  auch  auf  die  vielerörterte  Frage  nach  der  Entstehung  der  Spirale 
mit  einigen  Worten  eingegangen  werden.  "N'orerst  wollen  wir  aber  die 
Ai"t  der  Verwendung  der  Spirale  in  der  altegyptischeu  Kunst  in  Be- 
tracht ziehen.  Das  ursprüngliche  Schema  ist  auch  hier  dasjenige 
des  Streifens,  der  Bordüi'e,  des  Frieses  (Fig.  25).    Die  Spirale  rollt  sich 


Fig.  2ü. 
Innenmusterung  mit  Spiralen  und  zwickelfüllcndem  Lotus. 

ein  und  wieder  aus;  der  Mittelpunkt  wird  im  vorliegenden  Falle  deut- 
lich durch  eine  Rosette  gekennzeichnet;  ist  das  Ornament  in  kleinerem 
Maassstabe  gehalten,  namentlich  an  Metallgefässen,  dann  erscheint 
anstatt  d<r  viell)];ittrigcn  Rosette  ein  blosser  Kreis,  das  sogen.  Auge. 
Die  Zwickel ,  welch«-  die  ver1)ind<'nden  Liitien  mit  der  Peripherie 
der  kreisförmigen  Einrollungen  bilden,  sind  mit  deutliclicn  Lotus- 
blüthen  in  l'votW  ausgefüllt.  Es  leidet  hiernach  keinen  Zweifel:  das 
maassgebendc  Verzierungselement  ist  hier  die  Spirale,  dif 
lilüthenmoti ve  sind  dagegen  lUosse  Zuthaten,  hervorgerufen 
durch   das  Postulat  der  Zwickclfülluncr. 


1.    Egyptisches. 


73 


Mittels  der  Spirale  lassen  sich  aber  auch  ganze  Flächen  in  zu- 
Sc-immenhängencler  Weise  verzieren.  Ein  einfacheres  Beispiel  zeigt 
Fig.  26.  Zu  Grunde  liegt  das  Spiralenschema  von  Fig.  25,  fortwährend 
neben  einander  wiederholt,  aber  so,  dass  die  Einrollungen  immer  im 
Gegensinne  geschehen,  d.  h.  bei  der  einen  Spii'ale  rechts,  wenn  die 
benachbarte  Spirale  sich  links  einrollt.  Das  übrige  besorgen  die 
vegetabilischen  Zwickelfüllungen,  die  aber  nicht  Avie  in  Fig.  25  in  die 
Zwickel,  Avelche  die  einzelnen  Spiralen  an  sich  tragen,  eingefügt  sind, 
sondern  in   die   Zwickel,   welche   die  Einrollungen  von   immer  je  zwei 


Fig.  27. 
Innenmusterung  mit  Sxjiralen,  zwickelfüUendem  Lotus,  und  linkranien. 

benachbarten  Spiralen  in  Folge  ihrer  Annäherung  an  einander  bilden. 
In  diesem  Falle  sind  also  die  Lotusblüthen  nicht  mehr  blosse  Z^vickel- 
füllungen,  sondern  sie  dienen  zugleich  dazu,  um  die  Verbindung 
zwischen  den  einzelnen  Spiralen  und  damit  ein  zusammenhängendes 
Muster  über  die  ganze  Fläche  hinweg  herzustellen.  Dass  aber  diese 
erhöhte  Bedeutung  der  vegetabilischen  Motive  innerhalb  des  Spiralen- 
schemas nicht  die  ursprüngliche  ist,  und  dass  wir  nach  wie  vor  die 
geometrische  Spirale  als  das  Hauptmotiv  dieser  Art  von  Flächenver- 
zierung ansehen  müssen,  lehrt  eben  das  einfachere  Beispiel  Fig.  25. 

Ein  noch  reicheres  Beispiel  bietet  Fig.  27.    Die  einzelnen  Kreisein- 
rollungen  sind  hier  in  mehrfacher  Weise   untereinander  verbunden,  so 


74  -^-    Altorientalisches. 

dass  an  jedem  \n^e  statt  zweier  Linien  deren  fünf  znj^aniiui'iilanfen. 
Znr  Zwick elfüllunii'  sind  neben  Lotusblütlien  ancli  Knospen  verwendet, 
Avas  mit  Kücksielit  auf  die  Dentnnii'  der  Tropfenfüllungvn  an  den 
Volntenkelelien  von  Bedeutung-  ist"^\ 

Wenn  Avir  an  allen  diesen  Beispielen  (Fig*.  25 — 27)  das  Element  der 
Spirale  als  das  Maassgebende,  das  vegetabilische  Motiv  dagegen  als 
blosses  zwickelfüllendes  Accideus  aufgefasst  haben,  so  ist  Goodyear  in 
dieser  Beziehung  der  gegentheiligen  ^Icinung.  Entsprechend  der  (ii'und- 
tendonz  seines  Buches,  Avomöglicli  alles  antike  Ornament  aus  der  Ent- 
wicklnng  des  Lotusmotivs  abzuleiten,  will  er  auch  die  Spirale  nicht 
als  ein  selbständiges  Element,  sondern  nur  .ils  blosses  Derivat  vom 
Lotusmotiv  gelten  lassen.  Den  Ausgangspunkt  hiefür  erblickt  er  in 
den  Voluten  der  Lotusblüthe  mit  A'olutenkeleh.  Goodyear  dünkt  die 
Spirale  nichts  anderes,  als  eine  \'olnte.  ^'on  solchem  Gesichtspunkte 
betrachtet  wären  aber  die  Lotusblüthen  in  Fig.  25 — 27  niclii  mehr 
blosse  accidentelle  Zwickelfüllungen,  sondern  sie  müssten  dann  aucli 
in  allen  diesen  Fällen  für  die  Hauptmotive  angesehen  werden.  Den 
Beweis  liierfiir  führt  Goodyear^^)  hauptsächlich  an  der  Hand  vuii 
Scarabäen:  er  konnnt  hierbei  zu  dem  Schlüsse,  dass  das  Endresultat 
des  Ausbildungs-  und  Ablösungs-Processes  der  Voluten  in  den  concen- 
trischen  Ringen  vorliege.  Dass  Goodyear  ausser  Stande  ist.  den  his- 
torisclii'u  \'erlnuf  des  liezüglichen  Processes  an  der  Hand  eines  d,-itirien 
Materials  durchzuführen,  giel)t  er  sellist  zu.  Wir  kennen  l.)enkm;ilei-  der 
Spiralornamentik  liauptsäcidich  ans  dem  Neuen  Reiche:  gewiss  wird  sie 
aber  schon  iin  .Mten  Reiche  in  umfassendem  Gebrauclie  goi.indeii  sein, 
wenn  auch  die  Belege  dafür  sehr  gering  an  Zahl  sind.  Gleichwohl 
weiss  Fliuders  Petrie  einen  Scarabäus  mit  dem  ausgebildeten  Schema 
von  Fig.  25  in  die  frühe  Zeit  der  XL  Dynastie  zu  datiren^'*).  einen 
anderen  ohne  Zwick(?lfüllungen  in  die  Zeil  dei-  A'.  n\i):tstie.  l'ine 
scheinl)are  Rechtfertigung  der  Goodyear'sclien  HyixUiiese  liefern  nur 
jene  Beisfjiele,  an  den(Mi  die  Lotnsblfithen  als  Zwickelfüllnngen  zwischen 
zwei  sell)st;indigeii  fjuroilungeii  M-Mg.  ".Nii  fiingii'cn.  welch  letztere  d.imi 
als  Volntenkelch  für  die  Blüthe  aufgeiasst  werden  ktinntcii.  (ierade  an 
den  einfachsten  Beispielen  aber  (Fig.  25)  schliesst  sicli  ;in  die  lulh-nde 


^•^)  Die  Knliköpfo,  sind  ein  geg-ciistäiulliches  Symbol  (der  Jsis-Ibitlior;  und 
werden  von  Goodyear  u.  A.  als  die  frühesten  \'orläurer  der  Hukranicn  der 
griechLsch-römischen  Dekorationskmist   hczciclmet. 

'*)  S.  81  fl'.,  Taf.  VIII. 

'•'■)  Bei  Goodyear    i'al.   VIII.   NO.    17. 


1.    Eg-\ptisches.  75 

Zwickelblume  immer  jeweilig  nur  eiue  Einrolluug  als  supponirte  Volute 
an;  das  Fallenlassen  der  zweiten  Volute  erklärt  sich  Goodyear  leichten 
Herzens  so,  dass  es  eben  nicht  anders  möglich  war,  wenn  man  ein  fort- 
laufendes Muster  von  zusammenhängenden  Lotusblüthen  herstellen  AvoUte. 
Dass  aber  die  Altegypter  mit  ihren  typischen  und  hieratischen  Mustern 
gar  so  willkürlich  umgesprungen  wären,  um  nur  einen  untergeordneten 
dekorativen  Zweck  zu  erreichen,  dafür  bleibt  Goodyear  den  NacliAveis 
schuldig  und  dies  ist  wohl  auch  der  Punkt,  an  dem  seine  Beweisführung 
scheitert. 

Das  Material  aus  den  Stadien  früherer  Entwicklung,  das  Goodyear 
für  seine  Beweisführung  fehlt,  lässt  auch  uns  im  Stiche,  Avenn  wir 
unsere  Erklärung  an  der  Hand  von  Denkmälern  belegen  wollten.  Aber 
wir  sind  wenigstens  im  Stande  analoge  Erscheinungen  von  anerkannt 
primitivem  Kunstgebiete  her  beizubringen,  aus  deren  Betrachtung  sich 
die  für  unsere  bezügliche  Erklärung  grundlegenden  zwei  Thatsachen 
ergeben  werden:  erstens,  dass  dem  Element  der  Spirale  in  primitiven 
Kunststilen  ein  rein  geometrischer  Charakter  innewohnt,  und  zweitens, 
dass  das  Postulat  der  ZAvickelfüllung  in  denselben  pi-imitiven  Kunst- 
stilen als  ein  sehr  Avichtiges  und  maassgebendes  empfunden  AA'urde. 

Ein  solches  primitives  Kunstgebiet  ist  dasjenige,  das  die  Europäer 
bei  den  Eingeborenen  Neuseelands,  bei  den  Maori,  vorgefunden  haben. 
Heute  ist  diese  Kunst  unter  europäischem  Einflüsse  allerdings  schon  so 
gut  Avie  zu  Grunde  gegangen;  aber  man  hat  rechtzeitig  Denkmäler  der- 
selben in  genügender  Anzahl  in  europäische  Museen  zu  retten  gcAA^usst. 
Eine  sehr  bedeutende  und  lehrreiche  Collektion,  die  der  österreichische 
Reisende  Andreas  Reischek  zusammengebracht  hat,  ist  in  das  Wiener 
naturhistorische  Hofmuseum  gelangt.  Das  Studium  dieser  Sammlung 
ergiebt  in  Bezug  auf  die  Ornamentik  ein  festgeschlossenes  und  abgerun- 
detes, aber  doch  von  Allem  Avas  wir  sonst  an  Künsten  der  Naturvölker 
kennen,  eigenthümlich  abweichendes  Bild,  yvie  es  kaum  anders  zu  er- 
klären ist,  als  unter  Annahme  einer  lang  andauernden,  selbständigen, 
auf  ihren  eigenen  Spuren  einhergegangenen  Entwicklung.  Dazu  kommt, 
dass  Neuseeland  kein  Metall  besitzt,  seine  Eingeborenen  daher  auf  den 
Gebrauch  \"on  Steingeräthen  angewiesen  AA'aren,  in  deren  Herstellung 
sie  eine  überaus  grosse  Geschicklichkeit  erwarben.  Wären  die  Maori 
in  der  That,  wie  Einzelne  (darunter  begreiflichermaassen  auch  Goodyear) 
annehmen  möchten,  mit  der  malayischen  Kulturwelt  in  Verbindung 
gestanden,  so  Aväre  es  kaum  denkbar,  dass  nicht  ab  und  zu  Metall- 
geräthe  auf  die   Inseln  gekommen  Avären.     MöglicherAveise  haben  auch 


:6 


A.    Altorientalisches. 


die  Maori  vor  Zeiten,  bevor  sie  ciuf  Xeuscclaiul  isolirt  wurden,  den 
Gebrauch  der  Metalle  gekannt:  denkbar  wäre  dies  immerbin.  Aber 
dann  müsste  seither  ein  sehr  beträchtlicher  Zeitraum  verflossen  sein, 
wie  wir  ihn  für  das  Zustandekommen  einer  so  festgesehlosscMien  „Stein- 
zeif'-Kultnr  unbedingt  voraussetzen  müssen. 

Angesichts  der  vielen  durch  sei  es  stabilen,  sei  es  zufälligen  Handels- 
verkehr vermittelten  Beeinflussungen,  die  es  uns  in  der  Eegcl  so  schwer 
machen  an  den  Kunstübungen  lu-iniitiver  Völker  das  wirklich  Autoch- 
thone,  Urabgekonimene-  von  dt-m  Hinzugetragenen,  dureli  ^lischung  Er- 


Fig.  28. 
Tbeil  eines  ilurchbrocheueu  Canocschiiabcls  der  Maori. 

zeugteil  ZU  sclieiden,  ist  es  schon  ein  nngeliciircr  Gewinn  ein  Gebiet 
zu  überblicken,  das  verrauthlich  seit  Jahrtansenden  eine  von  Aussen 
unbeeinflusste,  ganz  selbständige  Entwiekhuig  genonmicn  hat^''). 

Da  ist  es  nun  vom  grössten  Interesse  zu  sehen,  dass  in  der  Orna- 
m(;ntik  der  Maori  die  Spirale  eine  überaus  maassgebende  Rolle  spielt. 
Sie  findet  sich  da  in  Holz  mittels  Kerbschnitt  eingearbeitet,  dann  in 
Holz  durchbrochen,  sodass  man  ein  Metallgitler  zu  sehen  wähnt  (Kig.  28), 
ferner  in  nussartige  Fruclitsclialeii  gravirt   iTig.  -JI»;,  wo  sich  ilie  Spirale 


^*)  Vergl.  die  Notiz  über  Neusceländi.sclic  Oniaiiiciitik  in  den  Mittheilung-cii 
der  anthropologi.schen  Gesellschaft  in  Wien  1.S90,  8.  Sl  tV.  TTieians  unsere 
Figg.  28,  2!J,  :}0. 


1.    Egyptisclies. 


77 


bandförmig  glatt  von  dem  scliraffirten  und  durch  den  eingedrungenen 
Schmutz  geschwärzten  Grunde  abhebt,  endlich  in  Stein  eingegraben 
und  dann  öfters  von  eingeschlagenen  Punkten  begleitet  (Fig.  30).  Diese 
Spirale  erweist  sich  als  nächstverwandt  mit  der  altegyptischen  durch 
den  Umstand,  dass  sie  sich,  so  wie  diese,  in  kreisförmigem  Schwünge 
erst  ein-  und  dann  vom  Mittelpunkte  wieder  herausrollt.  In  den  grossen 
Seitenfüllungen  der  Canoes  (Fig.  28)  beschreibt  jede  Spirale  eine  grössere 
Anzahl  von  Windungen ,  bis  im  innersten  Mittelpunkte  die  ein-  und  die 
ausrollende  Spirallinie  aneinander  absetzen:  man  sehe  aber  auf  der- 
selben Figur    die    äusserste  Windung   rechts,    wo    die    eingeschnitzten 


Fig.  29. 
Gravirung  auf  einer  Fruchtschale  der  Maori. 


Flg.  30. 

Gravirung  an 

einem  Netzsenker  der  Maori 


Spiraleinrollungen  bloss  durch  Tangenten  untereinander  verbunden  sind: 
also  im  Wesentlichen  das  altegyptische  Schema  von  Fig.  25.  Diese  selbe 
Windung  stellt  ein  schmales  Bordürenband  dar:  die  Zwickel,  Avelche 
die  Einrollungen  mit  den  Rändern  des  Bandes  bilden,  sind  durch  drei- 
eckige Figuren  oder  durch  gebrochene  Stäbchen  ausgefüllt.  Hierin 
äussert  sich  also  vollends  der  enge  Zusammenhang  mit  Fig.  25,  nur 
dienen  an  letzterem  Beispiele  vegetabilische  Lotusblüthen  zur  Zwickel- 
füllung, w^ährend  an  der  neuseeländischen  Schnitzerei  zu  diesem  Zwecke 
gemäss  dem  ausschliesslich  geometrischen  Charakter  dieser  Ornamentik 
blosse  Linienconfigurationen  herangezogen  erscheinen. 

Es    gilt  nun  zu   untersuchen,   ob  die  Ausbildung   der  Spiralorna- 
mentik bei    den  Neuseeländern    in  einer  mit  der  altegyptischen  nahe 


78  A.    Altorientalisches. 

verwandten  Kiohtung-  nicht  etwa  ans;  änssereu  Gründen  erfolgt  sein 
könne.  Gelänge  es  nachzuweisen,  dass  die  neuseeländische  Spirale  in 
Folge  bestimiuter,  rein  technischer  NothAvendigkeiten ,  in  Folge  eines 
daselbst  gegebenen  Materials,  oder  irgend  eines  anderen  materiellen 
Zwanges  entstanden  ist  und  ihre  hohe  Ausbildung  erlangt  hat,  so  niüsste 
untersticht  Averden,  ob  die  gleichen  Verhältnisse  nicht  auch  bei  den 
Altegypteru  zutrafen.  Es  ist  aber  i'ine  ausserordentlich  bemerkens- 
Averthe  Thatsache,  dass  gerade  für  die  neuseeländische  Spirale  die 
gemeinüblichen  Ableitungen  dieses  MotiA's  aus  rein  technischen  Ur- 
spilingen  versagen.  Die  Spirale  gilt  einmal  als  ein  typisches  Metall- 
ornanient  (Drahtspirale),  auf  Neuseeland  giebt  es  aber  kein  Metall  und 
daher  auch  keinen  Metalldraht.  Gottfried  Semper  (Stil.  I.  IG?)  scheint 
Aviederum  das  suggerirende  Element  der  Spirale  in  der  Drehung  des 
textilen  Fadens  erblickt  zu  haben:  auch  zur  Herstellung  eines  textilen 
Fadens  haben  es  die  Maori  nicht  gebracht.  Ebenso  A^ermissen  Avir  auf 
Neuseeland  Lederriemen,  die  durch  ihre  Zusammenrollung  dem  Maori  die 
formale  Schönheit  des  Spiralenmotivs  hätten  A^ermitteln  können.  Wohl 
giebt  es  und  gab  es  bei  ihnen  Flechtwerke,  die  sich  aus  einem  Mittel- 
punkt«' entwickeln,  und  an  denen  die  keineswegs  besonders  augen- 
fällige Spiral  Windung  mit  einigem  guten  AVillen  herausgebracht  werden 
kann.  Und  auf  diese  Avollte  man  im  Ernste  die  gesammte  Spiraloriia- 
mentik  der  Maori  zurückführen?  Gerade  das  harte  Material,  Holz  und 
Stein,  ist  es  unbegreiflicherAveise,  das  sich  die  Maori  ausgesucht  haben, 
um  in  dasselbe  mit  ihren  ObsidianAverkzeugen  unter  Aufwendung  un- 
säglicher Mühe  ihre  Spiralornamente  einzugraben.  Einen  Untergrund 
allerdings  verwe-ndeten  sie  liiefür,  der  diesem  Processe  Aveniger  Wider- 
stand entgegensetzte:  ihre  eigene  Körperhaut;  aber  auch  diese  hat 
Aveder  mit  nn-tallischem  noch  mit  textilem  Charakter  irgend  etAvas  zu 
thun.  Die  zierlichsten  und  kunstvollsten  Spiralwindungen  finden  sich 
in  den  Täto wirungen;  zum  Belege  hiefür  mögen  Fig.  31  und  32  dienen, 
die  aus  Lubbock's  „Entstehung  der  Civilisation"  entlehnt  sind.  Eine 
solche  Eilt  Wicklung  der  Spiralornamentik  müsstc  uns  selbst  dann  i-iUhscl- 
liaft  erscheinen,  Aveini  Avir  die  Gewissheit  besässen,  dass  die  Maori  vor- 
mals die  Kenntniss  der  Metalle  und  des  Dralitzielicns  besessen  liaben. 
Gerade  dieses  Beisjjiel  sagt  uns  vielmehr  (eindringlich,  dass  es  keines- 
Avegs  technisclie  Vorgänge  gcAvesen  sein  müssen,  die  bei  der  Urzeugung 
der  Motive  die  maassgebende  Kolle  gespielt   halx'ii^^). 

'';  Eine  sehr  Iclirrciche  und  ühcr.sicht liehe  ZusanimenstoUiing-  der  mannig- 
fachen Verwendung.sarten  der  Si»irale  in  der  Kunst  gab  A.  Andel  im  Pro- 


1.    Egyptisches. 


79 


Fassen  "svir  dagegen  die  Spirale  als  geometrisches  Kunstgebilde, 
hervorgebracht  auf  dem  "Wege  rein  künstlerischen  Schaffens,  im  Sinne 
unserer  Ausführungen  im  ersten  Capitel  S.  24.  Wir  fragen  alsdann 
nicht  nach  Naturerzeugnissen  oder  Produkten  technischer  Kunstfertigkeit, 
welche  zur  Erfindung  des  Spiralenmotivs  geführt  haben  mochten,  son- 
dern nach  der  Ucächst  einfacheren  geometrischen  Form,  aus  welcher  die 
Spirale  im  Wege  künstlerischer  Fortl^ldung  hervorgegangen  sein  konnte. 
Unter  den  planimetrischen  Grundmotiven  steht  ihr  der  Kreis  am  nächsten. 
Der  Kreis  ist  das  vollkommenste  aller  planimetrischen  Geljilde,  er  er- 
füllt  das  Postulat  der  Symmetrie  nach  allen   Seiten   liin.     Dies   allein 


Fig.  3J 


würde  schon  genügen  den  Umstand  zu  erklären,  dass  der  Kreis  weit- 
verbreitete AnAvendung  in  den  geometrischen  Stilen  gefunden  hat.  Die 
Gliederung  des  Kreises  erfolgte  am  vollkommensten  durch  seinesgleichen, 
in  koncentrischer  Eichtung,  durch  eingeschriebene  kleinere  Kreise  oder 
durch  Betonung  des  Mittelpunkts.  Setzte  man  Kreise  unter  einander 
mittels  der  Linie  in  Verbindung,  so  war  das  Element  der  Tangente 
geschaffen,  Koncentrische  Kreise,  durch  Tangenten  verbunden,  stehen 
aber  dem  einfachen  Spiralenband  (Fig.  25)  in  der  äusseren  Erscheinung 
bereits  sehr  nahe:  wollte  man  dieselben  mit  einem  fortlaufenden  Zuge 
hinzeichnen,  so  brauchte  man  bloss  die  Tangente  in  den  äusseren  Kreis, 


g-ramm    der   k.   k.    Staats-Unterrealschule    zu  Graz   1892:    Die  Spirale  in  der 
dekorativen  Kirnst. 


80  -^-   Altorientalisches. 

diesen  in  den  näclistinneivn  und  so  Aveiter  übcrzuseldeifen.  um  dann 
vom  Mittelpunkte  heraus  wieder  in  die  nächstfolgende  Tangente  über- 
zugehen. Freilich  ist  diese  Entwicklungsreihe  a  priori  konstruirt  und 
bedarf  erst  des  Beleges  an  der  Hand  von  erhaltenen  Denkmälern. 
Aber  die  üebersicht  von  Tal".  VIII  bei  Goodyear.  AV(>lelie  diese  Eeilie 
—  freilich  leider  ohne  eiue  gesicherte  chronologische  Ordnung^  lückenlos 
herstellt,  wird  manchem  Beschauer  den  geschilderten  Entwicklungsgang 
weit  natürlicher  erscheinen  lassen,  als  den  umgekehrten,  Avelchen  Good- 
year annimmt,  wonach  die  Spirale  als  vegetabilisches  Motiv  (der  Voluten- 
kelch der  Lotusblüthe)  das  Ursprüngliche  gewesen  Aväre,  und  im  Wege 
der  schrittweisen  Denaturirung  und  Geometrisirung  allmälig  zum  blossen 
linearen  Kreise  mit  mittlerem  Punkte  zusammengeschrumpft  wäre. 

Um  nun  kein  Missverständniss  aufkommen  zu  lassen,  Avill  ich  gleich 
ausdrücklich  erklären,  dass  ich  die  eben  versuchte  Ableitung  der  Spirale 
aus  dem  Kreisornamente  keineswegs  für  die  einzig  mögliche,  und  darum 
für  eine  zwingende  halte.  Es  war  mir  auch  nicht  so  sehr  darum  zu 
thun,  die  überzahlreichen  im  Schwange  befindliehen  Erklärungsversuche 
für  die  Spirale  und  dergleichen  allgemeine  und  uralte  Ornamente  um 
einen  neuen  zu  vermehren.  Meine  Absicht  ging  vielmehr  dahin,  dar- 
zuthun,  dass  eine  solche  Erklärung  —  Avenn  sie  schon  geliefert  werden 
soll  —  nicht  bloss  an  eine  primitive  Technik,  oder'^m  bestimmte,  wenig 
bedeutsame  Naturvorl)ilder  anzuknüiifen  braucht,  sondern,  dass  dieselbe 
auch  auf  ornament-entAvicklungsgeschichtlicliem  Wege  durchgeführt 
werden  kann,  womit  wir  Avenigstens  weit  mehr  auf  dem  ureigenen  Boden 
der  Kunst  bleiben,  als  mit  der  Citirung  irgend  einer  todten  Technik 
oder  einer  leeren  Abschreibung  der  Natur,  und  zwar  von  solchen 
Erzeugnissen  der  Natur,  die  bei  ihrer  geringen  Bedeutsamkeit  dem 
primitiven  Menschen  gar  nicht  aufgefallen  sein  können ^^\ 

Der  Vollständigkeit  halber  muss  hier  auch  der  Stübcrselicn  llv]'"- 
these  (üeber  altperuanische  Gewebemuster  etc.,  in  der  l'\'stscln-ift  des 
Vereins  f.  Erdkunde  in  Dresden  1888)  gedacht  werden,  die  insofern  der 
vorhin  versuchsweise  gegebenen  Ableitung  des  Spiralenmotivs  nahe 
kommt,  als  auch  Stübel  hiel)ei  von  den  koncentrlschen  Kreisen  ausge- 
gangen ist.  Aber  auf  so  zufällige  Weise  wie  das  Zusannnenbringcn  von 
bemalten  Thonscherben  oder  das  Zusammennähen  gemusterter  Stoffe, 
pflegen  Ornamente  nicht  zu  entstehen,  und  am  .illei-wenigsten  solche,  die 

'")  Die  ihnen  gefährliclieii  edcr  niitzliclieii  Tiiierc  IliIkmi  die  'rroglodvten 
wohl  nachgebildet.  al>er  k(;in(!  spirali^i-en  l{e))rankoii,  uml  gewiss  ;uicli  uiclit 
Geflechte,  wenn  si(!  deren  überlian])t  besessen  hätten. 


1.   Eg-yptisches.  gl 

über  den  ganzen  Erdbcill  ^'e^brc'ituno•  gefunden  haben.  Uebrigens  wird 
Niemand,  der  sich  für  die  Geschichte  des  geometrischen  Ornaments 
interessirt,  den  Stübel'schen  Aufsatz  ohne  Interesse  und  Nutzen  lesen. 

Von  anderer  Seite  hat  Prof.  A.  R.  Hein  in  Wien  in  einer  jüngst 
erschienenen  Schrift  über  „Mäander,  Kreuze,  Hakenkreuze  und  ur- 
motivische Wirbeloniamente  in  Amerika"  (Wien,  A.  Holder,  1891)  den 
in  Rede  stehenden  Gegenstand  berührt,  indem  er  darauf  liinwies,  dass 
einer  ganzen  Reihe  weitverbreiteter  primitiver  Ornamentformen  (z.  B. 
dem  Hakenkreuz)  die  Tendenz  innezuwohnen  scheint,  den  Begriff  des 
Rotirens,  d.  h.  SichbcAvegens  im  Kreise  sinnfällig  zu  machen.  Diese 
Tendenz  liegt  augenscheinlich  auch  der  Spirale  zu  Grunde,  und  es  ist 
völlig  denkbar,  dass  der  Symbolismus  gewisser  Völker  und  Zeiten  älin- 
liche  Vorstellungen  mit  der  Spirale  verknüpft  hat.  Dass  aber  der  An- 
stoss  zur  ersten  Entstehung  des  Spiral emnotivs  nach  dieser  Seite  zu 
suchen  wäre,  glaubt  wohl  auch  A.  R.  Hein  (der  übrigens  die  Spirale 
als  solche  in  seine  Betrachtung  nicht  einbezogen  hat)  nicht  annehmen 
zu  sollen,  da  er  es  (S.  28)  ausdrücklich  als  seine  Ueberzeugung  be- 
zeichnet, dass  die  Symbolik  die  schon  vorhandenen  (geometrischen) 
Formen  lediglich  für  ihre  Zwecke  adoptirt  hat^^). 

Um  also  das  Vorhandensein  des  Spiralenmotivs  in  der  altegyptischen 
Kunst  zu  erklären,  bedarf  es  keineswegs  des  Volutenkelchs  der  Lotus- 
blüthe  als  Ausgangspunktes,  sondern  wir  dürfen  dasselbe  ebenso  wie 
das  Zickzack,  die  koncentrischen  Ringe  (welche  Motive  Goodyear  aller- 
dings beide  auf  die  Lotusblüthe  zurückführt),  das  Schachbrettmuster 
u.  s.  w.  als  geometrische  Motive  einer  von  früherher  überkommenen 
Schmückungskunst  ansehen ,  als  welche  dieselben  Motive  in  den 
zweifellos  geometrischen  Ornamentstilen  anderer,  bei  rudimentären 
Kunstzuständen  verbliebener  Völker,  insbesondere  der  Maori  auf  Neu- 
seeland entgegentreten.  Und  das  Gleiche  gilt  von  dem  Postulat  der 
Zwickelfüllung,  das  wir  in  der  Kunst  der  Neuseeländer  in  ähnlicher 
Weise  beobachtet  sahen,  wie  in  der  altegyptischen  Kunst.  Zum  Beweise 
dessen  wurde  bereits  auf  die  äusserste  Windung  in  Fig.  28  hingewiesen. 
Man  beobachte  ferner  in  Fig.  31  und  32   die  Tätowirungeu  der  Nase; 


^^)  Auch  darin  ist  diesem  Autor  zuzustimmen,  wenn  er  die  „Erfindung 
der  Formen  zunächst  in  der  künstlerischen  Anlag'e  des  Menschen  und  in  dem 
Drang-e  nach  einer  Bethätigung-  des  Kunsttriebes  begründet"  ansieht,  doch 
geräth  derselbe  wenige  Zeilen  darauf  in  Widerspruch  mit  dem  eben  Gesagten 
wenn  er  das  Citat:  „geometric  ornament  is  the  offspring  of  technique"  in 
seiner  absoluten  Fassung  sich  zu  eigen  macht. 

Riegl,  Stilfragen.  6 


32  -^-   Altorientalisches. 

in  die  Zwickel  der  dieselbe  schmückenden  Spiralen  sind  beiderseits 
füllende  Schraffirungen  eingezeichnet.  Die  Art  und  Weise  die  Spiralen- 
zwickel mittels  .Schraffen  zu  füllen,  ist  —  wie  ich  gleich  hier  vor- 
bemerken will  —  auch  der  mykenischen  Kunst  sehr  geläufig;  bei  Be- 
sprechung des  Pflanzenornaments  in  dieser  letzteren  Kunst  Avird  auch 
auf  diesen  Umstand  zurückzukommen  sein. 

Hier  am  Schlüsse  unserer  Betrachtungen  über  die  Errungenschaften 
der  Altegj'pter  in  der  Heranziehung  der  Pflanze  zu  reinen  Schmückungs- 
zwecken  erscheint  es  wohl  angebracht,  einige  allgemeine  Worte  über 
Stellung  und  Bedeutung  der  altegyptischen  Kunst  innerhalb  der  Ge- 
schichte der  dekorativen  Künste  überhaupt  anzufügen.  Soweit  wir  zu 
sehen  vermögen,  ist  die  altegyptischc  Kunst  die  erste  gewesen,  die 
Elemente  von  unzweifelhaft  pflanzlichem  Charakter  unter  die  reinen 
Zierformen  aufgenommen  hat.  Hat  sie  diesbezüglich  eine  Vorgängerin 
gehabt,  so  müssen  die  Spuren  des  Daseins  dieser  letzteren  vollständig 
ausgelöscht  worden  sein;  bis  jetzt  wenigstens  sind  solche  nicht  zu 
Stande  gebracht  worden.  Dagegen  haben  Avir  im  Capitel  über  den 
geometrischen  Stil  (S.  16  flP.)  primitive  Künste  aus  verhältnissmässig  frühen 
Kulturperioden  der  Menschheit  in  der  Hinterlassenschaft  der  aqui- 
tanischen  Höhlenbewohner  kennen  gelernt,  die  Avir  somit  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  als  Maassstab  für  die  Bourtheilung  der  EntAvicklung 
der  dekorativen  Künste  bei  dem  ältesten  uns  bekannt  gewordenen 
Kulturvolk,  bei  den  Egyptem,  benützen  können.  Welche  Bedeutung 
hat  nun  das  Kunstschaff"en  der  Egypter  für  die  Entwicklung  der  dekora- 
tiven Künste  im  Allgemeinen  gehabt? 

Diesbezüglich  führt  die  Betrachtung  der  altegyptischen  Künste  zu 
einem  sehr  widerspruchsvollen  Ergebniss.  Die  Egypter  haben  zwar 
ornamentale  Typen  von,  so  zu  sagen,  ewiger  Geltung  geschaöen,  aber  es 
drängt  sich  jeweilig  sofort  die  Bemerkung  auf,  um  wie  viel  besser  es 
späterhin  Andere  gemacht  haben,  und  zwar  nicht  erst  die  gottbegnadeten 
Hellenen,  sondern  selbst  schon  die  Assyrer  und  die  Phönikor.  Besonders 
augenfällig  tritt  ein  anscheinender  Mangel  an  natürlielier  Begaluing 
für  dekoratives  Kunstschaffen  an  den  Bordüren  zu  'l\ige,  deren  Ver- 
liältniss  zu  den  eingerahmten  Innenflächen  mit  seltenen  Ansnahmen 
kein  glücklich  gewähltes  ist.  Noch  Avenigcr  erscheinen  die  Ecklüsungen 
gelungen;  das  Auge  wird  von  diesen  häufig  geradezu  unangenehm 
betroffen.  Auch  die  an  Zahl  vorwiegenden  geometrischen  Muster  in  den 
schmalen  Bordüren  dcnten  auf  eine  Vernachlässigung  dieser  Seite  des 
Kunstschafl'ens.     Gieichermaassen  spielt  in  der  altegyptischen  Keramik 


1.   Egyptisches.  §3 

der  einfache  geometrische  Dekor  die  überwiegende  Rolle.  Allerdings 
kann  man  auch  häufig  die  menschliche  Figur  zu  blossen  Schmückungs- 
zwecken  herangezogen  sehen,  doch  wird  uns  dieser  Umstand  nicht  mehr 
so  üben'aschen,  seitdem  wir  gesehen  haben,  dass  die  plastische  Wieder- 
gabe von  Naturwesen  zu  ornamentalen  Zwecken  dem  Menschen  bereits 
auf  der  Kulturstufe  der  Troglodyten  eigen  war.  Das  Können  dieser 
letzteren  blieb  zwar  hinter  demjenigen  der  Egypter  um  ein  Erkleck- 
liches zurück,  aber  im  Kunstw^ollen  war  der  Abstand  keineswegs  ein 
unüberbrückbarer.  Die  Verwendung  der  menschlichen  Figur  in  Rund- 
W'Crk  zu  einem  Löffel-Handgrifl"  ist  nicht  wesentlich  höher  zu  stellen, 
als  diejenige  eines  Rennthiers  zu  ähnlichem  Zwecke,  namentlich  wenn 
dies  in  so  kunstverständiger  Weise  geschehen  ist,  wie  wir  es  in  Fig.  1 
kennen  gelernt  haben. 

Man  könnte  aus  dem  Gesagten  die  Berechtigung  ableiten,  den  Alt- 
egyptern  in  Bezug  auf  die  Entwicklung  der  dekorativen  Künste  nicht 
ein  so  entschiedenes  Hinausschreiten  über  die  Kunststufe  der  Troglo- 
dyten zuzubilligen,  als  man  es  nach  anscheinend  so  fundamentalen 
Leistungen  wie  die  Schaffung  von  pflanzlichen  Ornamenttypen,  erwarten 
dürfte.  Ein  solches  Urtheil  wäre  aber  ein  einseitiges;  um  jener  Er- 
scheinung wirklich  gerecht  zu  werden,  muss  man  die  Stellung  der  alt- 
egyptischen  Kunst  in  der  Kunstgeschichte  überhaupt  in's  Auge  fassen. 
Da  neigt  sich  die  Wage  sofort  zu  Gunsten  der  Egypter.  Die  egyptische 
Kunst  hatte  sich  eben  —  die  Erste  soviel  wir  wissen  —  Aufgaben  ge- 
stellt, die  weit  über  die  Befriedigung  eines  blossen  Schmückungstriebes 
hinausgingen.  Die  Kunst  der  alten  Egypter  war  im  Wesent- 
lichen von  gegenständlicher  Bedeutung.  Das  Kunstschaffen 
hatte  bei  ihnen  nicht  mehr  bloss  den  Zweck  des  Schmückens,  seine 
vornehmste  Bestimmung  lag  vielmehr  darin,  Empfindungen,  Stimmungen, 
Vorstellungen  Ausdruck  zu  geben,  die  mit  der  reinen  Freude  am  Schönen 
nichts  Unmittelbares  gemeinsam  hatten:  ich  verweise  hiefür  bloss  auf 
die  umfassende  Verwendung  der  Kunst  im  egyptischen  Sepulkralwesen. 
Wenn  wir  in  dem  Aufkommen  solcher  Anforderungen  an  das  Kunst- 
schaffen zweifellos  das  Zeugniss  einer  höheren,  vollkommeneren  Kultur- 
stufe zu  erblicken  haben,  so  sind  die  Egypter,  so  viel  wir  sehen,  die 
Ersten  gewesen,  denen  es  gelungen  ist,  sich  zu  dieser  Kulturstufe  empor- 
zuschwingen. 

Die  künstlerischen  Aufgaben,  die  den  Egypteni  aus  den  also  ver- 
änderten und  gesteigerten  Kulturverhältnissen  erwuchsen,  waren  so 
hochgespannte,  die  Schwierigkeiten  ihrer  Lösung  mit  Rücksicht  auf  das 


«n;j.  A.   Altovientalisches, 

Fellleu  aller  und  jeg'licher  Vorbilder  so  bedeutende,  dass  den  bezüg- 
lichen Versuchen  und  Bestrebungen  gegenüber  alles  Andere  in  den 
Hintergrand  tretfen  musste.  Der  naive  Horror  vacui,  der  alle  Flächen 
mit  buntem  Schmucke  überzieht,  und  der  abgeklärte  Kunstsinn,  der 
das  Höchste,  das  Göttliche,  in  sinnlichen  Formen  darzustellen  sich  be- 
müht, sie  sind  beide  ursprünglich  durch  eine  ganze  Welt  getrennt. 
Eeligiüse  und  politische  Ideen  waren  es,  von  denen  die  Egypter  bei 
ihrem  Kunstschaffen  erfüllt  waren:  das  rein  Dekorative,  bloss  der 
Schmuckfreudigkeit  Genügende,  konnte  sie  nur  in  Aveit  minderem  Grade 
beschäftigen. 

In  weit  minderem  Grade !  Es  wäre  aber  viel  zu  weit  gegangen, 
wenn  man  behaupten  wollte,  dass  das  Reinornamentale  die  Egypter 
überhaupt  niclit  l)eschäftigt  hat.  Die  Lotustypen  sind  geAviss  ursprüng- 
lich nicht  als  Ornamente,  sondern  um  der  gegenständlichen  Bedeutung 
willen,  die  dem  Lotus  in  den  Kulturvorstellungen  der  Egypter  zukam, 
von  den  cgyptischen  Künstlern  auf  die  Wände  der  Grabkammern  ge- 
meisselt  und  gemalt,  oder  als  Eundwerk  in  Stein  gehauen  worden. 
Aber  ebenso  gewiss  haben  dieselben  Typen  auch  schon  bei  den  Egyp- 
tern  des  Alten  Reiches  um  ihrer  formalen  Schönheit  willen  auf  Schmuck- 
sachen und  Gebrauchsgeräth  ihren  Platz  gefunden.  Es  hiesse  den 
ganzen  Reichthum  künstlerisch  ausgestatteter  Kleinsachen  übersehen, 
die  uns  die  Gräber  aus  der  Pharaonenzeit  bewahrt  haben,  wenn  nuin 
den  Egyptern  allen  Sinn  für  gefälligen  Schmuck  um  seiner  selbst  willen 
absprechen  wollte.  Dieses  Volk  hat  zweifellos  schon  selbst  versucht, 
zwischen  den  beiden  extremen  Polen  im  Kunstschaffen  einen  Ausgleich 
zu  finden:  einerseits  dem  auf  Schaffang  einer  blossen  Augenweide  ab- 
zielenden Schmückungstriobe,  anderseits  dem  Bestreben,  den  bedeut- 
samsten Ideen  und  Empfindungen  der  Menschen  sinnlichen  Ausdruck 
zu  leihen.  Die  Egypter  waren  ja  die  Ersten,  so  viel  wir  sehen,  die 
sich  zwischen  diese  beiden  Pole  gesetzt  fanden.  Dass  nicht  sie  es  auch 
waren,  die  eine  endgiltig  befriedigende  Lösung  gefunden  haben,  wird 
man  ihnen  kaum  verdenken  können.  Wie  der  Leistungsfähigkeit  der 
Individuen  eine  Grenze  gesetzt  ist,  so  scheint  dasselbe  bei  den  Völkern 
der  Fall  zu  sein.  Und  der  grossen  grundlegenden  Leistungen  in  der 
Kunstgeschichte  haben  die  Egypter  doch  genug  aufzuweisen,  so  dass 
man  die  Erschöpfung  begreift,  die  es  ihnen  schliesslich  unmöglich  ge- 
macht hat,  das  Ziel  zu  erreichen,  an  das  erst  die  Hellenen  gekommen 
sind:  Formschönes  und  inhaltlich  Bedeutsames  in  harmonischer  Weise 
mit  einander  zu  verschmelzen,  mit  Bedeutung  gefällig  zu  sein. 


1.   Eg-yptisches.  g5 

Dieser  Punkt  ist  zu  wiclitig,  als  dass  es  ungereclitfertigt  erscheinen 
könnte  noch  einen  Augenblick  dabei  zu  verweilen.  Zum  besseren  Ver- 
ständnisse desselben  will  ich  noch  eine  Parallele  dazu  von  einem 
anderen,  ganz  bestimmten  Kunstgebiete  beibringen.  Die  Altegypter 
waren  unseres  Wissens  auch  die  Ersten,  die  eine  wahrhaft  monumentale 
Baukunst  gepflegt  haben.  Die  Voraussetzung  für  eine  solche  ist  die 
Verwendung  unvergänglichen  Materials:  des  Steins  oder  seines  Surro- 
gats, des  Ziegels.  Die  Egypter  haben  nun  ihre  Tempel  bereits  in  Stein 
ausgeführt  —  Tempel  von  solcher  Dauerhaftigkeit,  dass  sie,  wie  bekannt, 
vielfach  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  aufrecht  stehen  geblieben  sind. 
Die  Erfindung  des  Steinbaues  war  eine  höchst  respektable  technische 
Leistung,  aber  auch  von  künstlerischem  Standpunkte  muss  uns  der 
egyptische  Säulensaal  mit  steinerner  Decke,  als  am  x\nfange  aller  monu- 
mentalen Architektur  stehend,  als  eine  für  den  ersten  Anlauf  höchst 
bedeutsame  Errungenschaft  erscheinen.  Seine  künstlerischen  Qualitäten 
verräth  der  egyptische  Tempel  aber  im  Wesentlichen  bloss  im  Innern: 
die  einfach  geböschten  massiven  Aussenmauern  entbehren  —  mit  Aus- 
nahme der  mehr  äusserlich  angefügten  Frontbeigaben  —  fast  jeder 
künstlerischen  Behandlung.  Den  Ausgleich,  für  den  auch  die  Meso- 
potamier  —  auf  anderen  Wegen  suchend  —  noch  keine  völlig  befrie- 
digende Formel  gefunden  haben,  wurde  erst  von  den  Hellenen  zu  Stande 
gebracht,  indem  sie  dem  Säulenbau  auch  im  Aeusseren,  nach  der  rein 
formellen  Seite,  jene  harmonische  Durchbildung  zu  verleihen  wussten, 
dass  der  hellenische  Tempel  als  unvergleichliche  künstlerische  Einheit, 
und  als  solche  als  Unicum  in  der  ganzen  bisherigen  Kunstgeschichte 
dasteht.  Das  Gleiche  lässt  sich  nun  auch  auf  dem  Gebiete  der  dekora- 
tiven Künste  wahrnehmen,  auf  dem  die  Formen  hauptsächlich  „gefällig" 
sein  sollen,  und  die  „Bedeutung"  wenigstens  um  ihrer  selbst  willen  in 
der  Regel  nicht  gesucht  wird.  Auch  die  Ornamentik  dankt  den  Hel- 
lenen die  reifste  Durchbildung  im  Sinne  des  Formschönen,  unter  gleich- 
zeitiger Heranziehung  inhaltlich  bedeutsamer  Formen,  die  sich  aber  den 
maassgebenden  dekorativen  Anforderungen  stets  gefällig  unterzuordnen, 
anzuschmiegen  wissen.  Den  Egyptern  konnte  es  nicht  vergönnt  sein, 
es  auch  noch  zu  dieser  Vollkommenheit  zu  bringen;  sie  hatten  reich- 
lich ihr  Tagewerk  gethan,  und  mussten  jüngeren,  ungenutzten  Volks- 
kräften die  Fortführung  des  Begonnenen  überlassen.  Es  wird  nun  eine 
überaus  lehrreiche  Erscheinung  sein  zu  beobachten,  wie  die  altorien- 
talischen Kulturvölker,  die  allem  Anscheine  nach  von  den  Egyptern 
den  entscheidenden  Anstoss  zu  ihrem  ferneren  Kunstschaffen  erhalten 


86  -^-    Altorientalisches. 

haben,  auf  den  Schultern  ihrer  Lehrmeister  emporsteigen,  und  die  Orna- 
mentik in  der  Eichtung,  die  sie  schliesslich  bei  den  Griechen  genommen 
hat,  zwar  langsam  aber  stetig  fortentwickeln.  Die  grossen,  übermäch- 
tigen Aufgaben,  die  der  egyptischen  Kunst  aus  der  Inanspruchnahme 
durch  Religion  und  Politik  erwachsen  Avaren,  sie  waren  zwar  auch  für 
die  nachfolgenden  orientalischen  Völker  vorhanden,  aber  doch  in  weit 
minderem  Grade.  Wir  werden  sofort  sehen,  in  welchem  Maasse  gleich 
die  nächsten  Gründer  einer  orientalischen  "Weltmonarchie  nach  den 
Egyptern,  die  Mesopotamier,  über  die  ornamentalen  Leistungen  ihrer 
Vorgänger  hinausgeschritten  sind. 

2.    Mesopotamisclies. 

Die  Zweitälteste  Kultur  und  Kun^l,  die  in  der  Geschichte  des 
Alten  Orients  nachweislich  von  Aveitreichender  Bedeutung  gcAvesen  ist, 
hat  in  Mesopotamien  ihren  Sitz  gehabt.  Leider  stammen  die  Denk- 
mäler, die  uns  von  dieser  Kunst  erhalten  sind,  fast  ausschliesslich  erst 
aus  der  verhältnissmässig  späten  Zeit  der  Assyrerherrschaft.  Was  vor 
dem  Jahre  Eintausend  v.  Ch.  liegt,  darüber  haben  wir  mir  unzu- 
reichende Kunde  auf  Grund  sehr  vereinzelter  Denkmäler,  deren  älteste 
kaum  in  die  Zeit  der  Thutmessiden,  also  des  in  der  egyptischen  Ge- 
schichte verhältnissmässig  späten  Neuen  tlu'banischcn  Reiches  zurück- 
gehen. Wir  vermögen  daher  nicht  einmal  vollkonmien  sicher  zu  ent- 
scheiden, in  wieweit  die  Chaldäer,  also  die  Bewohner  des  unteren 
Euphrat-Tigris-Landes,  in  der  That,  wie  man  allgemein  vermuthet,  die 
ersten  Begründer  einer  höheren  Kultur  und  Kunst  in  dem  ganzen 
gi'ossen  mesopotamischen  Stromgebiete  gewesen  sind.  Wenn  daher  im 
Folgenden  von  assyrischer  Ornamentik  die  Rede  sein  Avird,  so  bleibt 
hiebei  ausdrücklich  die  Möglichkeit,  ja  Wahrscheinlichkeit  vorbehalten, 
dass  die  Ehre  der  Errungenschaften  dieser  Kunst  den  Ghaldäern, 
vielleicht  wenigstens  zum  Thcil  auch  den  Elamiten,  zugeschrieben  wer- 
den müsste. 

I'.s  kann  liier  njclit  dei'  Platz  sein,  die  Bedeutung  der  assyrischen 
Kun.st  für  den  Entwicklungsgang  der  Ornamentik  in  voll  entsprechen- 
dem Maasse  zu  würdigen.  Es  Aväre  hiefür  vor  Allem  nothwendig,  das 
Verhältniss  d«-r  Menschen-  und  Tliiertigur  zur  Orii.iiiientik  1)ei  den 
.Vssyrern  klarzustellen;  einzelnes  l)i(;rauf  Bezügliches  hat  übi-igens  im 
Oapitel  über  den  Wa])i)enstil  Erörterung  gefunden.  Aber  das  muss  im 
-Mlgemeiueu  naclidrücklich   hervorgehoben    wcrdiii,    dass    wir  in  der 


2.   Mesopotamisches.  37 

assyrischen  Kunst  zuerst  die  für  die  spätere  Entwicklung- 
der  Künste  bei  den  Mittelmeervölkern*")  so  fundamentale 
Scheidung  zwischen  Bordüre  und  Decke,  Rahmen  und  Fül- 
lung", statisch  Funktionirendem  und  statisch  Indifferentem 
in  mehr  oder  minder  bewusster  Weise  durchg-eführt  sehen. 
Audi  bei  den  Egyptern  gewahren  wir  die  figürlichen  Darstellungen  in 
der  Fläche  von  Säumen  eingefasst,  doch  sind  diese  Säume,  mit  sehr 
geringen  Ausnahmen,  von  höchst  einfacher  Musterung,  die  sich  im 
Wesentlichen  bloss  auf  gereihte  Stäbchen  oder  auf  Zickzacklinien*') 
beschränkt.  In  ganz  besonders  bezeichnender  Weise  äussert  sich  diese 
schwache  Seite  des  ornamentalen  Sinnes  bei  den  Egyptern  an  den- 
jenigen Stellen,  wo  zwei  Säume  unter  einem  rechten  Winkel  aufein- 
anderstossen,  wo  es  sich  also  um  eine  Ecklösung  handelt.  Häufig 
sind  beide  auf  einander  stossende  Säume  ungleich  gemustert  und  laufen 
sich  einer  an  dem  anderen  todt*^).  Bei  den  Assyrern  gewahren  wir 
dagegen  zum  ersten  Male  ein  konsequent  durchgeführtes  System  einer 
gleichmässigen  Umrahmung,  unter  Berücksichtigung  einer  künstlerisch 
befriedigenden  Ecklösung*^).  Damit  steht  in  engstem  Zusammenhange 
der  Umstand,  dass  die  Assyrer  jene  Anläufe,  die  die  Egypter  mit  dem 
vegetabilischen  Element  und  mit  den  Versuchen  einer  gefälligen  Ver- 
bindung desselben  gemacht  hatten,  ihrerseits  mit  Entschiedenheit  auf- 
genommen und  in  weit  umfassenderer  und  bestimmterer  Weise  zur  An- 
wendung gebracht  haben. 

Die  Elemente  der  assyrischen  Pflanzeuornamentik  Avurzeln  in  der 
egyptischen.  Ich  sehe  wenigstens  nirgends  eine  Nöthigung  vorhanden, 
um  mit  Sybel  annehmen  zu  müssen,  dass  das  in  der  Kunst  des  Neuen 


*")  Zu  den  Mittelmeervölkern  in  kulturhistorischem  Sinne  müssen  wir 
auch  die  Bewohner  Mesopotamiens  und  Irans  zählen,  da  sie  allezeit  sowohl 
in  ihren  politischen  als  in  ihren  religiösen  Beziehungen  nicht  nach  dem  Osten 
Asiens,  sondern  nach  dem  Mittelmeere  gravitirten. 

^')  Am  besten  gelingt  es  noch  an  Werken  der  sogen.  Kleinkunst,  z.  B. 
an  den  bei  Prisse  d'Aveunes,  Boites  et  ustensiles  de  toilette  abgebildeten  höl- 
zernen Löffeln,  die  von  einer  Ziclvzacklinie  eingefasst  sind. 

■*-')  Anläufe  zu  Ecklösungen  an  Plafonddelvorationen  zeigen:  Prisse 
d' Avenues,  Guillochis  et  meandres,  links  oben  in  der  Ecke,  mit  Zickzack; 
ebeudas.  postes  et  tteurs,  links  unten  in  der  Ecke,  mit  dem  Vorläufer  des 
Eierstabs  (Fig.  23).  Diese  Beispiele  beweisen,  dass  das  zu  Grunde  liegende 
künstlerische  Postulat  auch  den  Altegyptern  bereits  klar  geworden  war,  aber 
von  ihnen  noch  nicht  zur  absoluten  Geltung  und  konsequenten  Durchführung 
gebracht  worden  ist. 

*^)  Vgl.  z.  B.  die  Steinschwelle  Fig.  34  nach  Layard,  Ninive  IL  56. 


88 


A.    Altorientalisches. 


Reiches  von  Egypten  auftretende  Pllanzenornament")  auf  asiatischen 
Ursprung'  zni'ückzuführen  wäre.  Der  Umstand,  dass  Palmctte  und  Ro- 
sette im  ersten  Jahrtausend  v.  Ch.  das  beliebteste  Ornament  der  assy- 
rischen Kunst  ausgemaclit  haben,  beweist  noch  gar  niclits  für  einen 
mesopotamischen  Ursprung  dieser  Motive.  Noch  umfassendere  Verwen- 
dung hat  die  Palmette  späterhin  in  der  griechischen  Kunst  gefunden, 
und  doch  Avird  kaum  Jemand  behaupten,  dass  sie  von  den  Griechen 
selbständig  erfunden  worden  ist.     Audi  niüsste  es   autfällig  erscheinen, 


Fig.  33. 
Gemaltes  assyrisches  Bordliroiimuster. 


dass  die  Egypter,  Avenn  sie  schon  Rosette  und  Palmctte  entleJint  hätten, 
gerade  das  beliebteste  Bordenmotiv  der  ^^lesopotamier  —  das  sofort  zu 
betrachtende  Flechtband  —  niclit  anch  in  ilii'c  Ornanieiitil<  aufgenommen 
lijibfu  sollten. 

betrachten  wir  einmal  eine  Wandborde  (Fig.  33)'^),  die  sieh  auf 
emaillirten  Ziegeln  im  Schutte  des  ältesten  ninivitischen  Palastes  aus 
derzeit  des  Assurnasirpal  (10.  Jaln-li.  v.  Cli.)  gefunden  hat.   Wir  gcwalircn 

••*;  Nur  der  Hltcren  Form  der  Lotusblütiie  (Fi^-.  1)  und    dem   souen.  Pa- 
])yrus  will  Svl)el  die  egyptisclie  Provenienz  ciuräumen. 
*'■')  Aus  Layard,  Ninivc  T.  Hfi. 


2.   Mesopotamisches.  89 

da  einen  Mittelstreifen,  gebildet  durch  ein  Flechtband,  beiderseits  be- 
säumt von  einer  Eeihe  von  Pflanzenmotiven,  die  mittels  abgeflachter, 
bandartiger  Bogenlinien  unter  einander  verbunden  sind. 

Was  zunächst  das  Flechtband  betrifft,  so  kann  dasselbe  als  beson- 
ders charakteristisch  für  die  mesopotamische  Kunst  bezeichnet  werden, 
da  sich  gleichartige  Vorbilder  in  der  egyptischen  Kunst  Insher  nicht 
gefunden  haben^^).  Ueber  seinen  Ursprung  hat  man  sich  bisher  kaum 
welchen  Zweifeln  hingegeben.  Seit  Semper  die  Parole  vom  „Urzopf" 
ausgegeben  hat,  galt  die  Abkunft  des  Flechthandes  vom  Zopfgeflecht 
für  ausgemacht.  Wer  sich  aber  nicht  bedingungslos  zum  herrschenden 
Kunstmaterialismus  bekennen  will,  wii'd  doch  fragen,  was  denn  die 
Menschen  veranlasst  haben  konnte,  gerade  ein  so  untergeordnetes 
Ding  wie  einen  Zopf  zu  kopiren,  um  damit  die  für  ewige  Dauer  be- 
rechneten Monumente  zu  schmücken?  Wer  in  den  linearen  geometri- 
schen Ornamenten  nicht  mehr  Abschreibungen  von  Zäunen  und  Bast- 
geweben erkennen  will,  wird  dies  auch  vom  Zopf  nicht  mehr  noth- 
wendig  finden.  Sein  eigenes  Ebenbild,  sowie  gewisse,  durch  ihre  Stärke 
oder  Nützlichkeit  auffällige  Thierspecies ,  hat  der  Mensch  wohl  zu 
Schmückungsz wecken  aus  der  Natur  direkt  kopirt,  späterhin  schön 
gegliederte  Vasen  und  schlanke  Kandelaber  u,  s.  w.  Dass  ihm  aber 
daneben  der  Zopf  selbst  als  Träger  des  Formschönen  aufgefallen  wäre, 
kann  nur  in  der  Vorstellung  eines  Kunstmaterialisten  ernsthaft  glaub- 
lich erscheinen,  und  dass  ein  ganzes  Zeitalter  daran  nichts  Bedenk- 
liches finden  konnte,  Avird  manchem  Späteren  Veranlassung  geben,  auf 
unsere  eigenthümlich  verbildeten  Kunstanschauungen  mit  einer  nicht 
ganz  unverdienten  Geringschätzung  zurückzublicken. 

Innerhalb  der  Entwicklungsgeschichte  des  Pflanzenornaments  hat 
das  Flechtband  nur  einmal  bei  den  Griechen,  in  verhältnissmässig  vor- 
geschrittener Zeit,  eine  untergeordnete  Rolle  gespielt  (Fig.  84).  Ich 
erachte  mich  daher  der  Nothwendigkeit  überhoben,  die  müssigen  Ab- 
leitungsversuche für  primitive  Ornamente  abermals  um  einen  vermehren 
zu  sollen.     Dass    ich   geneigt    sein   werde,    das    Flechtband   unter   die 

■"')  Goodyear  weiss  allerdiug-s  auch  das  Flechtbaud  in  Verbindung  mit 
seiner  Lotus-Theorie  zu  bringen :  the  guilloche  is  an  abbreviated  spiral  scroll. 
Hienach  wäre  das  Flechtband  aus  der  Spiral- Welle  entstanden.  Für  diesen 
Uebergangsprocess,  der  übrigens  meiner  Ueberzeugung  nach  mit  dem  Lotus 
gar  nichts  zu  thun  haben  würde,  Avüsste  ich  aber  nur  ein  einziges  stützendes 
Beispiel  aus  verhältnissmässig  später  Zeit,  nämlich  aus  mylvenischem  Gebiete 
(Schliemann,  Mykenä  288,  Fig.  359)  anzuführen. 


90  -^-    Altorieiitalisches. 

linearen  Compositionen  nach  den  allcinigiii  forragebenden  Gesetzen 
von  Symmetrie  nnd  Rliytbmus  zu  zählen,  brauche  ich  nach  all  dem 
Gesagten  kaum  ausdi'üoklich  zu  erwähnen.  Weit  wichtiger  für  die 
besonderen  Zwecke  unserer  Untersuchung  sind  die  das  Flechtband  in 
Fig.  33  besäumenden  Pflanzenmotive.  Wir  erkennen  darin  dreierlei 
verschiedene  Motive:  eine  Knospe,  eine  Palmette  und  eine  dreispaltige 
Blüthe.  Und  zwar  ist  die  rhythmische  Reihenfolge,  in  welcher  die 
drei  Motive  wiederkehren,  folgende:  Palmette,  Knospe,  Palmette,  Blüthe, 
Palmette,  Knospe  u.  s.  f.  Es  ist  dies  dieselbe  Art  der  gruppemveisen 
Alternirung  dreier  Elemente,  die  wir  bereits  in  der  egyptischen  Orna- 
mentik (Fig.  22)  angetrofi"en  haben,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass 
dort  die  Lotusblüthe  und  hier  die  Palmette  das  doppelt  wiederkehrende, 
also  das  Hauptmotiv  bildet,  und  das  palmettcnfächerartige  Blüthen- 
motiv  jener  egyptischen  Borde  hier  durch  das  unzAveifelhafte  Palmetten- 
motiv selbst  ersetzt  erscheint. 

Diskutiren  wir  nun  die  Formen  im  Einzelnen,  wobei  wir  die  Art 
ihrer  Verbindung  untereinander  vorläutig  ausser  Acht  lassen  wollen. 
Am  wenigsten  ist  über  die  Form  der  Knospe  zu  sagen;  auffällig  gegen- 
über den  egyptischen  Seitenstücken  ist  hier  nur  die  schuppenförmige 
Musterung^').  Die  Palmette  zeigt  dagegen  schon  grössere  Abweichungeu 
vom  egyptischen  Schema  des  Lotus  in  halber  Vollansicht  (der  egyp- 
tischen Lotus -Palmette  (Fig.  16)).  Während  an  letzterer  Keleli  und 
Fächer  sich  proportioneil  ziemlich  die  AVage-  halten,  ja  eher  der  Keleh 
überwiegt,  ist  an  dem  assyrischen  Beispiel  der  Fächer  das  weitaus 
Uebei'wiegende  geworden.  Der  Kelch  zeigt  nicht  mehr  die  starken 
Voluten  des  egyptischen  Motivs,  sondern  ist  aus  zwei  schwachen 
nach  abwärts  umgebogenen  Hörnchen  gebildet.  Ferner  hat  sich 
zwischen  Kelch  und  Fächer  ein  zweiter  ausgeprägterer  Kelch  einge- 
schoben, dessen  stark  betonte  Voluten  sicli  nach  aufwärts  einrollen. 
Trotz  di(,'ser  Verschiedenheiten  erscheint  mir  der  Zusannnenhang  mit 
der  e^'-yr)tischen  Palmette  doch  unabwcislich.  Es  ist  eine  ganz  eigen- 
tliümliclie  Projektion,  die  dem  einen  a\  je  dem  ander*'!!  I\lotiv  zu 
Grunde  liegt  nnd  kaum  beiderseits  selbständig  erfunden  ^<-\\\  kann. 
:Man  Iiat  auch  Zwischenformen,  die  vom  egyptischen  Lotus  zu  der 
assyrischen  Palmette  führen  sollen,  in  gewissen  Erscheinungen  der 
phönikiscbcn  Kunst  zu  erkennen  geglaubt,  über  welchen  Erklärungs- 
versuch weiter  unten    bei  Betrachtung   der   i>hünikischen  Pflanzenorna- 

")  Mö^^iiclierweisc  li;il»cn  die,  Mesopotaniicr  in  der  Tliat,  wie  man  meint, 
dern  Knospcninotiv  die  Bedeutung  des  Piuienzapt'cns  untergelegt. 


2.   Mesopotamisches.  91 

inentik  die  Rede  sein  soll:  hier  Avill  ich  nur  vorausschicken,  dass 
gerade  dasjenige  Motiv,  das  in  der  assyrischen  Palmette  völlig  neu  zu 
sein  scheint  —  der  nach  aufwärts  eingerollte  obere  Volutenkelch  — 
bereits  in  der  egyptischen  Pflanzenornamentik  seine  Vorbilder  gehabt 
hat.  Vollständig  verfehlt  wäre  es  aber,  an  die  Palme  als  das  natür- 
liche Vorbild  der  assyrischen  Palmette  zu  denken.  Allerdings  sind 
die  Fächer  der  Palmen  auf  assyrischen  Reliefs  in  ähnlicher  Weise  dar- 
gestellt wie  die  Fächer  der  Palmette,  aber  es  fehlt  dort  überall  gerade 
der  charakteristische  Bestandtheil  jeder  Palmette:  der  Volutenkelch. 
Man  mag  vielmehr  die  Zeichnung  des  Fächers  für  die  Palme  von  der 
fertigen  ornamentalen  Form  der  Palmette  entlehnt  haben,  als  eine  sich 
ungesucht  darbietende  Lösung,  aber  gewiss  nicht  umgekehrt  ^^). 

Was  endlich  das  dritte  Motiv  unserer  in  Diskussion  stehenden 
Borde,  die  dreiblättrige  Blüthe  anbelangt,  so  lässt  auch  sie  sich  auf  den 
egyptischen  Lotus  beziehen,  und  zwar  allerdings  nicht  auf  die  typische 
Form  der  Lotusblüthe,  sondern  auf  ein  seit  dem  Mittleren  Reiche 
(11.  bis  12.  Dynastie)  sehr  gebräuchliches,  aber  auch  schon  im  Alten 
Reiche*^)  nachweisbares,  bekrönendes  Motiv  (Fig.  37),  das  SybeP^)  als 
Vasen  erklären  wollte,  Aveil  es  oft  spitz  zulaufend  vorkommt  und  in  dieser 
Form  seine  Analogien  mit  bildlich  dargestellten  Vasen  besitzt.  Häufig 
läuft  es  aber  nach  oben  nicht  spitz,  sondern  im  Schema  der  Lotus- 
blüthe^') aus,  und  deshalb  möchte  ich  dieses  egyptische  Motiv  auf  den 
Begriff"  der  Lotusljlüthe  und  Knospe  zurückführen,  von  deren  so  über- 
Aviegender  Anwendung  in  krönender  Funktion  schon  oben  (S.  58)  die 
Rede  gewesen  ist.  Was  mich  an  unserer  assyrischen  Borde  in  der 
gegebenen  Ableitung  noch  bestärkt,  ist  erstens  die  ausgeschAveifte  Um- 
risslinie der  Blüthe,  dann  die  flache  Form  der  verbindenden  Bögen. 
Das  egyptische  Motiv  ist  nämlich  häufig  ebenfalls  auf  zAvei  divergirende 
Stengel  aufgesetzt  (Fig.  37),  die  allerdings  nicht  in  Bogenform  nach 
rechts  und  links  Aveit erlaufen,  sondern  Avie  ZAvei  selbständige  stützende 
Füsse  auf  der  Grundlinie  absetzen^-). 

■*'^)  Zwischen  den  Blättern  der  Palmettenfächer  treten  hie  und  da 
(Layard  I.  47,  Perrot  u.  Ch.  II,  Fig.  137)  au  Stengeln  Pinienzapfen  vor,  die 
Avahrscheinlich  um  einer  symbolischen  Bedeutung  AAällen  beigefügt  Avurden. 
An  den  Palmen  der  assyrischen  Reliefs  historischen  Inhalts  hängen  dagegen 
die  Früchte  am  unteren  Ansätze  des  Fächers  vom  Stamme  herab. 

")  Lepsius  II.  101. 

^'^)  a.  a.  0.  6. 

^')  Lepsius  III.  21. 

^-)  Ebendaselbst. 


92  -^    Altorientalisches. 

Im  Allgemeinen  ist  nun  von  den  besprocheneu  assyrischen  Pflcin- 
zenmotiveu  gegenüber  den  egyptischen  zu  sagen,  dass  die  ersteren 
eine  unverkennbare  Fortbildung  in  rein  ornamentalem  Sinne 
vorstellen.  Es  fällt  hier  noch  viel  schwerer,  die  zu  Grunde  liegenden 
Xaturformen  zu  erkennen,  als  angesichts  der  egyptischen  Stilisirung. 
Unter  denselben  Gesichtspunkt  fällt  auch  die  farbige  Musterung  in 
querlaufendem  Zickzack,  das  Zusammenbringen  von  Motiven,  die  in 
der  egyptischen  Kunst  streng  geschieden  waren  (aufwärts  gerollter 
Yolutenkelch  und  gewöhnlicher  Palmettenfächer),  endlich  die  eigen- 
thümliche  Art  der  Verbindung  der  einzelnen  Motive  untereinander,  was 
uns  auf  die  Betrachtung  der  letzteren  überführt. 

Die  Verbindung  der  gereihten  Pflanzenmotive  mittels  fortlauf  ender 
Bogenlinien  hatte,  wie  wir  gesehen  haben,  bereits  in  der  Kunst  der 
Eamessiden  in  Egypten  statt.  Waren  es  dort  wirkliche  schon  ge- 
schwungene Rundbogen,  so  bringen  die  Flachbogen  an  der  assyrischen 
Borde  Fig.  33  einen  minder  günstigen  Eindruck  hervor.  Es  wurde 
aber  kurz  vorhin  auseinandergesetzt,  imviefern  dies  dennoch  mit  egyp- 
tischen Vorbildern  zusammenhängen  könnte.  Dagegen  bemerken  wir 
an  Fig.  33  gewisse  Elemente  in  die  Verbindung  eingefügt,  die  wir  an 
den  egyptischen  Vorbildern  vermissen,  und  die  sowohl  eine  Fortbildung 
im  omamentalen  Sinne,  als  auch  einen  fruchtbaren  Anknüpfungspunkt 
für  die  nachfolgende  Entwicklung  darbieten.  Die  verbindenden,  im 
Flachbogen  geführten  Bänder  setzen  nämlich  nicht  so  wie]^die  egyp- 
tischen Rundbogen  (Fig.  22)  unmittelbar  an  dem  unteren  Ende  der  Pflan- 
zenmotive ab,  sondern  sie  erscheinen  mit  diesen  durch  ein  zusammen- 
lassendes Heftel,  eine  Junkiur,  verbunden,  oberhalb  deren  überdies  bei 
der  Knospe  sich  die  beiden  verbindenden  Bänder,  sowohl  das  von  links 
als  das  von  rechts  kommende  fortsetzen  und  volutenförmig  übersclilagen, 
und  auf  solche  Weise  für  die  Knospe  denselben  Kelch  bilden,  di-r  an 
df-r  Palmette  bereits  von  den  egyptischen  Vorbildern  her  vorhanden  Avar. 
Aber  die  Blüthe  erscheint  allein  durch  die  Junktnr  mit  den  Bogen- 
bändem  verbunden.  Der  Kelch  am  Ansätze  der  Knospe  nud  die 
Junkturen  bezeichnen  somit  Zusätze,  die  wir  auf  Rechnung  einer  bewusst 
dekorativen  Fortbildung  seitens  der  Mesopotamier  setzen  dürfen^'). 

Was   besonders  dazu   veranlasst  hat    das    Abhängigkeitsverhältniss 

")  W<'iiii;;lcicli  iiucli  hiclür  scliücliteriie  Anläng'C  bereits  in  der  egyp- 
tischen Kunst  nachzuweisen  sind:  für  die  Junkturen  z.  B.  bei  Prisse  d'A., 
couronneraents  et  frises  fieuroiinees  8,  frises  flenroniiees  !;  für  Lotusknospen 
mit  Vobitenkejchen  Lepsius  III.  02. 


2.   Mesopotamisches.  93 

der  mesopotamischen  von  der  egyptischen  Kunst  umzukehren,  war  der 
Umstand,  dass  uns  an  späteren  assyrischen  Denkmälern,  aus  der  Zeit 
der  Sargoniden  (8.  und  7.  Jahrh.  v.  Ch.),  eine  weit  engere  Anlehnung 
an  egyptisehe  Vorbilder  entgegentritt  als  an  den  früheren,  aus  dem 
10.  Jahrhundert  stammenden,  was  offenbar  auf  Rechnung  der  unmittel- 
baren Berührung  zu  setzen  ist,  in  welche  die  Assyrer  in  der  Sargoniden- 
zeit  mit  den  Egyptern  gerathen  waren^*).  Da  hatte  man  nun  zweifellose 
assyrische  Nachahmungen  egyptischer  Motive  und  folgerte  daraus,  jene 
abweichenden  älteren  Formen  aus  Assurnasirpals  Zeit  müssten  Original- 
schöpfungen der  Mesopotamier  gewesen  sein,  und  wenn  schon  ein  Ab- 
hängigkeitsverhältniss  zwischen  beiden  Kunstgebieten  existirte,  so 
müssten  eher  die  Egypter  die  Empfangenden  gewesen  sein,  nachdem 
sie  durch  die  Invasion  der  Hyksos  mit  den  asiatischen  Semiten  in 
engste  Berührung  gerathen  waren.  Mit  mindestens  ebenso  gutem 
Grunde  lässt  sich  aber  eine  andere  Erklärung  für  die  Stilwandlung  in 
der  assyrischen  Pflanzenornamentik  geben,  die  sich  mit  der  Thatsache 
des  nachweislich  höheren  Alters  der  egyptischen  Kunst  gegenüber  der 
mesopotamischen  besser  verträgt:  die  Erklärung  nämlich,  es  möchten 
jene  älteren  assyrischen  Imitationen  egyptischer  Pflanzenmotive  auf 
indirektem  Wege  nach  Mesopotamien  gelangt  sein,  —  vielleicht  schon  vor 
der  Zeit,  da  in  Egypten  das  Neue  Reich  aufgerichtet  ward.  Als  aber 
die  Assyrer  aufs  Neue  die  egyptisehe  Kunst  aus  unmittelbarer  An- 
schauung kennen  gelernt  hatten,  da  begannen  sie  Lotusblüthe  und 
Knospe  in  der  streng  egyptischen  Form  zu  imitiren,  ohne  vielleicht 
auch  nur  zu  ahnen,  dass  sie  damit  in  ihre  Ornamentik  im  Grunde 
nichts  Neues  einführten.  Macht  doch  die  ganze  Kunst  der  Chaldäer  und 
Assyrer  den  Endruck,  dass  diese  Völker,  auf  den  Schultern  eines  älteren 
Kulturvolks  emporsteigend,  an  das  Kunstschaffen  desselben  eine  zielbe- 
wusste  Fortsetzung  geknüpft  haben,  so  wie  später  die  Griechen  ihrerseits 
auf  den  Errungenschaften  der  altorientalischen  Ornamentik  weiterbauten. 
Betrachten  wir  nun  ein  solches  egyptisirendes  Bordürenmotiv  aus 
der  Sargonidenzeit  (Fig.  34).  Wir  haben  da  die  Ecke  eines  Thür- 
schwellenmusters,  das  seit  Semper  stets  mit  einem  Teppichmuster  ver- 
glichen wurde,  obzwar  man  den  Assyrern  kaum  die  nöthige  technische 


^*)  Die  Assyrer  verhielten  sich  keineswegs  so  spröde  gegen  fremde  Kunst- 
formen wie  die  Egypter;  darin  liegt  wohl  gewiss  ein  wesentlicher  Grund  für 
die  Erscheinung,  dass  dieses  Volk  in  der  Ausbildung  der  dekorativen  Kunst 
so  entschieden  über  die  Leistungen  der  Egypter  hinausgekommen  ist,  weil 
eben  nur  Fremdes  mit  Fremdem  ein  Neues  zu  gebären  vermag. 


94 


A.    Altorientalischcs. 


Fertigkeit  zutrauen  möchte,  die  vorausgesetzt  werden  müsste,  um  ein  aus 
so  abgerundeten  Motiven  zusammengesetztes  Muster  an  einem  Teppich 
sei  es  mittels  linüpfung,  sei  es  mittels  Weberei  wiederzugeben.  Nur 
im  Allgemeinen  Avill  ich  zur  Illustration  des  von  der  assyrischen  Orna- 


FiK.  31. 
Tlilirschwelle  au.s  Stuiii  mit  skulpirtin   Vorzicrungcii.     Assyrisoli. 

mentik  eingangs  fS.  87)  Gesagten  hinweisen  auf  die  hier  streng  durch- 
geführte  Trennung  zwischen  Mittelfeld,  verknüpfendem  Zwischensaum 
und  r.ordüre,  sämmtlich  in  rein  ornamentaler  Behandlung,  sowie  auf 
die  geschickte  Ecklüsung  in  der  Bordüre:  alles  Dinge,  die  wir  an 
pgyptischen  Flächenverzierungen  in  der  Regel  vergeblich  suchen. 


2.    ^Mesopotamisches. 


95 


Im  Besonderen  interessirt  uns  an  Fig.  34  nur  die  Bordüre  mit  ihrer 
Alternirung  von  Lotusblüthen  und  Knospen.  An  diesen  ist  Alles,  was 
das  Motiv  selbst  betrifft,  ganz  übereinstimmend  mit  den  egyptischen 
Vorbildern;  selbst  die  dreifach  ausgezackte  Hülse,  in  der  die  einzelnen 
Knospen  und  Blüthen  stecken,  findet  sich  da  und  dort  ganz  in  der 
gleichen  iWeise.  Auch  für  die  Verbindung  mittels  Rundbogen  haben 
wir  bereits  die  egyptischen  Vorbilder  kennen  gelernt.  Neu  und  spe- 
cifisch    assyrisch    ist    bloss    der  Kelch    am  Ansätze  eines  jeden   dieser 


a 


'  ■  ■  ■^'/^^'^'^'''--  ^^'■■"^''~ 


1  -/  ■^-  "-''^-. 


rll^^^i^S 


Fig.  35. 
Von  palmettenbekrönten  Stangen  getragenes  Tabernakel.    Assyrisches  Steinrelief. 


Pflanzenmotive.  Dieser  Kelch  ist  ebenso  wie  an  jenem  früher  be- 
sprochenen Beispiele  aus  Nimrud  (Fig.  33)  gebildet  durch  die  über- 
fallende Fortsetzung  der  verbindenden  Bänder  oberhalb  der  Avagrechten 
Heftel^^),  Das  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  Kelchblättern  der 
Lotusblüthen   in   Fig.  34    emporragende   spitze  Blättchen    ist    offenbar 


")  Was  den  Volutenkelch  als  solchen  anbelangt,  war  das  Vorbild  freilich 
in  der  egyptischen  Kunst  an  der  Lotus-Palmette  vorhanden;  das  specifisch 
Assyrische  beruht  hier  in  der  Ausdehnung-  dieses  fruchtbaren  ornamentalen 
Motivs  auf  die  Knospe  und  auf  die  Protilblüthe. 


gg  A.    Altorieutalisches. 

dasselbe,  das  wir  zu  Nimrud  bloss  an  der  Palmette  beobachten  konnten 
und  das  wir  daselbst  gleichfalls  mit  der  egyptischen  Palmette  in  Ver- 
bindung- gebra'cht  haben.  In  der  That  ist  das  abbreviirtc  egyptische 
Palmettensystem  —  also  diejenige  Form,  die  wir  als  Lotusblüthe  mit 
Yolutenkelch  bezeichnet  haben  —  eines  der  allergebräuchlichsten 
assyrischen  Ornamentmotive  gewesen  (Fig.  35).  Der  Unterschied  gegen- 
über dem  egyptischen  Vorbild  beruht  in  der  schlankeren  Gestaltung  der 
Voluten,  die  auch  den  Charakter  des  Eingerolltseins  häufig  ganz  ein- 
gebüsst  haben,  und  in  der  spitzen  Gestaltung  des  mittleren  Blattes. 
"Was  aber  doch  wieder  auf  den  Zusammenhang  mit  dem  bezüglichen 
egyptischen  Motiv  nachdrücklich  hinweist,  das  ist  die  ganz  gleichartige 
Verwendung  beider  Motive.  Denn  auch  in  der  assyrischen  Kunst  ist 
das  in  Rede  stehende  Blüthenmotiv  in  der  Regel  einerseits  dort  an- 
gewandt, wo  es  sich  um  die  Krönung,  das  Auslaufen  in  eine  freie  En- 
digung handelt ^^),  anderseits  zur  Bezeichnung  derjenigen  Stelle,  wo  ein 
nach  einer  bestimmten  Richtung  funktionirendes  Glied 
von  überwiegender  Längenausdehnung  ansetzt,  worauf 
noch  im  Folgenden  bei  Besprechung  des  sogen,  heiligen 
Baumes  zurückzukommen  sein  wird. 

Die   assyrische   Ornamentik    hat   ausserdem    noch 
ein  Pflanzenmotiv    aufzuweisen,    das  in   der   späteren 

Fig.  36 

Granatapfel,  assyrisch.  Kuust  ZU  grosscr  Verbreitung  gelangt  ist  und  wegen 
seiner  häufigen  Anwendung  in  der  assyrischen  Kunst 
auf  original-mesopotamischen  Ursprung  zurückgeführt  werden  könnte: 
den  sogen.  Granatapfel .  Man  pflegt  mit  diesem  Worte  ein  ornamentales 
Motiv  von  kreisrunder  Form  zu  l)ezeichnen,  worauf  eine  aus  drei 
Blättchen  gebildete  Krone  aufsitzt  (Fig.  36).  Dieses  Motiv  findet  sich 
in  der  assyrischen  Kunst  nicht  selten ^^),  auch  bordürenartig  gereiht  und 
mittels  Bogenlinien  untereinander  verbunden  (Fig.  38),  wobei  die  ein- 
zelnen Granatäpl'e]  mit  den  Rundbogenl)ändern  mittels  Heftel  verknüpft 
erscheinen.  Es  Aväi'c  aber  auch  nicht  undenkbar,  dass  der  Granatapfel 
mit  jenem  egyptischen,  vom  Lotus  abzuleitenden  Krönungsmotiv  zu- 
sammenhängt, dessen  ßlattkrone  sich  gleichfalls  über  einer  Sclieibc  er- 


'■"')  Man  vergl.  z.  B.  die  frei  endig-enflen  TabcrnakelHilulen  Fig".  35  (nach 
Pen-ot  II.  Fig.  68)  und  die  von  einem  Architrav  überdachte  Säule  bei  Perrot  II, 
Fig.  71,  was  die  Analogie  mit  der  Bedeutung  der  egyptischen  Lotuskapitäl- 
Sflulcn  unmittelbar  nahelegt. 

'^)  Perrot  II.  Fig.  127,  128,  S.  311. 


2.   Mesopotamisclies. 


97 


hebt,  allerding-s  unter  Vermittlung-  eines  balusterartig-en  Zwiscliengliedes 
(Fig.  37)^«). 

Die  blosse  Scheibe  mit  dreispaltiger  Krone,  also  die  reine  meso- 
potamische  Form,  ist  bisher  in  der  egyptisehen  Kunst  bloss  einmal 
nachgoAviesen,  nämlich  von  Goodyear^'')  an  einer  Nilgctt-Statue  im 
'British  Museum.  Das  ]\rotiv  findet  sich  daselbst  alternirend  gereiht  mit 
unzweifelhaften  Lotusblüthen  und  Knospen,  und  Goodyear  hat  auch 
keinen  Augenblick  gezögert,  dieses  Beispiel  als  genügenden  Beweis  für 
den  egyptischen  Ursprung  des  Granatapfel-Motivs  anzusehen,  indem  er 
es  einfach  als  Samenkapsel  des  echten  Lotus  erklärt.  Mit  Kücksicht 
auf  die  bisherige  Vereinzelung  dieser  Erscheinung  in  der  egyptischen, 
gegenüber  dem  häufigen  Vorkommen  in  der  assyrischen  Kunst,  möchte 
ich  mit  der  bedingungslosen  Zustimmung  zu  Goodyear's  Ansicht 
Avenigstens  so  lange  zögern,  bis  über  das 
Alter  der  betreffenden  Statue  genügende  Auf- 
klärung vorliegt.  Dass  ein  ursächlicher  Zu- 
sammenhang des  mesopotamischen  Granat- 
apfels mit  gcAvissen  Erscheinungen  in  der 
egyptischen  Kunst  auch  mir  nicht  l)loss  nicht 
ausgeschlossen,  sondern  sogar  wahrscheinlich 
dünkt,  habe  ich  schon  unter  Hinweis  auf 
Fig.  37  ausgesprochen.  j,j„  3^ 

Der  auf  Rundbogen  gestellte  Granatapfel    Egyptisches  Bekrönungs-iiuster. 
findet  später  Verwendung  namentlich  an  den 

sogen,  kyrenischen  Vasen,  Avas  ich  an  dieser  Stelle  nur  deshall)  vor- 
zeitig berühre,  Aveil  die  Rundbogen  an  jenen  Vasen  in  der  Regel  in 
zwei  einander  überschneidenden  Reihen  angeordnet  sind.  Auch  das 
Motiv  der  einander  überschneidenden  Bogenlinien  scheint  nämlich  bereits  in 
der  assyrischen  Kunst  geübt  Avorden  zu  sein,  aa^c  ein  Fragment  bei 
Layard  I.  84,  Nr.  13  bcAveist.  Wir  hätten  darin  ein  neuerliches  Zeug- 
niss  für  das  Bestreben  der  assyrischen  Künstler  zu  erblicken,  in  ihr 
Pflanzenornament  vermehrten  Schwung  und  Bewegung  zu  bringen. 

Das  gebräuchlichste  ornamentale  Motiv  der  Assyrer  ist  neben  dem 
Flechtband  die  Eosette  gcAvesen.  Ihr  Aufkommen  und  ihre  Bedeutung 
in  der  altegyptischen  Kunst  AA^urde  bereits  auf  S.  52  erörtert.  Was  die 
assyrische  Rosette  häufig  A^on  der  altegyptischen  unterscheidet,   ist  die 


^^)  Lepsius  IL  130,  II.  12G,  III.  21. 
^9)  A.  a.  0.  181,  Fig-.  125. 

Riesrl,  Stilfragen. 


98 


A.    Altorientalisclies. 


3Iustrruiiii'  der  Blätter  der  erstercn  in  (luerlautendein  Zickzack  (Fig.  38, 
im  iiiitereu  Streifen),  das,  ^vie  wir  sclion  an  anderen  Iküspielen  (Fig.  36) 
gesehen  haben,  für  die  assyrische  Farbnuisterung  überhaupt  charak- 
teristisch ist.  Die  Vermuthmigeu  der  technischen  Erklärer,  dass  die 
Rosette  aus  der  getriebenen  Metallarbeit  hervorgegangen  Aväre,  sind 
schlechterdings  unbeweisbar™).  Wenn  sich  die  Rosette  in  der  assy- 
rischen Kunst  nicht  so  deutlich  als  pflanzlichen  Ursprungs  giebt,  wie 
in  der  egyptischen  Kunst,  wo  sii'  häuüg  mit  einem  langen  Stiel  aus- 
gestattet erscheint,  so  lässt  sich  dies  schon  aus  der  Neigung  zu  Meiter- 


i'ig.  as. 

Assyrisches  J?ordiirenmuster. 


gehender  Stilisirung  erklären,  die  sich   in   gleiclier  Weise  aueli  an   der 
assyrischen  Lotusblüthe  im  Profil  und  an  der  Palmettc  äussert. 

Am  Schlüsse  dieser  Uebersicht  über  die  altmesopotamische  rflauzcu- 
ornamentik  muss  noch  eines  Motivs  gedacht  werden,  (hin  lii>h<  r  meines 
Erachtens  eine  weitaus  ungebührende  Bedeutung  iiml  XCi-lininnig  lici 
gemessen  wordr-n  ist:  fies  sogen,  heiligen  IJmnnes.  lün  sdldicr  ..li.uiiii" 
war  das  geeignetste  .Miit«!  im-  dir  'i'i-iiiiiiin^-  zwiicr  im  .A\'.ip|>i'nstil" 
gegenübergi'stelll<-r  'i'hi<rc.  Die  holien  symbolischen  lieziige,  ilii'  man 
in  (I.is  Motiv  \iflf;M-li   liineingedeutelt  hat,  mögen  beim  ersten,  liir  nns 


'";  Jio.settcnarti;j;-<',  Motive,   linden   sich  übrigens  sclioii    unter   flcii    lliililcn- 
funden  der  Doifio^rnc  in  Bein  gravirt  (Fig.  (!). 


2,    Mesopotamisches. 


99 


uiikoiitrollirl)aren  Aurkciniinen  desselben,  maassgebend  gewesen  sein: 
späterhin  war  die  Grundbedeutung  geAviss  eine  dekorative,  was  aucli 
die  Herübernalime  in  die  verscliiedensten  anderen  Stile,  insbesondere 
in  die  griechischen  (Blumenvase !)  beweist.  An  dieser  Stelle  interessirt 
uns  nur  das  Verhältniss  des  heiligen  Baumes  zur  Entwicklung  der 
Pflanzenornamentik. 

Der  Baum  in  seiner  natürlichen  Erscheinung  ist  in  der  Regel  nicht 
durch  eine  verliältnissmässig  so  weitgehende  symmetrische  Gestaltung 
seiner  nackten  Grundform  ausgezeichnet 
wie  die  kleine  Pflanzenstaude.  Er  hat  auch 
deshalb  in  der  Ornamentik  eigentlich  nie- 
mals eine  umfangreichere  Verwendung  ge- 
funden. In  der  altegyptischen  Kunst  sind 
die  Bäume  dort,  wo  sie  nm  ihrer  gegen- 
ständlichen Bedeutung  willen,  z.  B.  zur  Be- 
zeichnung eines  Gartens  (Teil  el  Amaniaj, 
eingeführt  werden  mussten,  in  naturalistisch 
gedachter,  Avenn  auch  schematisch  ausge- 
führter Symmetrielosigkeit  dargestellt.  Die 
Assyrer  gebrauchten  in  solchen  Fällen 
wenigstens  für  die  Darstellung  von  Pal- 
menwedeln den  symmetrischen  Palmetten- 
fächer. Was  uns  aber  als  vermeintlicher 
heiliger  Baum  der  Assyrer  entgegentritt 
(Fig.  39)^'),  verdient  gar  nicht  die  Bezeich- 
nung eines  Baumes.  Es  ist  dies  vielmehr 
ein  möbelartig  zusammengesetztes  Gebilde, 
bestehend  aus  zwei  viereckigen  Schäften, 
die  so  wie  an  den  assyrischen  Möbeln  mittels  Fig.  39. 

Hülsen^^)    nnter    einander    verbunden     sind.      Sogen,  heiliger  Baum  der  Assyrer. 

Stcinskulptur  aus  Nimrud. 

Der  untere  Schaft  wächst  aus   einer  abge- 
kürzten (fächerlosen)  Palmette  empor,  der  obere  Schaft  ist  bekrönt  mit 
einer  Palmette  mit  Fächer^^).    Die  Hülsen  sind  zusammengesetzt  aus  je 


^*)  Nach  Layard,  Ninive  I.  7. 

^2)  Eine  solche  Hülse  aus  MetaU,  die  zweifellos  als  verbindende  Heftel 
gedient  hatte,  gefunden  zu  Nimrud,  ist  abgebildet  bei  Layard  I.  96;  ihre  An- 
wendung illustrirt  z.  B.  das  Tabouret  auf  dem  Relief  bei  Layard  I.  5. 

'^^)  Die  assyrische  Palmette  dient  ebenso  wie  der  egyptische  Lotus  und 
„Papyrus"  zur  Charakterisirung  der  freien  Endigung.    Besonders  beweisend 

7* 


IQQ  A.    Altorieiitalisehes. 

zwei  tacherlosen  Palmetten  ^^),  von  denen  die  eine  aufwärts,  die  andere 
abwärts  weist,  g-anz  genau  in  derselben  Funktion  zur  Bezeichnting  des 
Ansatzes,  wie  wir  sie  an  der  abgekürzten  egyptisclien  Palmette  beoli- 
aeliten  konnten. 

Zeigt  schon  der  Sebaft  keinerlei  Eigenschaften  eines  Baumstaninis, 
so  erhalten  wir  auch  von  dem  denselben  umgebenden  Palmetten- 
geschlinge keineswegs  den  Eindruck  des  Laubes.  Es  läuft  nämlich  um 
den  ganzen  Baum  herum  eine  Reihe  von  Palmetten  die  durch  Flach- 
bogen unter  einander  verbunden  ersehenden.  Jede  Palmette  ist  (mit 
Ausnahme  der  drei  obersten)  Avieder  anderseits  durch  ein  Band  mit 
dem  Stamme  verknüpft.  In  einzelnen  Fällen  sind  die  innlanfendcn 
Palmetten  durch  Pinienzapfen  ersetzt  (Laynrd  I.  (j),  die  aber  nur  mit 
dem  Stamme  und  nicht  unter  einander  verbunden  erscheinen,  was  besser 
geeignet  Aväre  dem  Ganzen  das  Aussehen  eines  Baumes  zu  geben, 
wenn  der  Stamm  nicht  auch  in  diesem  Falle  die  möbelartige  Verliül- 
sung  aufweisen  Avürde'^'). 

Wir  werden  alsbald  auf  phönikischem  Kunstgebict  ein  ähnliches 
-Motiv  kennen  lernen,  das  man  auch  schon  als  Mittelglied  ZAvischen  der 
egyptischen  und  assyrischen  Form  desselben  aufgefasst  hat,  was  sich 
aber  aus  dem  Grunde  schwer  wird  beweisen  lassen,  weil  die  phünikische 
Form,  wenigstens  so,  wie  wir  sie  aus  Denkmälern  kennen,  jünger  ist 
als  die  mesopotamischen  heiligen  Bäume,  die  sich  an  der  Relief-Figur  des 
Königs  Merodach-idin-aklii'"''^)  bis  in  das  12.  Jalirhundcrt  >-.  Chr.  liinauf 
verfolgen  lassen. 

Was  die  Art  der  Verbindung  zwischen  den  ornamentalen  Blumen- 
und  Knospenformen  der  mesopotamischen  Kunst  betrifft,  so  wurde  schon 
bemerkt,  dass  dieselbe  in  der  Regel  durch  fortlaufende  Bogenlinien  be- 


für  diese  Funktion  ist  das  llelief  bei  Pcrrot  II.  Fi«;-.  71,  wo  in  drr  Mitte  olicn 
die  von  zwei  Halbtig-uren  g-ehalteneu  Stricke  in  Palmetten  endigen,  genau  so 
wie  die  Stricke,  mit  denen  die  Gefangenen  auf  egyptischen  Ileliefs  gefesselt 
erscheinen,  in  Lotus  auslaufen.    Vgl.  auch  oben  S.  95  Fig.  35. 

")  Der  iintere  Kelch  der  Hülsen  zeigt  manchmal  eingekerbte  Blätter, 
möglicherweise  chaldäischen  Ursprung-s  (vergl.  auch  liiel'ür  das  altchaldäische 
Relief  Perrot  II.  Fig.  71.) 

^^)  Goodyear  (S.  175  f.)  ist  natürlidi  dif  Identität  der  am  hviliiicn  liainnr 
vorkominenden  Biüthenmotive  mit  den  unterschiedlichen  Lotusmotiven  nicht 
entgangen.  Auch  in  Bezug-  auf  die  Abweisung  der  so  l)eliebten  Hypothese 
von  einem  Zusammenhange;  des  heiligen  Baumes  nnt  dem  arischen  Sonia  oder 
Hom  begegnet  er  sich  vollständig  mit  meiner  Ueberzeugung. 

^■)  Pcrrot  II.  Fig:.  233. 


2.    Mesopotamisches.  101 

wei'kstelligt  erscheint;  die  Spiraloruamentik  felilt  bei  den  Assyrern  so  gut 
wie  gänzlich.  Zwar  das  Barthaar  söwie  das  Wellengekräusel  erscheint 
an  ihren  Kunstwerken  durch  Spiralen  wiedergegeben,  aber  als  orna- 
mentales ]\[otiv,  insbesondere  als  Verbindungsmotiv  zwischen  pflanzlichen 
Ornamenten  suchen  wir  die  Spirale  in  der  ganzen  mesopotaniischen 
Kunst  vergebens,  Avas  mit  Rücksicht  auf  die  Wichtigkeit  der  Spiral- 
verbinduug  für  die  Geschichte  des  Pflanzenornaments  —  bei  den  Egyptern 
sowohl  Avie  wir  gesehen  haben,  als  auch  bei  den  Griechen,  wie  wir  noch 
sehen  werden  —  nachdrücklich  betont  werden  muss.  Als  vereinzelte 
Ausnahme  Hesse  sich  allenfalls  das  obere  Randornament  an  dem  Gefässe, 
das  der  Fischgott  bei  Layard  II.  Taf.  G  in  der  Hand  hält,  anführen;  es 
ist  dies  aber  nicht  so  sehr  eine  laufende  Spiralenreihe  als  ein  ausge- 
prägter laufender  Hund,  —  ein  allerdings  mit  der  Spirale  anscheinend 
nächst  verwandtes  Ornamentniotiv,  das  aber  in  die  Klasse  der  sogen, 
reciproken  Ornamente  gehört  und  seine  besondere  Ausbildung  bekannt- 
lich in  der  griechischen  Kunst  gefunden  hat^"). 

Wo  keine  Spiralornamentik,  dort  kann  auch  kein  öfter  wieder- 
kehrendes Bedürfniss  nach  dekorativer  Zwickelfüllung  vorhanden  ge- 
wesen sein.  Es  ist  daher  gewiss  nicht  zufällig,  dass  die  assyrische 
Kunst  das  Postulat  der  Zwickelfüllung,  das  in  der  altegyptischen  Kunst 
des  Neuen  Reiches  eine  so  elementare  Bedeutung  gehabt  hat,  nicht 
kennt.  Dieser  Umstand  spricht  ganz  besonders  eindringlich  gegen 
Sybel's  Theorie  von  der  Entlehnung  der  charakteristischen  Ornament- 
formen des  Neuen  egyptischen  Reiches  aus  Mesopotamien.  Es  muss 
aber  auch  darum  selion  in  diesem  Zusammenhange  nachdrücklich  betont 
Averden,  dass  das  von  den  Mesopotamiern  vernachlässigte  Postulat  der 
Zwickelfüllung,  ebenso  Avie  die  von  den  Mesopotamiern  nicht  minder 
unbeachtet  gebliebene  Spiralornamentik  l:)ei  den  Phönikern  und  Griechen 
zu  grösster  Bedeutung  gelangt  ist. 


^'')  Ebenso  A^ereinzelt  Avie  dieses  assyrische  Beispiel  des  laufenden 
Hundes  aus  verhältnissmässig-  später  Zeit,  ist  dasjenig-e,  das  ich  aus  der  alt- 
egyptischen Ornamentik  beizubringen  A\'eiss,  nämlich  die  Bordüre  an  einer 
von  Adoranten  getragenen  Tafel  bei  Lepsius  VII.  187,  aus  der  Zeit  des  grossen 
Rauises.  Die  für  AvissenschaftUche  Zwecke  nach  heutigen  Anforderungen  viel- 
fach ungenüg-enden  Abbildungen  bei  Layard  imd  Lepsius  lassen  namentlich 
hei  so  vereinzelten  Beispielen  ZAveifel  übrig.  —  Vgl.  auch  0\A'en  Jones  VII.  16. 


]Q9  A.    Altorientalisclu'S. 

3.  riiüiiikisclies. 

Die  Bedeutuiiii"  der  Phrmiker  für  die  Kntwickluiii;-  (Irr  alioricii- 
talischen  Künste  sclii'int  wcnig-er  in  vhwv  sollistäiulig-en  Fortltilduiii;'  von 
iiatioiicilem  Gepräge  zu  liegen,  als  in  zwei  anderen  Umstanden,  die 
gleichwohl  für  die  weitere  Eutwieklungsgescliielite  insbesondere  der 
Ornamentik  sehr  bedeutungsvoll  geAvorden  sind.  Fürs  erste  haben  die 
Phönlker  als  seefahrende  Kaufleute  den  Kunstformen  ägyptischen  Stiles, 
dann  auch  —  obschon  in  nnnderera  Grade  —  denjeingen  mesopotamischen 
Stiles,  einerseits  durch  Vertriel)  von  Original-Erzeugnissen  der  genannten 
beiden  Völker,  anderseits  aber  aueh  —  niul  dies  ist  ganz  besonders 
hervorzuheben  —  durch  Verhandelung  phönikischer  Imitationen,  die 
grösstmögliche  Verbreitung  geliehen.  Damit  hängt  unmittelltnr  aueli 
der  zweite  Umstand  zusammen,  der  das  Dazwischenkommen  der  l'liö- 
niker  für  die  Verbreitung  einer  an  allen  Mittclmeerküsten  gangbaren 
Ornamentik  so  entscheidend  gemacht  hat:  der  Umstand  nämlich,  dass 
der  Rest  an  gegenständlicher  Bedeutung,  der  den  altegyptischen  und 
altchaldäischen  Mischwesen  (Sphinx,  Greif  u.  s.  w.)  ebenso  wie  ihren 
vegetabilischen  .Motiven  (Lotus)  nocli  in  der  originalen  Kunst  dieser 
Völker  anhaftete,  im  Gefolge  der  für  den  blossen  Handel  mit  .Schmuck- 
gegenständen und  Hausrath  berechneten  Massenfabi-ikation  vollständig 
verloren  gehen  musste.  Das  ursprünglich  gegenständliche  Motiv  wuivle 
unter  den  Händen  der  Phöniker  schlechtweg  zum  reinen  Ornament. 

Auch  die  Sclieidung  zwischen  l^ahmen  und  Füllung,  sowie  die 
Anwendung  und  Anordnung  der  Ornamente  nach  gewissen  Regeln,  die 
sich  aus  dem  technischen  AVerden  und  der  Struktur  der  zu  verzierenden 
Gegenstände  ergeben  —  dasjenige,  was  man  als  „tektoniscln^"  Art  der 
Verzierung  zu  bezeichnen  pflegt  —  hat  unter  den  Plicnikeni  Aveit- 
gehende  Berücksichtigung  und  P'örderung  erfahren.  Typiscii  liiefiir 
sind  gerade  diejenigen  Werke  phönikischer  Kleinkunst,  dnnli  die  wir 
bisher  noch  am  best(Mi  in  Stand  gesetzt  worden  sind,  «ieii  lügcuitliiini- 
liclikeiten  der  Kunst  dieses  Volkes  nälier  zu  konnnen:  nänilieli  die 
.Metallschüsseln  mit  ihren  koncentrischen  Zonen  und  ilu'er  A'ertikalglie- 
dernng  innerjjalb  der  einzelnen  Zonen,  die  zwischen  ungeregelter  Bunt- 
heit und  staiTer  geometrische]-  Alizirl<<'lung  in  der  R'egel  die  rielitige 
Mitte  zu  halten  weiss. 

Nach  dem  geschikkirten  Stande  der  Dinge  steht  zu  erw.nten,  dass 
die  Phöniker  wenn  auch  nicht  zur  Entwicklung  der  maassg(d)eiid(ii  Ziele 
aller  antiken  I)ek«irationskunst  im  Allgeiueiiien.  sn  dnch  /m-  i'i.ii  Kildiing 


Pliönikisches. 


103 


o 


einzelner  ornamentaler  Motive  ihr  Sclierflein  beigetragen  haben  mochten. 
In  der  That  haben  sie  sich  nicht  mit  der  blossen  Bereicherung-  der 
mittelländischen  Ornamentik  durch  gleichmässige  Heranziehung  der  aus 
zwei  verschiedenen  Fonds  entlehnten  Elemente 
(z.  B.  des  assyrischen  Flechtbandes  neben  egyp- 
tischem  Zickzack)  begnügt,  sondern  auch  wenig- 
stens ein  Motiv,  so  viel  wir  sehen,  und  zwar  eben 
ein  Pflanzenmotiv  in  einer  bestimmten,  rein  orna- 
mentalen Weise  Aveitergebildct.  Es  ist  dies  ein 
baumartig  emporstrebendes ,  zusammengesetztes 
Motiv,  das  wir  den  phönikischen  Pahnetlenbaum^^) 
nennen  wollen. 

Das  dem  phönikischen  Palmettenbauni  zu 
Grunde  liegende  Motiv  ist  die  vertikale  In-  und 
Uebercinanderschachtelung  von  Blüthenkelchcn, 
die  zu  Oberst  von  einem  vegetabilischen  Strahlen- 
büschel bekrönt  erscheinen.  Sybel'^-')  hat  dieses 
]iIotiv  als  Bouquet  bezeichnet.  Es  findet  sich  nicht 
selten  angewendet  in  der  Kunst  des  Neuen  Reiches 
von  Egypten.  Am  häufigsten  tritt  es  uns  da  ent- 
gegen als  Aufbau  mehrerer  in  einander  geschach- 
telter Blumentöpfe  ('?),  aus  deren  jedem  nach  rechts 
und  links  Blumen  herauswachsen.  Daneben  finden 
sich  aber  auch  andere  Systeme;  uns  interessirt 
hier  nur  eines  darunter,  das  die  nebenstehende 
aus  Prisse'^o)  entlehnte  Figur  40  wiedergiebt.  Wir 
gewahren  da  eine  vertikal  über  einander  auf- 
gebaute Reihe  von  zwei  alternirenden  Blüthen- 
formen:  die  eine,  mit  abwärts  gerichteten  Voluten, 
kennen  wir  als  Lotusblüthe  mit  Volutenkelch,  die 
andere  lässt  sich  gleichfalls  als  Volutenkelch  mit 
Füllungszapfen    in    der  Mitte   definiren ,    aber  die  Fig.  40. 

Voluten  sind  in    diesem  Falle   nach    aufwärts   ge-  Egyptischer  Paimettenbanm 


^*)  Dass  diese  Bezeichnung'  nicht  eben  geschmackvoll  klingt,  wird  zu- 
geg'eben ;  doch  war  es  schwer  eine  andere  Bezeichnung  zu  finden,  die  mit  der 
gleichen  Verständlichkeit  sowohl  die  Palmette  als  maassgebendes  Element  der 
Form,  als  auch  den  anscheinend  vorhandenen  Bezug  auf  den  „heiligen  Baum" 
zum  Ausdrucke  bi-ächte. 

G3)  A.  a.  0.  24  f. 

'"^)  Ornementation  des  plafonds:  legendes  et  symboles,  XVIII.  Dyn. 


104  A.    Altoricntalisches. 

Zögen"').  Die  oberste  Bekrünuiig-  bildet  ein  stralüenförmiger  Büschel 
von  Schaftblättern  und  langen  Stengeln,  die  von  glockenförmigen  Lotus- 
blüthen  bekrönt  sind.  Als  bemerkenswerth  sind  endlich  auch  noch 
die  tropfenförmigen  Füllungen  der  infolge  der  Kinrollnngcn  entstan- 
denen Zwickel  hervorzuheben. 

Ein  Aveiteres  Beispiel  für  die  Verwendung  dieses  aus  in  einander 
geschachtelten  Volutenkelehen  zusammengesetzten  IMotivs  lindet  sieh 
an  einem  Armband  bei  Prisse,  Choix  de  bijoux  No.  14,  und  an  einer 
Handhabe  bei  Goodyear  (Taf.  IX,  nach  Champollion).  Auch  in  diesen 
beiden  Fällen  ist  der  aufwärts  gerichtete  Volutenkelch  bekrönt 
von  einem  Bündel  langstieliger  Lotusblüthen.  Ein  Beispiel,  an  welchem 
dieser  Volutenkelch  mit  dem  gewöhnlichen  Palmettenfächer  bekrönt 
vorkäme,  ist  mir  aus  der  egyptischen  Kunst  nicht  bekannt  geworden. 
"Wir  werden  daher  wenigstens  in  der  egyptiselicn  Kunst  die  typische 
Lutuspalmette  streng  zu  scheiden  haben  von  der  in  Fig.  40  vur- 
liegenden"-).  Das  gleiche  Motiv  treffen  wir  nun  aut  phünikischem  Kunst- 
boden. Betrachten  wir  daneben  das  kypriotische  Kapital  (Fig.  41)"). 
"Wir  haben  da  zu  unterst  den  stai'k  ausgeprägten  Kelch  mit  abwärts 
gekehrten  Voluten ,  darüber  den  umgekehrten  Volutenkeleh  in  mehr- 
facher "UHederholung,  endlich  den  krr)ueuden  vegetabiliisehen  StrahU'u- 
bündel.  Derselbe  Grundgedanke  liegt  den  l*;ilinettenl)äunien  auf  den 
[Metallschüsseln  zu  Grunde,  so  z.  B.  Jenen  auf  der  Silberschüssel  aus 
Larnaka,  die  bei  Longperier,  i\lusee  Napoleon  III.  Taf.  10  abgebildet 
ist.  In  letzterem  Falle  dient  der  Palmettenbaum  znr  Trennung  von 
Figurengruppen,  die  in  regelmässiger  Alternirung  sii-li  Aviederholen. 
In  anderen  Fidlen  (Schale  aus  Amntluis  in  Xew-York.  Perrot  i'<:  Chijuez 


^')  V^-1.  oben  S.  1»0. 

'■j  Fig.  40  ist  in  WanrlniMlcrei  ans^-ct'iiln-t,  also  in  einer  Technik,  die 
ihrer  leichten  und  freien  Behandlung-  halber  erfahrungsniässig"  am  ehesten  zu 
Durchbrechung-cn  der  geg-ebenen  Formentypen  geführt  hat.  Die  zwei  anderen 
angeführten  Beispiele  sind  aber  in  hartem  Material  (Metall  und  Holz)  ausge- 
führt, woraus  sich  ergiebt,  dass  wir  es  da  mit  einem  festbegründeten,  nicht 
bloss  flüchtiger ,  s]>ielender  Veranlassmig  seine  Entstehung  verdankenden 
Motiv  zu  thun  haben.  Daher  geht  es  auch  nicht  an,  den  nach  aufwärts  ge- 
richteten Volutenkelch  einfach  als  a  ])urely  decnrative  variant,  als  blosse 
L'mkehrung  des  abwärts  gerichteten  Volutenkelches  zu  erklären,  wie  Goodyear 
leichtherzig  annimmt  (S.  89).  Es  wäre  dann  nicht  zu  begreifen,  warum  ilie 
Variante  nicht  auch  mit  dem  einfachen  Fächer  (halbe  Vellansicht '  vcibumlen 
vorkommt. 

'*)    Nach   I'errot  und  rhipie/  III.  Fig.  r>2. 


3.    riiöiiikisches. 


105 


111.  Fig-.  547)  erfüllt  es  g-enau  dieselbe  Funktion  Avie  der  „heilige  Baum" 
auf  den  assyrischen  Reliefs:  zur  Trennung  zweier  in  absoluter  Symme- 
trie einander  g-egenüber  gestellter  Figuren.  Man  ersieht  hieraus,  Avie  die 
Phöniker  dieses  ornamentale  „Wappenschema"  für  ihre  vorwieg-end 
dekorativen  Zwecke  zu  benutzen  wussten.  Immer  treffen  Avir  aber  den 
auf\A^ärts    gerichteten     Volutenkelch    vereint    mit    einem     Fächer    aus 

liy)^^'^rp^jf-~-r--rT-T^r-TTT--n5 

L/T  i  -^-^  ---^ .  Ji^, m'=-i ^  *•■ -^— rr-r 


Fig.  41. 
Kyprisches  Kapital  mit  Palmettenbanm. 


Lotusblumen  und  Stengeln,  niemals  mit  dem  gewöhnlichen  Palmetten- 
fächer. Dagegen  AAar  die  geAA'öhnliche  egyptische  Lotuspalmette  auch 
den  Phönikern  nicht  fremd;  eine  Anzahl  von  Beispielen  hat  Goodyear 
(Taf.  XII.  Xo.  4,  5,  8—11,  15)  zusammengestellt:  also  auch  auf  phöni- 
kischem  Boden  die  gleiche  scharfe  Scheidung  ZAvischen  Palmette  und 
Palmettenbaum,  Avie  wir  sie  schon  in  der  egyptischen  Kunst  beobachtet 
haben. 

In    abgekürzter  Form  findet  man  nicht  selten 
den   bekrönenden   Binsenfächer   (ohne    Glocken blü- 
then)  zusammen  mit   dem  oljeren   aufwärts  gerich- 
teten Volutenkelch,  der  den  Fächer  A'on  unten  halb-  ^-^  ^g. 
kreisförmig  umschliesst.    Man  pflegt  dieses  Gebilde,    Phonikisciie  Paimette. 
das  in  der  That  eine  abgekürzte ,   rein   dekorative 
Fortbildimg  des  Motivs  auf  phönikischem  Boden  zu  sein  scheint,   die 
phönikische  Palmette  im  engeren  Sinne  zu  nennen  (Fig.  42). 

Hier  ist  nun  der  Punkt,   avo  AAir  auf  die  assyrische  Palmette  zu- 
rückgreifen müssen,  bei  deren  Beschreibung  (S.  90)  Avir  ihre  Ursprungs- 


■^QQ  A.    Altorientalisehes. 

geschichtliche  Erörternn^i'  ausdrücklich  für  diese  Gch^g-ciilu'it  vorbehalten 
haben.  Die  assyrische  Palniette  zeigt  nämlich  eine  A'ereinigung  der 
beiden  in  Eede  stehenden  ^Motive:  der  egyptisehen  Lotnspalmette  und 
des  sogen,  phönikischen  Bouquet  (oder  ralnicttenbaunis  ,  in  der  AA'eise. 
dass  dem  aufwärts  gerollten  oberen  Volutenkelch  ein  einfacher  Pal- 
mettenfächer aufgesetzt  erscheint.  Eine  solche  Vereinigung  ist  uns 
Aveder  in  der  egyptisehen  noch  in  der  phönikischen  Kunst  vorgekommen. 
Die  assyrische  Palnn-tte  ist  trotz  des  aufwärts  gerichteten  Volutenkelches 
ein  vegetabilisches  Einzelmotiv  wie  dir  egyptisehe  Lotuspalmette,  mit 
der  sie  in  allem  Uebrigen  übereinstimmt.  Dagegen  sind  die  egyptisehen 
und  phönikischen  Gebilde  mit  aufwärts  gerolltem  Volutcnkrlch  baum- 
artig emporstrebende  zusammengesetzte  Motive,  Uebereiuanderstellungen 
mehrfacher  Blüthenkelche  mit  abzweigenden  Zwiekclblumen.  Ein 
inniger  Ztisammenhang  der  assyrischen  Palmettr  mit  den  beiden  egyp- 
tisehen Palmettenmotiven  scheint  mir  unzwcitelhaft:  aber  die  vermit- 
telnde Zwischenstellung  der  phönikischen  Palmettc  wird  man  nicht  als 
so  ausgemacht  ansehen  dürfen,  wie  z.  B.  Furtwänghn"'^)  anzunehmen 
geneigt  ist.  ^Man  müsste  dann  aucli  den  cinl'aelicn  Fäclui"  dfi"  assy- 
rischen Palmette  als  eine  Schematisirung  der  bekröneudi'U  Lotusbündel 
des  Palraettenbaums  ansehen,  Avährcnd  alle  Wahrscheinlichkeit  für  den 
entgegengesetzten  Process  spricht:  für  eine  dekorative  vegetabilische 
Ausgestaltung  des  einfachen  Fächers  zu  (irup]icn  von  Lutusstmgeln 
und  Blüthen.  Das  Gleiche  gilt  doch  auch  von  der  K'osette,  deren  ein- 
fachere Formen  gewiss  älter  sind  als  diejenigen,  an  denen  die  einzelnen 
Blätter  etwa  dni-eli  L(itusl)]ütlien  ausgedj-üeki  sind  (Goodyear  Tat".  XX. 
No,  13).  Die  Erklärung,  wie  die  Mesopotamier  dazu  gekommen  sein 
mögen,  die  von  den  Egyptern  entlehnte  gewöhnliche  P.dmette  durch 
einen  aufwärts  gerollten  Kelch,  den  sie  übrigens  gleielifalls  aul"  eg\  j)- 
tischen  Kunstgegenständen  vergebildet  salieii.  /ii  ei-w ciieni,  l»leilit  snniit 
erst  noch  zu  liefern. 

Im  äusseren  Aufbau  ej'iniieit  ihr  egyptisch-phönikisclie  i'alnietten- 
baimi,  —  was  Avir  schon  durch  die  gewählte  i'ie/.eielinung  angedeutet 
liaben  —  an  den  ,,heiligen  Baum"  dei-  ass\  risehcu  Kunst.  Auch  an 
diesem  begegneten  wir'^)  einem  System  vnn  \'nluteid<i  lelun .  mittels 
derer  die  den  Stamm  zusammensetzenden  l',in/.elseliäfie  untii-  einander 
verbunden    wai'en.     Die   lieUrrinunir  des  (ianzi'ii    liihh't    alx  r  wii'(h'i'uni 


''y    Sauiiiil.  S.'ibouroir,  Kiiil.  lu. 
'^)    S.  W  Fig.  30. 


o.    Phönikisches.  1()7 

die  assyrische  Palmette,  und  so  stosscii  wir  also  auch  bei  der  Parallele 
mit  dem  „heiligen  Baume"  schliesslich  auf  die  Palmettenfrag-e ,  deren 
Lösung  wir  —  weil  für  die  Fortführung  des  EntAvicklungsfadens  nicht 
unbedingt  nothwendig  • —  diesmal  getrost  aussetzen  können.  Die  or- 
ganische Verwandtschaft  des  phönikischen  Palmettenbaumes  mit  gewissen 
„Bouquet"-Bildungen  aus  egyptischen  Gräbern  ist  auch  Sybel  selbstver- 
ständlich nicht  entgangen.  Entsprechend  seiner  Theorie  spricht  er  alier 
diesen  Bildungen  den  egyptischen  Ursprung  ab  und  erklärt  dieselben''^) 
für  das  „ältere  phönikische  Bouquet",  aus  welchem  dann  das  „jüngere 
phönikische  Bouquet",  d.  i.  jenes  der  Metallschalen,  sich  auf  dem  Wege 
blosser  StilentAvicklung  im  Laufe  der  Jahrhunderte  ergeben  hätte. 
Der  egyptischc  Ursprung  von  »SybeUs  „älterem  phönikischen  Bouquet" 
wird  aber  immer  klarer,  je  mehr  Beispiele  davon  aus  den  Denkmälern 
der  altegyptischen  Kunst  bekannt  werden.  So  hat  es  erst  vor  wenigen 
Jahren  Dümmler  auf  einer  egyptischen  Holzkiste  im  Museum'zu  Bologna 
gefunden  und  abgebildet  in  der  Athen.  Mitth.  XIII.  302"). 

Für  den  Zweck,  den  ich  mir  mit  dieser  Untersuchung  gesetzt  habe, 
genügt  es,  den  innigen  genetischen  Zusammenhang  nachgewiesen  zu 
haben,  der  zwischen  den  egyptischen  stilisirten  Blumenmotiven  einer- 
seits, den  phönikischen  und  assyrischen  andererseits  obgewaltet  haben 
muss.  "Wie  das  Verhältniss  dieser  beiden  letzteren  unter  einander  be- 
schaffen gewesen  ist,  mag  vorläufig  eine  offene  Frage  bleiben;  das 
Wahrscheinliche  dünkt  mir  aber,  dass  die  nn^sopotamischen  Formen 
ohne  Dazwischenkunft  derjenigen,  die  uns  an  phönikischen  Denkmälern 
erhalten  geblieben  sind,  auf  direktem  Wege  ihre  Ableitung  aus  der 
egyptischen  Kunst  gefunden  haben.  Die  Beeinflussung  Mesopotamiens 
durch  die  uralte  egyptischc  Kultur  seheint  mir  viel  früher  erfolgt  zu 
sein,  als  diejenige  der  Phöniker.  Wir  brauchen  ja  mit  dieser  Beein- 
flussung Mesopotamiens  gar  nicht  in  extrem  frühe  Jahrtausende  zurück- 
zugehen; es  genügen  hiefür  die  Zeiten  der  Thutmessiden  und  Eames- 
siden,  aus  denen  uns  sichergestellte  phönikische  Denkmäler  nirgends 
erhalten  sind,  während  eine  gleichzeitige  verhältnissmässig  hohe  Kultur 
in  Mesopotamien  so  ziemlich  ausser  Zweifel  stellt.  So  trägt  bereits  der 
Chaldäerkönig    des    12.    Jahrhunderts ,    Merodach-idin-akhi    (Perrot    II. 


^«)   A.  a.  0.  25. 

")  Dass  die  s^'inmetrisch  anspring-endeu  Böcke  daselbst  nicht  assy- 
rischen Ursprungs  zu  sein  brauchen,  wie  noch  Dümmler  annimmt,  ist  wohl 
klar,  seitdem  wir  dieses  Motiv  in  Egypten  bereits  an  Werken  der  VI.  DN'nastie 
angetroffen  haben  (S.  40). 


10Q  A.    Altorientalisclios. 

Fig.  '233) ,  auf  seinem  GeAvande  den  typisch  ausgeliildeten  heiligen 
Baum  und  die  Rosetten  der  späteren  assyriselieu  Ornamentik.  Vollends, 
■wenn  Renan  Recht  hat  mit  der  Datirung  der  Inschrift  der  bekannten, 
in  den  Monum.  X.  Tat".  o-2  piiblicirten  palestrinischen  Silberschale  in 
das  0.  Jahrhundert  v.  Ch.,  so  ergiebt  sich  bei  der  nahen  stilistischen 
VerAvandtschaft  fast  aller  erhaltenen  phönikischen  und  i)liönikisch-ky- 
priotischen  Kunstdenkmäler  für  die  Blüthe  des  phönikischen  Kunsthand- 
Averks  ein  ziemlich  spätes  Datum,  kaum  Aiel  über  das  .I.ilir  Eintausend 
V.  Ch.  hinauf.  Für  eine  frühere  Kunstblüthe  bei  den  Phönikern  mangelt 
es  A'ollständig  an  BeAA'eisen.  Dem  Umstände,  dass  die  Kafa  (Phöniker) 
auf  ägyptischen  Wandgemälden  den  Thutmessiden  ^'asen  als  Tribute 
darbringen,  hat  nicht  nur  Sybel,  sondern  haben  auch  Anden-  Aveit  (Uht- 
triebene  Bedeutung  beigelegt.  Denn  selbst  in  dem  unkontrullirl»aren 
Falle,  dass  die  dargestellten  Vasen  in  der  Thal  treue  Al>l)ilder  plnnii- 
kischer  Originalerzeugnisse  Avären,  bleibt  es  doch  nocli  inuner  fraglich, 
ob  ihre  Ornamentik  nicht  auf  egyptische  AVurzel  zurückgeht.  Wenig- 
stens A-ermissen  Avir  an  dem  späteren  uns  aus  Denkmälern  Itekannten 
phönikischen  Kuii>thand\verk  gerad<'  die  Si)ii;;ile  und  die  Tliit'rki"ipf(,> 
d.  h.  jene  Elemente,  die  uns  an  den  Geschenken  der  Kafa  entgegen- 
treten und  die  Avir  nicht  minder  an  egyptischen  Kunstwerken,  avcmiu 
auch  erst  des  Neuen  Reiches,  so  häufig  Aviederkelii'eu  sehen.  .Mi'igliclier- 
Aveise  sind  es  in  ilrv  Tliat  die  lletiter  gewesen,  die  die  egyptisclieu 
Kunstformen  Avenn  aucii  niclit  den  (iriechen,  so  doch  den  Mesopotamiern 
Aermittelt  haben;  freilich  konnten  es  dann  gewiss  nicht  Jene  rohen,  eine 
ausgebildete  höhen;  Kunst  barl)arisir('ndeii  Bildwerke  gewesen  sein,  die 
m.iii   heute  den  Hetitern  zuschreibt. 

Was  inslM'sondere  den  ph(')nikischen  Typus  des  Palmetlenhaums 
betrlMt.  so  dürfen  Avir  darin  eine  gefällige  ornamentale  AVeiterbildung 
einer  egy[»tisclieii  (Ii'uudfonii  erldickeu.  die  noch  l>is  in  die  Zeit  der 
künstlerischen  Hegemonie  der  Ijelleiieii  hei'.ili  .iiif  phöiiikisclieiii  Hoden 
zur  Darstt'llung  gel)racht  Avorden  i^t.  Als  Aid<uiiiifungsiiunkt  für  die 
Aveiterc  EntAvicklung  im  Altendlande  hat  sie;  augenscheiidich  wenigstens 
daucnid  nicht  gedient^^);  sie  ist  ;iliei-  für  diese  Kntwicklung  ger.ide  im 
7.  und  <■>.  Jahrhundert  x.  Ch.  sehr  l»edeutungsvoll  geworden  dui'eh  den 
Umstand,    dass   der  ]ihonikisch(;  Palmettenbaum    das   schon    in  (\rv  :\\\- 

'■^  Sybel  Ijisst  die  griecliisclie  luiisi-hriclu-iir ,  d.  li.  ohcn  \eu  einer  Kreis- 
linie uin/.ogenc  I'almcttc  von  der  itlionikischeii  im  cii^crcii  Sinne  nhstaunnen, 
Avas  aber  giln/Jicli  unstatthaft  ist,  da  jene  sich  aus  dem  KotnsltUithcndvnospen- 
BamU'  abgrelöst  hat. 


4.   Persisches.  109 

egyptischen  Ornamentik  des  Xeuen  Reiches  zum  Ausdruck  gelangte 
Postulat  der  ZAvickelfüllung  an  den  zahlreichen  sphärischen  Winkeln 
ziu'  fanatischen  AnAvendung  gebracht  hat. 

Wenn  wir  also  auf  Grund  des  Vorgebrachten  die  Stellung  der 
phönikischen  Kunst  innerhalb  der  Entwicklungsgeschichte  des  Pflanzen- 
ornaments kennzeichnen  wollen,  so  ist  zu  sagen,  dass  das  phönikische 
Pflanzenornament  in  der  Hauptsache  in  egyptischem  Kunstboden  \\airzelt: 
dies  beweisen  insbesondere  die  Palmettenbildungen  mit  ihren  Zwickel- 
füllungen. Aber  der  phönikische  Kunsthandwerker  und  Exporteur 
schaltete  frei  und  skrupellos  mit  den  Motiven,  die  dem  Egypter  in 
ihrer  gegenständlichen  Bedeutung  geheiligt  gewesen  waren.  Diese 
Motive  werden  unter  den  Händen  der  Phönikcr  erst  zu  rechten  Orna- 
menten von  rein  oder  doch  überwiegend  schmuckzwecklicher  Daseins- 
berechtigung. Aber  auch  von  den  Mesopotamien!  entlehnten  die  Phö- 
niker,  was  ihnen  gut  und  brauchbar  dünkte :  von  Einzelmotiven  das  zu 
Einfassungszwecken  so  überaus  geeignete  Flechtband,  und  im  Allge- 
meinen —  was  das  Allerwichtigste  ist  —  eine  schärfere  Trennung 
zwischen  Füllung  und  Eahmen,  wobei  freilich  schwer  zu  entscheiden 
ist,  in  wiefern  den  Phönikern  diesbezüglich  nicht  ein  selbständiges 
Eigenverdienst  zuzuerkennen  wäre. 

4.  Persisches. 

Mehr  der  Vollständigkeit  halber  als  um  ihrer  Bedeutung  willen, 
muss  hier  noch  der  altpersischen  Kunst  der  Achämeniden  gedacht 
werden.  Diese  Kunst  ist  nämlich  bis  zum  heutigen  Tage  vielfach 
überschätzt  werden.  Schon  der  Umstand,  dass  die  Altperser  die  tech- 
nische Errungenschaft  der  Steindecke  (mittels  Wölbung)  ihrer  meso- 
potamischen  Vorfahren  preisgegeben  haben  und  an  ihren  Palastbauten 
zur  flachen  Holzdecke  zurückgekehrt  sind,  lässt  erwarten,  dass  die  Kunst 
in  diesem  Reiche  keinen  aufsteigenden  Gang  genommen  haf^^).  In  der 
That  ermangeln  die  in  der  altpersischen  Ornamentik  beliebten  Motive 
fast    aller  Originalität;    sie    zeigen    aber  auch  nicht  die  Vorzüge   einer 


")  Im  ^loment,  da  sie  die  orientalische  Weltherrschaft  antraten,  waren 
die  Perser  sicher  kein  Kuustvolk.  Dass  sie  es  späterhin  nicht  geworden  sind, 
dafür  mag  auch  der  Umstand  mitbestimmend  gewesen  sein ,  dass  dem  sieg- 
reichen Fortschreiten  des  Hellenenthums  gegenüber  der  Orient  bereits  im 
6.  Jahrh.  sicli  so  ohnmächtig  fühlen  musste,  dass  er  gar  nicht  mehr  ernstlich 
daran  denken  mochte,  die  Rivalität  auf  künstlerischem  Gebiete  aufzunehmen. 


110 


A.    Altoru'iitalisches 


Mischkimst.  l)l)zw;ir  die  assyriselif  Wurzel  unverkcninlKir  ist,  trügt 
doch  die  Ptianzoiioriiaincntilc  bezeiclmendermaasseii  ein  entschieden 
egyptisirende!?  Gepräge;  dies  lässt  sich  sowohl  an  den  J.otusblütheir^") 
als  auch  an  den  Pahnetteu  (Fig.  43)*')  wahrneluneu.  Avelch  letztere  nur 
den  Kelch  mit  abwärts  gerichteten  Voluten  (allerdings  in  der  mageren 
assyrischen  Fornij  und  nicht  die  darüber  aufsteigenden  aufwärts  ge- 
kehrten Voluten  zeigen,  und  auch  in  den  geringen  Dimensionen  des 
Fächers  näher  der  egyptischen  als  der  assyrischen  Palmetle  stehen.  Au 
der  Ornamentik  von  Fig.  43  beobachte  man  auch  die  nichtassyrische 
(eher  egyptische)  Weise,  wie  die  aus  mehrfachen  ^Motiven  gehäufte  Längs- 


Fig.  43. 
Persisches  ISordüren-Kckstiick.     Kmuilziegol-Dekoiatiou  aus  Susa. 


Ijordüre  (Palmettenreihe  zwischen  zwei  Zickzackltäudern,  ausserdem 
noch  ein  Rosettenband)  sich  an  dem  abschliessenden  Querstreifen  un- 
vermittelt tiidt  läuft.  Aiieli  (las  .,]-)(»ii(|Ucf  odiT  (\rv  ..  i  '.i  In  ii't  tri  i  ha  nur"  lial  in 
der  altitersiselHMi  ( )i-iiam<'Utik  seinen  l'l.itz.  und  zwar  glejelifalls  nicht 
in  der  assyri-ehen  l-'orm  des  „heiligen  l'aunies''.  sondern  in  jener  eg\'p- 
tischen  Form,  wo  vertikal  in  einander  gesciiaditelte  Tö])le  (hier  in 
Kelchformi  von  ejneni  einfachen  PalinettentäcliiT  liekroiit  erscheinen 
^Fig.    II  ^'■'  . 

■";  l'enot    \     !•  lg.   .'i;j2   aus    Susa;    der   Schwung"    der    I\(inlnren    veniUh 
hier  a))('r  bereits  griechischen  EinHuss. 
-•     Kheiula,  auf  Taf.  XI. 
-,   \a<li  T\-rrot   V  Fi»-.  346. 


4.    Persisches. 


111 


Wir  beg-eg-neii  also  in  der  altpersischeii  Pflanzenuniauientik  einer 
bereits  wohlbekannten  Forniensprache,  ohne  neue  fruchtbare  Ansätze: 
Aveder  in  Bezug-  auf  die  Einzelmotive  (Lotus,  Palmette),  noch  in  Be- 
zug auf  ihre  Verbindung  unter  einander  (Bogenlinien  mit  Hefteln  und 
Volutenkelch).  Auch  haben  wir  es  in  der  persischen  Kunst  bereits  viel- 
fach mit  griechiseliem  Einfluss  zu  thun,  Avas  ganz  natürlich  erscheint, 
wenn  man  bedenkt,  dass  die  Aufrichtung  der  persischen  Weltmacht 
erst  vom  Jahre  538  v.  Ch.  datirt.  Dass  den  Griechen  die  Perser  als 
Inbegriff  alles  Orientalischen  gegolten  haben,  ist  nur  aus  dem  Umstände 
zu  erklären,  dass  die  Perser  die  alleinigen  Universalerben  ihrer  Kultur- 


Fig.  u. 
Persischer  Palmettenbaiim,    Emailzieael-Dekoratiou  aus  Susa. 


vorfahren  auf  asiatischem  Boden  gewesen  sind,  —  freilich  Erl)en  die 
das  empfangene  Talent  niclit  gemehrt,  sondern  eher  gemindert  halien. 
An  den  Vorzügen  und  dauernden  Errungenschaften  der  altorientali- 
schen Künste  haben  unten  allen  Kulturvölkern  des  Alterthums  die 
Perser  den  geringsten  Antheil  gehallt.  Sie  waren  eben  so  glücklich, 
Zeitgenossen  der  griechischen  Kunstblütlie  zu  sein,  durch  die  sie  ver- 
ewigt und  den  späteren  Geschlechtern  traditionell  als  Typen  alles  orien- 
talischen Wesens  überliefert  worden  sind.  Die  Wirkung  davon  ist  noch 
in  der  römischen  Kaiserzeit  zu  spüren,  und  mag  auch  ein  Wesentliches 
beigetragen  haben  zur  landläufigen  Ueberschätzung,  deren  sich  die 
sassanidische  Kultur  und  Kunst  zu  erfreuen  hat. 


112  B.    Das  Prtaiizenovnanicnt  in  der  g-riechischen  Kunst. 


B.    Das  Pflaiizeiioriiaiiieiit   in  der  grieeliiselieii  Kniist. 

AVir  haben  die  Entstehun"'  nnd  Entwicklung-  der  Pflanzenornnmcn- 
tik  bei  den  altorientalisclien  Kulturvölkern  verfolgt  bis  zu  dem  späten 
Momente  herab,  da  der  bewegliche  hellenische  Geist  seine  zunächst 
friedliche  Eroberung  des  Ostens  bereits  begonnen  hatte.  Wie  auf  allen 
übrigen  Gebieten  des  Kunstschaftcns  sehen  wir  auch  auf  demjenigen 
der  Ornamentik  die  griechische  Kunst  spätestens  in  hellenistischer  Zeit 
den  Orient  in  Besitz  nehmen.  Zweifellos  war  die  abendländische  Deko- 
rationsweise bereits  lange  vor  den  Perserkriegen  sowohl  in  ihren  Grund- 
principien  als  in  ihren  Einzelmotiven  gegenüber  der  orientalischen  die 
*  vollkommenere,  stärkere  geworden.  Das  Ziel,  das  schon  der  altorientali- 
schen Ornamentik  im  Allgemeinen  vorgeschwebt  hatte  und  dem  sich  die 
im  Laufe  der  Geschichte  einander  ablösenden  Kulturvölker  des  Alten 
Orients,  zwar  mit  stufenweisem  Fortschritt,  aber  schliesslich  doch  nur  in 
unvollkommener  Weise  genähert  haben,  —  dieses  Ziel  A\urde  zuerst  und 
allein  von  den  Griechen  erreicht:  nämlich  jene  harmonische,  dem  inneren 
Wesen  eines  jeden  Kunstwerks  und  seinen  äusseren  Entstehungs-  und 
Zweckbedingungen  entsprechende  Ausstattung  mit  Verzierungsformen, 
jene  „tektonische"  Scheidung  zwischen  stort'liclu'm  (irundund  schmücken- 
dem Ornament,  zwischen  statisch  Wirksamem  und  Indift'erentem,  zAvi- 
schen  Eahmen  und  f^üllung,  welche  allmälig  bcAvusst  durchgeführte 
Scheidung  die  gesamnite  Knnstentwicklung  der  Mittelmeervölker  (ein- 
schliesslich Xordasiens  bis  jenseits  des  Iran,  das  ja  gleichfalls  allezeit 
nach  dem  Mittelmeere  und  nicht  nach  dem  Osten  Asiens  gravitirte)  von 
derjenigen  in  der  grossen  ostasiatischen  Kulturwelt  anscheinend  grund- 
sätzlich unterscheidet. 

Die  schönste  und  bedeutungsvollste  Errungt-nscha  ft  der 
hellenischen  Ornamentik,  nach  der  schon  die  altorientalische 
Kunst  gestrebt  hatte,  ist  die  rhythmisch  bewegte  Pflanzen- 
ranke; in  ihr  gipfelt  das  Verdienst  der  Griechen  um  die  Entwicklung 
des  Pflanzenornaments,  Die  vegetabilischen  Einzelformen,  Avie  sie  uns 
etwa  in  der  griechischen  Kunst  nach  T3eendigung  der  Perserkriege  aus- 
gebildet entgegentreten,  erseheinen  dagegen  durchwegs  ül)er  jeden 
Zweifel  hinaus  von  den  früheren,  den  altorientalischen  Stilen,  über- 
nommen und  wurflen  von  den  (kriechen  lediglich  unter  Absicht  auf 
P^n'eicliung  vollkommenster  formaler  Schönheit  ausgestattet.  Beides  — 
sowohl  die  echt  hellenische  Ranke  als  das  stilisirte  vegetabilische  Einzel- 


1.    Mykenisches.  113 

Ornament  von  orientalischem  Ursprung-,  aber  in  hellenischer  Ausg-e- 
staltung-  und  Vollendung  —  ist  für  alle  folgenden  Stile,  bis  auf  den 
heutigen  Tag,  das  Um  und  Auf  aller  idealen  Pflanzenornamentik  ge- 
blieben. "Wie  dasselbe  zu  Stande  gekommen  ist,  soll  im  Nachstehenden 
wenigstens  zu  entwerfen  versucht  werden. 

Die  ersten  Anfänge  einer  national-griechischen  Kunst  sind  mit  den 
heutigen  Mitteln  noch  ebenso  wenig  bestimmt  zu  fixiren ,  als  die  An- 
fänge des  griechisches  Volkes,  als  einer  ethnographischen  Einheit.  Die 
allerältesten  Kunstdenkmäler,  die  hierfür  in  Betracht  kommen  können, 
lassen  sich  heutzutage  nur  in  sofern  als  griechische  bezeichnen,  als  der 
Boden  auf  dem  sie  gefunden  worden  sind,  in  der  hellen  historischen 
Zeit  von  Griechen  bewohnt  gewesen  ist.  Es  sind  dies  die  aus  den 
ältesten  Schichten  von  Hissarlik  und  Cypern  stammenden  Funde: 
meist  keramische  Objekte  mit  rein  geometrischer  Verzierung.  Mit 
Rücksicht  auf  das  vollständige  Fehlen  einer  Pflanzenornamentik  an 
diesen  ältesten  Funden'),  erscheint  ein  näheres  Eingehen  darauf  für 
unseren  Zweck  überflüssig.  Eine  unzAveifelhafte  Pflanzenornamentik 
findet  sich  dagegen  in  der  sogen,  mykenisclien  Kunst  und  diese  werden 
wir  daher  zum  Ausgangspunkte  unserer  Betrachtung  machen  müssen. 

1.    3Iykenisches. 

Die   Entstehung   der  Ranke. 

Die  älteste  Kunst,  an  deren  auf  dem  Boden  des  späteren  Hellas 
ausgegrabenen  Denkmälern  uns  ein  unzweifelhaftes  Pflanzenornament 
entgegentritt,  ist  die  sogen,  mykenische  Kunst.  Hinsichtlich  der  Frage, 
welchem  Volke  die  Pfleger  und  Träger  dieser  Kunst  angehört  haben 
mochten,  gehen  die  Meinungen  heute  noch  weit  auseinander.  Die 
Einen  rathen  auf  einen  echt  hellenischen  Stamm,  die  Anderen  auf 
die  Karer,  die  Dritten  auf  Grund  der  weiten  Verbreitung  der  Fund- 
stätten der  hierher  gehörigen  Denkmäler  auf  ein  Mischvolk,  das  die 
Inseln  und  die  umliegenden  Festlandküsten  bewohnt  hätte,  wie  es 
übrigens  auch  der  Zusammensetzung  des  späteren  hellenischen  Volks- 
begriff's    entspricht.      Angesichts     solchen    Zwiespalts     der    Meinungen 

')  Goodyear  allerdings  (S.  381)  will  das  Vorbild  der  ältesten  kyprischen, 
d.  i.  der  g-ravirten  Dreieck-  imd  Zickzackornamentik,  gleichfalls  in  den  egypti- 
schen  Lotusblüthen-Reihen  erblicken :  eine  allzugewagte  Behauptung,  die  sich 
bloss  unter  Berücksichtigung  von  Goodyear's  radikaler  Theorie  von  einer  ein- 
zigen Quelle  für  alle  späteren  Kunstformen  verstehen  lässt. 

Riegl,  Stilfragen.  8 


114  B-    ^^^  Pflaiizeuornaniont  in  der  gTieehischeu  Kunst. 

müssen  "wir  davon  absehen,  unserer  Betrachtung  der  inykcnischen  Kunst- 
denkmäler, oder,  genauer  gesagt,  des  an  denselben  zu  Tage  tretenden 
Ptlanzenornaments  einen  liestimmten  ethnographischen  Ausgangspunkt 
zu  Grunde  zu  legen.  V^'iv  wollen  versuchen  diese  Kunst  ausschliesslich 
von  denjenigen  Gesichtspunkten  aus  zu  charakterisiren,  die  uns  im  Zu- 
sammenhange der  gestellten  Aufgabe  interessiren;  vielleicht  wird  sich 
uns  daraus  umgekehrt  die  Möglichkeit  ergeben,  auf  die  ethnographische 
Frage  Eückschlüsse  zu  ziehen. 

Eine  Charakterisirung  der  mykenischen  Kunst  nach  allen  ihren 
Seiten  hin  ist  bisher  nicht  geliefert,  ja  nicht  einmal  versucht  worden. 
Die  Ursache  hiefüi"  liegt  zweifellos  darin,  dass  bei  der  Betrachtung  der 
bezüglichen  Denkmäler  neben  vielem  Bekannten  manches  Fremdartige 
aufstösst,  dessen  Einreihung  in  die  hergebrachte  Schablone  des  orien- 
talischen Ursprungs  nicht  recht  gelingen  will,  und  das  anderseits  auch 
mit  späterer  helleniscliii-  Weise  keinen  augenfälligen  Zusammenhang 
aufweist.  Aus  verschiedenen  Gründen  glaubt  man  ein  hohes  Alter  für 
die  Blüthezeit  dieser  Kunst,  jedenfalls  mehrere  Jahrhunderte  vor  dem 
Jahre  Eintausend  annehmen  zu  sollen:  damit  lassen  sich  wiederum 
Funde  von  so  vorgeschrittener  technischer  und  künstlerischer  Be- 
schaffenheit, wie  etwa  der  Becher  von  Vaphio,  anscheinend  schwer  ver- 
einbaren. 

Goodyear  allerdings  trägi  auc-li  liinsiciitlieli  der  m>kenischen  Kunst 
keine  Bedenken,  sie  durchaus  egyptischem  Ursprünge  zuzuweisen'")- 
Von  den  ornamentalen  Motiven  der  mykenischen  Kunst  lässt  er  nur 
dem  Tintenfisch  eine  selbständige,  von  Egy^iten  unal)liängige  Bedeutung 
zukommen,  und  selbst  diese  eine  Ausnahme  scheint  ihm  an  Werth  sehr 
viel  eingebüsst  zu  haben,  seitdem  zwei  mykenische  Vasen  mit  Tinten- 
fischen auf  egyptischem  Boden  gefunden  worden  sind.  Nun  ist  doch 
im  Allgemeinen  die  vorliei-iscliende  Tendenz  der  klassischen  Archäologie 
eine  urientfreundliche;  wenigstens  haben  Ausführungen,  die,  wie  etAva 
diejenigen  MilclilnU'er's,  ein  eunipäisch-autochtliones  nichtorientalisclies 
Moment  in  dei-  ni\kenisclien  Kunst  zu  wesentlieliei-  Geltung  l>ringen 
wollten,  bisher  wenig  entgegenkomniendc  Aufnahme  gefunden.  Es  muss 
also  der  Sachverhalt  doch  nicht  so  klar  und  ül)crzeugend  daliegen  wie 
er  Goodyear  erscheint,  wenn  wir  wahrnelinien,  dass  dieser  Forscher  mit 
seiner  radikalen    Theorie   vom   ausschliesslich  egyptischen-)  Ursprünge 

'»)  A.  a.  0.  S.  ;U1  ff. 

*)  Die  egyptisclie  Kunst  wird  Ja  aucli  zur  altorientalischen  im  weitesten 
Sinne  ^jezJihlt. 


1.    Mykenisches.  115 

der  mykeiiischen  Kunst  Avenig'stens  vorläufig'  noch  isolirt  dasteht.  Es 
existirt  in  der  mykenischen  Ornamentik  eine  ganze  Reihe  von  Motiven 
ausser  dem  Tintenfische,  die  man  auf  originelle  Erfindung-  des  mykenischen 
Kunstvolkes  zurückzuführen  versucht  hat.  Darunter  befinden  sich  auch 
solche  von  offenbar  vegetabilischer  Grundbedeutung*,  womit  wir  auf 
unser  eigentliches  Thema  gebracht  werden. 

Die  mykenische  Kunst  hat  von  Pflanzenornamenten  einen 
sehr  reichlichen  Gebrauch  gemacht.  Indem  wir  uns  der  Er- 
örterung der  Avichtigsten  und  am  häufigsten  vorkommenden  unter  diesen 
Motiven  zuAvendeu,  wollen  wir  analog  dem  Vorgange,  den  Avir  bei  Be- 
sprechung des  altorientalischen  Pflanzenornaments  beobachtet  haben, 
Aviederum  zuerst  die  Blüthen-, 
Knospen-  und  BlattmotiA'e  für 
sich  betrachten,  und  in  zAveiter 
Linie  die  Art  ihrer  Verbindung 
unter  einander,  und  ihrer  dekora- 
tiven VerAvendung  zur  Flächen- 
musterung überhaupt  in's  Auge 
fassen. 

"Was  zunächst  die  vornehmsten 
Blüthenmotive  betrifft,  so  ist  ihre  ^.    ,. 

'  Flg.  4o. 

Betrachtung    in     der    That    geeignet  Oberthell  einer  mykenischen  Kanne. 

Goodyear's  Anschauung  zu  bestäti- 
gen. Unmittelbare  Copien  eg>'ptischer  Vorbilder  mit  allen  Avesentlichen 
Einzelheiten  treffen  Avir  darunter  zwar  fast  nirgends,  aber  ein  Avechsel- 
seitiger  Zusammenhang  ist  doch  in  den  meisten  Fällen  unverkennbar. 
Und  zAvar  ist  es  insbesondere  der  Volutenkelc  h ,  der  den  Zusammenhang 
so  recht  augenfällig  macht  (Fig.  45)^'').  Diesbezüglich  hat  schon  vor 
Goodyear  FurtAA^ängler  den  SachA^erhalt  richtig  erkannt^).  Xur  hat 
letzterer  als  Vorbild  diejenige  Form  des  Volutenlotus  im  Auge  gehabt, 
die  ausser  dem  Volutenkelch  bloss  eine  zäpfchenförmige  Füllung  des 
inneren  ZAvickels  enthält  'Fig.  20);  der  an  Fig.  45  sichtbare  Fächer, 
der  die  Blüthe  nach  oben  im  Halbkreis  abschliesst,  musste  infolgedessen 
FurtAvängler  als  selbständige  Zuthat  (Staubfäden)  erscheinen.  Eine  solche 
Annahme  Avird  aber  entbehrlich,  Avenn  Avir  als  Vorbild  A'on  Fig.  45  die 
egyptische  Lotuspalmette  (Fig.  16,  19)   annehmen,   die  ausser  Voluten- 


'■'■^)  FurtAvängler  u.  L.  Myken.  Vasen  81. 
^)  Sammlung-  Sabouroff  9,  Mykenische  Vasen  60. 


]^]ß  B.    Das  Pflanzcnomameiit  in  der  a'riecliischen  Kunst. 

kek'li  imd  zwickelfüllendem  Zäpfchen  ancli  den  Palmettenfächer,  also 
sämratliche  an  der  Blüthe  von  Fig.  45  zu  beobachtenden  Einzeltheile 
enthält-*).  Egyptischer  Knnstweise  entspricht  ferner  das  Ineinander- 
schachteln von  Kelchen,  das  Alternii'en  von  abwärts  nnd  aufwärts  ge- 
rollten Voluten,  wobei  zu  oberst  die  bekrönende  Blume ^).  Auch  ein- 
fache dreiblättrige  Lotnsproiile  sind  nicht  selten,  z.  B.  neben  Voluten- 
kelchen zu  Zwickelfüllungen  verwendet  an  einem  goldenen  Diadem''). 
Volutenkelchformen  mit  blosser  Zwickclfüllimg  oder  bekrönendem  Pal- 
mettenfächer in  strengerer  Ausführung  als  in  der  flüchtigen  Vasen- 
malerei treffen  wir  an  Schmucksachen').  Gleichfalls  an  Goldschmiede- 
sachen finden  Avir  das  Dreiblatt  mit  mehr  oder  minder  volutenartig  ge- 
krümmten Kelchblättern  unter  Beigabe  von  Eigenthümlichkeiten  in  der 
Detailzeichnung,  die  auf  die  Absicht  naturalistischer  Behandlung  schliessen 
lassen^),  worauf  weiter  unten  in  anderem  Zusannnenliange  zurückzu- 
kommen sem  wird.  Endlich  ist  noch  ein  mit  Voluten  ausgestattetes 
vegetal)ilisches  ilotiv  (Fig.  49)  zu  erwähnen,  das  zwar  grössere  Aehn- 
lichkeit  mit  einem  Blatte  als  mit  einer  Blüthenform  zeigt,  aber  der 
stark  betonten  Voluten  halber  dennoch  als  stilisirte  Blüthe  aufzu- 
fassen sein  dürfte,  an  welcher  das  zu  Grunde  liegende  Dreiblatt 
durch  Zusammenziehung  des  mittleren,  krönenden  Blättchens  mit  dem 
Kelche  zu  einem  einheitlichen  ungegliederten  Ganzen  umgebildet  er- 
scheint. 

Bisher  haben  Avir  es  mit  den  Blüthen  in  Seiten-  oder  halber  Voll- 
ansicht zu  thun  gehabt,  welche  Projektionen  an  den  mykenischen  Nach- 
bildungen der  egyptischen  Lotusprofil-  und  Lotuspalmetten -Vorbilder 
nicht  streng  geschieden  werden  können.  Auch  die  Blüthe  in  Voll- 
ansicht oder  die  Rosette,  hat  vielfach  Verwendung  gefunden,  so  z.  B. 
am  Alabasterfries  zu  Tiryns,  an  "Wandmalereien  ebendaselbst,  beider- 
seits einfach  neben  einander  gereiht  in  fast  geometrischem  Charalcter, 
dagegen  auf  einer  bemalten  Vase  aus  dem  d.  mykenischen  Grabe  "i  ii\ 
Begleitung  eines  ZAveiges,  also  in  mehr  naturalistischer  Art. 


*)  Volutenkelch  und  Palmettenfächer  olme  vermittelndes  Zäpfclien,  z.  B. 
Schliemann,  Mykenä  Fig*.  87. 

^)  Schliemann,  Mykenä  Fig-.  80,  g-anz  im  Schema  des  iihiinikisclicn  Pal- 
mettenbaumcs  gelialten.     Eine  Aiiswalii  bei  Gondyear  anl'  Tnl'.  1,1\'. 

^)  Scldiemann,  Mykenä  Fig;.  281. 

7)  Schliemann,  Mykenä  Fig;.  162,  163,  278,  303. 

')  Schliemann,  Mykenä  Yi^.  261—266. 

»)  Myken.  Thongetasse  XL  54. 


1.   Mykenisches.  117 

Ausgesprochene  Knospenmotive,  namentlich  in  der  typischen 
Alternirung  mit  Blüthen,  Avie  sie  die  egyptische  Kunst  zeigt,  hat  die 
mykenische  Kunst  anscheinend  nicht  zur  Darstellung  gebracht.  Auch 
von  Blattformen  ist  nur  eine  hervorzuheben,  die  späterhin  zu  weiter 
Verbreitung  in  der  dekorativen  Kunst  gelangt  ist:  das  sogen.  Epheu- 
blatt  (Fig.  46)'").  Goodyear  (S.  161  ff'.)  hat  auch  für  dieses  Motiv  Vor- 
bilder oder  doch  Parallelen  aus  egyptischem  Kunstgebiet  beizubringen 
gewusst,  wie  schon  auf  S.  51  angedeutet  Avurde. 

Die  Uebersicht  der  wichtigsten  Blüthenmotive,  die  in  der  mykenischen 
Kunst  vorkommen,  hat  also  ergeben,  dass  in  der  That  die  Vorbilder 
derselben,  Avie  schon  Furtwängler  und  Goodyear  Avollten,  in  den  A^oluten- 


Fig.  46. 
Töpfchen  mit  „Epheublatt"-Urnament  auf  der  Schulter.     Mykenisch. 

kelchformen  der  altegyptischen  Lotustypen  zu  suchen  sein  AA'erden. 
Von  einer  Charakterisirung  der  Art  und  Weise,  in  Avelcher  die  Entleh- 
nung erfolgt  ist,  wollen  Avir  A^orläufig  absehen  und  nur  so  viel  fest- 
stellen, dass  die  Entlehnung  in  keinem  einzigen  Falle  als  eine  sklaAische 
bezeichnet  AA^erden  konnte.  Wir  Avenden  uns  nun  der  Betrachtung  des- 
jenigen zu,  AA'as  sich  mit  Bezug  auf  die  sonstige  Ausstattung  der  ge- 
schilderten Blüthentypen,  insbesondere  mit  Bezug  auf  die  Vereinigung 
mehrerer  Blüthen  auf  einem  und  demselben  Grunde  sagen  lässt. 

Einfaches  Nebeneinanderreihen  findet  sich  nicht  bloss  bei  den 
Rosetten,  die  z.  B.  auf  den  Diademen  geradezu  den  Uebergang  zu 
starren,  aus  dem  Kreise  heraus  konstruirten  geometrischen  IMotiven  dar- 
stellen.   Auch  die  Volutenkelchformen  sehen  AAir  sehr  oft  nm  den  Bauch 


'0)  Mykeu.  Vasen  XVIII.  121,  XXI.  152,  XXVII.  208. 


\lg  B.    Das  Pflanzenornament  in  der  gTiecliischon  Kunst. 

oder  die  Schulter  eines  Gefässes  herum  in  einfacher  AVicdi-rliolunii- 
neben  einander  gestellt,  und  zwar  senkrecht  zur  Zone,  auf  Avelcher  sie 
fussen,  gerade  so  Avie  an  den  egyptischen  Lotusblüthen-Knospen-Friesen. 
Ein  höchst  bemerkenswerther  Unterschied  gegenüber  der  egyptischen 
"Weise  ergiebt  sich  aber  sofort,  Avenn  die  einzelnen  Blüthenmotive  mit 
einem  längeren  Stiele  ausgestattet  -werden.  AVährend  in  der  egyptischen 
Kunst  die  langen  Schäfte  steif  und  gerade  emporstarren,  sind  die 
flexiblen  Stengel  in  der  mykenischen  Kirnst  in  der  Kegel  mehr  oder 
minder  schräg  seitwärts  geneigt  (Fig.  47)"),  Avodurcli  eine  Be- 
Avegimg  zum  Ausdrucke  gebracht  erscheint,  die  nicht  in  der  Axenrich- 
tung  des  Gefässes  liegt  und  eben  dadiu'ch  die  Aufmerksamkeit  des 
Beschauers  hervorruft.  Das  Gleiche  lässt  sich  am  ZAveige  mit  dem 
Epheublatte  Fig.  4G  beobachten.     Es  ist  dies  offenbar  dir  gleiche  Ten- 


Fitr.  47. 
Aly kenisches  Aasenornament. 

denz,  di<'  auch  den  Kosetten  vielfach  an  Stelle  der  steifen,  siralilen- 
fönnigen  Anordining  eine  schräge  Richtung  ihrer  Blätter  gegeben  hat 
(Fig.  48)'-).  Die  zu  Grunde  liegende  Tendenz  vermögen  Avir  nur 
nach  ihrem  Effekte  zu  beurtheilen;  Avar  der  letztere  in  der  That  beab- 
sichtigt, so  Avai-  das  Ziel  der  „mykenischen"  Künstler  eine  \'ei-lel> en- 
digung, BcAA'egung  der  vorbildlichen  steif  stilisirien  egy])- 
tischen  MotiA'e. 

Ein  anderes  Beispiel,  das  zu  dem  i.;]eielien  Frgehjiisse  itihrt  (Fig.49)'2) 
ist  von  einer  Vasenscherbe  aus  dem  Ersten  Grabe  entlehnt.  Hier  sehen 
Avir  ZAvar  die  neben  einander  gereihten  Pflanzenstengel  parallel  zur  Axe 
des    Gefässes    gestellt.     "Wodurch   sich   aber  auch   in    diesem   Falle   ein 

")  Myken.  Vasen  XIll.  82,  XVIIl.  1-21,  XX.  112. 

''^)  Schliomaim,  Mykenä  Fig.   459,   ferner   namentlich   an   «leii    Dia'ienien 
•/.  B.  Schlieinaiin.  MykenJl  Fi^^  282,  358. 

'•■)  P'urtwaii^'-ler  u.  Löschcke,  Myken.  Tliongefässe  II. 


1.   Mvkenisches. 


119 


gruiidsätzliclier  Unterschied  geg-enüber  der  egyptischen  Weise  kund- 
giebt,  ist  der  Umstand,  dass  die  Stengel ,  von  denen  die  leise  geschweiften 
Schilfblätter  und  Volutenblüthen  rhythmisch  abzweigen,  nicht  steif  und 
gerade  emporstarren,  sondern  sich  in  sanfter  Wellenbewegung  in  die 
Höhe  schlängeln.  Es  äussert  sich  darin  offenbar  dieselbe  Neigung  für 
die  geschwungene  Linie,   die  wir    auch   an  Fig.  46   und  47  bevorzugt 


Fig.  48. 
Knochen,  umwunden  von  einem 
Goldbande  mit  getriebener  schräg- 
blättriger  Rosette. 
Aus  dem  Ersten  mykenischen 
Grabe. 


Fig.  49. 
Gemaltes  Vasenornament.     Mykenisch. 


sahen,  derselbe  leitende  freie  Zug  in  der  Zeichnung,  und  auch  der 
gleiche  künstlerische  Effekt.  Die  gekrümmte  Linie,  welche  dieEgypter 
überwiegend  bloss  in  den  geometrischen  Configurationen  (Spirale)  zur 
Anwendung    gebracht    haben'*),    wurde    von    den    „mykenischen" 


")  Solche  Ausnahmen  wie  der  Weinstock,  der,  in  der  egyptischen  Orna- 
mentik ungebräuchlich,  offenbar  bloss  um  einer  gegenständlichen  Bedeutung 
willen  Darstellung  gefunden  hat,  bei  Prisse  a.  a.  0.,  Jarres  et  Amphores,  be- 


120 


B.    Das  Pflanzenornament  in  der  S'riechischen  Kunst. 


Künstlern  auf  das  vegetabilische  Ornament  übertraiien'^). 
Die  Kurven  der  altegyptischeu  Kunst  (z.  B.  die  Bogenlinien)  sind  starr 
und  leblos  gegenüber  der  freien  Art  und  Weise,  in  welcher  dieselben 
in  der  mykenischen  Kunst  geführt  erscheinen. 

T\'enn  noch  ein  Zweifel  daran  übrig  bliebe,  dass  die  geschilderte 
Tendenz  in  der  mykenischen  Kunst  eine  durchaus  maassgebende  und 
Avesentliche  gewesen  ist,  so  muss  er  schwinden  angesichts  der  That- 
sache,  dass  diese  Kunst  die  ülierhaupt  einzig  möglichen  wahi'- 
liaft  künstlerischen  Verbindungsarten  gefunden  hat,  in 
welche    sich    vegetabilische    Motive    innerhalb    eines    Fries- 


■v-----; 


?>^i 


<.ä^i;V 


^>.>. 


•"SrV  ii-^i-rsiisi^-i; 


l'"ig.  6ü. 
Topfscherbe,  verziert  mit  aufgemalter  fortlaufender  WelUurauke.     Jlykcniscli,  ycfundcn  auf  Tliera 

Streifens  vermittels  der  gcsch  willigen  i'u  Linie  bringen 
lassen.  Flüssen  wir  iiäiiilich  angesichts  der  Fig.  4t)  und  i'.l  helcennen, 
dass  die  „mykenischen"  Künstler  die  llrsteii  geAveseii  sind,  welche  die 
lobendig  und  frei  bewegte  Pflanzeiiraiike  (üluiiden  haben,  so  lässt  sich 
ferner  auch  der  strikte  NachAveis  führen,  dass  dieselben  auch  die  beiden 
innerhalb  einer  IV.nliire  inr,gliclieii  mwl  daher  tür  ewige  Zeiten  giltigen 
Wellenrankensclieiiien  bereits  gek.inni  und  zur  Anweiidiiiig  gebracht 
haben. 

weisen  nur  die  Kc;;-»'].  Audi  wo  die  Ulütlien  über  den  senkrechten  Steiiyel 
etwas  geneigt  sind,  verrjlth  sich  ein  zu  Grunde  liegendes  starres  Schema. 

'*)  Weitere  Beispiele  dafür  n.  A.  aus  dem  Vieiten  Grabe:  INTyken.  Tlion- 
gefässe  VI.  30,  31,  32,  31. 


1.   Mykenisches.  121 

Das  eine  ist  die  fortlaufende  Wellenranke  (Fig.  50)"^).  Diese  bestellt 
in  einer  fortlaufenden  Wellenlinie,  von  Avelclier  in  der  Mitte  einer  jeden 
Auf-  oder  Abwärtsbewegung-  eine  schwach  eingerollte  ßankenlinie  nach 
der  entgegengesetzten  Richtung  (nach  rückAvärts)  abzweigt.  An  diese 
Abzweigungen  sind  zAvar  keine  Blüthen-,  Knospen-  oder  Blattmotive 
angesetzt,  aber  der  vegetabilische  Grundcharakter  Avird  völlig  klar, 
Avenn  Avir  Fig.  4(3  zum  Vergleiche  heranziehen,  avo  die  gleiche  Eanke 
an  einem  ZAveige  sitzt,  der  als  solcher  durch  das  Epheublatt  in  un- 
zweifelhafter Weise  gekennzeichnet  erscheint.  Auch  das  auf  Taf.  VI. 
3-4  der  Myken.  Thongefässe  abgebildete  Fragment  aus  dem  Vierten 
Grabe  dürfte  zu  einer  ähnlichen  Wellenranke  Avie  Fig.  50  zu  ergänzen 
sein.  Dass  auch  die  reine  geometrische  Spirale  dieses  Schema  über- 
nommen haben  mochte,  lag  nahe.  Wenigstens  ein  Beispiel  hiefür  findet 
sich  bei  Schliemann,  Mykenä  Fig.  460  auf  der  äussersten  Scheibe  links 
unten    (aus    dem  Ersten   Grabe),   AA^ofern    sich  __=.^_.=r—  - 

der  Zeichner  diesfalls  keine  AAdllkürliche  Frei-     m^F^^^^^^^^^^ 
heit  gestattet  hat.     Ja,  ich  würde  mich  nicht     ^^v\^\ ^^^/(^^ 
einmal  viel  dagegen  sträuben,  Avenn  Jemand  ^k^^^J^^^^ 

behaiipten  wollte,  dass  die  egyptische  Spirale  iB^^SiSPf 

den  Anstoss  zur  Schaffung  der  fortlaufenden  t^?vsSv^i^^ 

Wellenranke  gegeben  hat:   das  Maassgebende  i^U^^^^^ 

bliebe  immer  der  Umstand,  ob  die  Egypter  r.echer  aus  Me^gara.''Mykenisch. 
selbst,  oder  die  „Mykenäer"  es  gcAvesen  sind, 

die  diesen  entscheidenden  Schritt  gethan  haben.  Es  ist  aber  mit  Gcaa-Iss- 
heit  anzunehmen,  dass  auch  grössere  vegetabilische  Einzelmotive  auf 
fortlaufende  Wellenranken  aufgereiht  AA'orden  sind:  zum  BcAA^eise  dessen 
betrachte  man  nur  noch  einmal  Fig.  49,  aa^o  der  geschA^a^ngene  Stengel 
ja  nichts  anderes  ist  als  eine  Wellenranke,  von  der  die  paarAveisen 
Schaftblätter  und  die  grösseren  mit  Voluten  versehenen  Blätter  ab- 
zAveigen;  nur  konnten  sie  hier  in  freierer  BcAvegung  gehalten  Averden, 
weil  sie  in  diesem  Falle  eben  nicht  in  das  schmale  Band  einer  Bordüre 
gebannt  sind'^). 


1«)  Myken.  Vasen  XII.  79,  auf  Thera  g-efunden,  von  FurtAvängler  und 
Löschcke  ihrem  zAveiten  mykenischen  Vasenstil  zugesclu-ieben. 

'')  Man  vergl.  auch  Furtwäng-ler  luid  Löschcke,  Myken.  Thongefässe 
IV.  19:  das  Hauptmotiv  ist  in  diesem  Falle  eine  WellenUnie,  in  deren  Keh- 
lungen je  ein  Kreis  mit  einem  eingeschriebenen  fächerförmigen  ZAA'eige  sitzt. 
Ferner  erblicke  ich  eine  fortlaufende  Wellenranke  in  der  Dekoration  eines 
Bechers  aus  Megara   (Fig.  51),   den  Löschcke  im  Arch.  Anzeiger  1891,  S.  15 


222  B-    Das  Ptlanzenoniament  in  der  g-riechischen  Kunst. 

Die  fortlaufende  Wellenranke  ist  in  der  hellenischen 
Kunst  eines  der  allergewöhnliehsten  Motive  g'eworden,  und 
ist  es  durch  alle  folgenden  Stile  hindurch  bis  auf  den  heutigen  Tag  ge- 
blieben. Und  doch  ist  dieselbe  in  der  altorientalischen  Kunst 
nicht  nachweisbar.  Angesichts  der  Einfachheit  des  Schemas  ist 
man  versucht  an  das  Ei  des  Columbus  zu  denken.  Blicken  wir  aber 
zurück  auf  die  altorientalischen  Stile,  wie  diese  sich  zu  analog(ni  Auf- 
gaben verhalten  haben,  so  sehen  Avir  deutlich  ein.  Avie  nach  mannig- 
fachem Tasten  und  Versuchen  erst  die  „mykenischen"  Künstler  die 
erlösende  Formel  gefunden  haben.  An  der  reciproken  Gegenüberstel- 
lung gereihter  Pflanzenmotive  haben  sich  schon  die  Egypter  versucht. 
Ihre  reifste  Schöpfung  nach  dieser  Richtung  Avar  der  Bogenfries  (Fig.  22), 
dem  sie  einen  ZAveiten  gegenüberstellten  (Fig.  23),  um  dem  Postulat  der 
Reciprocität,  des  Aus-  und  EiuAvärtsAA-eisens  eines  Bordürenmusters  Cienüge 
zu  leisten.  Die  Asiaten  sind  ebenfalls  über  diese  Lösung  nicht  hinaus- 
gekommen'^). Erst  den  „mykenischen"  Künstlern  gelang  es  durch  die 
P>rfindung  des  Schemas  der  fortlaufenden  "Wellenranke  einei'seits  die 
Einseitigkeit  des  einfachen  Bogenfrieses  (Fig.  22),  anderseits  die  unschöne 
Steifheit  des  gedoppelten,  sozusagen  reciproken  Bogenfrieses  (Fig.  23) 
zu  brechen,  und  die  Motive  abAvechsclnd  nach  oben  und  unten  AA-eisend 
auf  eine  durchlaufende  Verbindungslinie  aufzureihen.  Dagegen  hat 
man  höchst  bezeichnendermaassen  bis  jetzt  kein  einziges  Beispiel  eines 
vegetabilisch  charakterisirten  Bogenfrieses  in  der  mykenischen  Kunst 
gefunden.  Es  ist  dieser  Umstand  um  so  bezeichnender,  als  die  MykeniUu' 
soAA^ohl  den  Rundbogen  als  den  Spitzbogen  in  fortlaufender  Friesform 
sehr  wohl  gekannt  und  inslx-sondere  an  getriebenen  .M<'tnllbechern  zur 


publicirt  hat.  Löschcke  glaubt  das  Uniament  \  oii  (h'u  Nautilus-DarsteUuugen 
ableiten  zu  sollen.  Ich  sehe  eine  Wellenlinie,  in  deren  Buchten  mandelförmige, 
seitAA'ärts  gesclnvungene  Knnsi)en  oder  Blätter  sitzen,  ohne  gleichwohl  durch 
einen  Stengel  mit  der  Wellenlinie  verbunden  zu  sein;  die  kleinen  Schlangen- 
linien  mit  Punkt  dienen  offenbar  '/um  Abschlüsse  der  ZAvickel. 

'")  Bei  Perrot  und  f^hipiez  a.  a.  0.  III.  Fig.  öTfiD  ist  ein  mit  dei-  Wellen- 
ranke, \'erziei1es  Geschmeide  abgebildet,  das  aus  (uriuni  stanmit  und  Aon 
Perrot  phönikischem  Ursprung  zugCAviesen  Avird.  Dieses  Beispiel  hat  Avohl 
aucli  Böhlau  im  Auge,  Avenn  er  (.lahrl).  1888  S.  333)  zum  böotischen  Beispiel 
einer  Wellenranke  (siehe  Fig.  80)  von  kyprisch-grieclnsclien  Goldschmiedesaelien 
.spricht,  die  das  in  Hede  stehende  Moti\'  zur  Schau  tragen.  In  Anbetrnclit 
der  Vereinzelung'  und  des  dem  allgemeinen  Charakter  nach  gewiss  sjiäten 
Entstehung-sdatums  dieses  Geschmeides  kann  man  dasselbe  in  der  Tbat  nur 
mit  Böhlau  g-riecliischem  Ursprünge  zuAveisen. 


1.    [Mykenisches.  J23 

Amvendung  gebracht  haben '^j.     Auch  auf  Vasen   ist  der  geometrische 
Bogenfries  nicht  selten-*^). 

So  einfach  also  das  Schema  der  fortlaufenden  Wellenranke  sich 
vom  Standpunkte  unserer  heutigen  Uebersicht  über  das  vergangene 
Kunstschaffen  darstellen  mag,  ist  es  doch  zu  jener  Zeit  eine  Errungen- 
schaft gewesen,  die  wir  als  epochemachend  in  der  Geschichte  der  Or- 
namentik bezeichnen  dürfen.  Und  nicht  genug  damit:  die  mykenische 
Kunst  hat  auch  die  zweite  künstlerisch  mögliche  Variante  des  Wellen- 
rankenmotivs ,  die  intermittirende  WeUenranke  gekannt  und  geübt.  Der 
Beweis  liegt  vor  auf  einer  Vase  aus  dem  Sechsten  Grabe  (Fig.  52)2'). 
Die  typische  Form,  in  welcher  das  Motiv  in  der  späteren  griechischen 
Kunst  und  in  allen  späteren  Künsten  überhaupt,  überwiegend  gebraucht 
worden  ist,  soll  gleich  nachstehend  durch  ein  Beispiel  von  einer  melischen 
Vase  (Fig.  53  nach  Conze,  Melische  Thongefässe  I.  5)  illustrirt  werden. 


Fig.  52. 
Gemalte  Epheuranke  von  einer  Vase  aus  dem  Sechsten  mykenischen  Grabe. 

um  die  Identität  desselben  im  letzten  Grunde  mit  dem  mykenischen 
Beispiel  zu  belegen.  Die  Wellenlinie  läuft  an  Fig.  53  nicht  in  einem 
ununterbrochenen  Flusse  fort,  sondern  erscheint  an  den  Berg-  und  Thal- 
punkten unterbrochen  durch  Blüthenmotive,  die  sich  daselbst  in  genau 
derselben  Weise  ansetzen  wie  die  Lotus-Blüthen  und  Knospen  .an  die 
einseitigen  Bogenreihen  in  der  egyptischen  (Fig.  22)  und  assyrischen 
(Fig.  34)  Kunst.  Die  Blüthenfonnen  in  Fig.  53  sind  ebenfalls  unver- 
kennbare Abkömmlinge  von  egyptischen  Vorbildern:  dies  beweist  das 
spitzblättrige  Lotusprofil  und  die  Volutenkelche,  die  allerdings  missver- 
standener Weise  in  Kreise  transformirt  erscheinen,  mit  Ausnahme  der 
äussersten  Blüthe  links,  wo  die  Volute  als  solche  noch  deutlich  zu 
Tage  tritt.  Das  mykenische  Beispiel  Fig.  52  unterscheidet  sich  nun 
von  der  eben  betrachteten  Fig.  53  in  Bezug  auf  das  zu  Grunde  liegende 


'^)  Schllemann,  Mykenä  Fig.  475,  453. 

20)  Z.  B.  Myken.  Thongefässe  IV.  17. 

21)  Myken.  Thongefässe  XI.  56. 


224  B.    Das  Pflaiizenornament  in  der  gTiechisehon  Kunst. 

Kankenschema  bloss  dadurch,  dass  an  ernsterem  die  Interniittirungcii 
uicTit  au  die  Berg-  und  Tlialpuukte  verlegt  siud.  Zu  Grunde  liegt  aber 
auch  der  Fig.  52  zweifellos  die  Wellenlinie,  die  nur  zum  Unterschiede 
von  Fig.  ö3  ungefähr  in  der  Mitte  einer  jeden  auf-  und  absteigenden 
SchAviugung  intermittin.  Und  selbst  dieser  Unterschied  ist  als  wesent- 
lich und  charakteristisch  nicht  genug  zu  betonen,  da  er  gleichfalls  in 
hohem  Grade  geeignet  ist.  dasjenige  zu  bestätigen,  was  wir  vom  Cha- 
rakter der  mykenischen  Ptianzen-Ornanu'utik  im  Allgenu'inen  gesagt 
haben. 

Die  Kunst,  die  uns  au  den  nielischcn  Vasen  entgegentritt,  steht 
bereits  im  erneuerten  Banne  eines  entschiedenen  orientalischen  PHinflusses, 
der  sich  weit  unmittelbarer  und  autoritärer  geltend  gemaclit  hat,  als  der- 


Gemaltes  Ornaiuent  eiuer  iutermittirenden  Welleiiranke  vou  eiuer  malischen  Vase. 


jenige,  dem  die  „mykenischen"  Künstler  ihre  Blüthenmotive  verdankten. 
Es  hängt  dies  mit  Geschehnissen  der  nachnnkenischen  Zeit  zusammen, 
deren  P^rörterung  an  geeigneterer  Stelle  nicht  vorgegriHrn  werden 
darf.  Die  Ei'riingciiscliaften  t\i'V  A\'('lli'iiraiik('  lialicii  nun  die  griechi- 
schen Künstler  auch  der  nachniykeni.schen  Zeit  niemals  melir  i)reisgc- 
geben,  aber  die  .Stilisining  ist  mit  dem  Eindringen  der  strengen  orien- 
talischen Typen  gleichfalls  eine  strengere  geworden.  Die  Eotushbitlicn 
in  Fig.  53  weisen  ganz  so  wie  die  egyptisclicn  parallel  zur  Axe  des 
Gefässes    entweder    aufwärts    uder    abwärts-'-).      An    der    mykenischeu 


■■'-)  Struktnr.syinl)oliker  werden  freilich  dieses  Aul-  und  A1)wärtsweiseu 
als  feinsinnige  Bezugiialniu-  auf  die  Function  des  Aus-  und  l'ängiesscns  auf- 
tassen.     Dies  würde  mm    .■lilcnt.-ills    liir   lirn    IIhIs   eiuer  \ase    passen-,   Fig.  53 


1.    Mykenisches.  125 

Wellenranke  Fig.  52  manifestirt  sich  dagegen  der  freie  oder  nur  inner- 
halb loser  Fesseln  sich  bewegende  Zug,  den  wir  schon  Aviederholt  an 
Fig.  46- — 49  n.  s.  w.  hervorzuheben  Gelegenheit  hatten.  Die  angesetzten 
Epheublätter  Aveisen  nicht  starr  nach  auf-  oder  abwärts,  sondern  er- 
scheinen schräg  projicirt,  um  die  einseitige  Richtung  zu  durchbrechen: 
dabei  weisen  ihre  Spitzen  dennoch,  wie  es  dem  Schema  zukommt,  ein- 
mal nach  oben  und  dann  wiederum  nach  unten.  Die  Gefälligkeit  des 
Motivs  ist  eine  bestechende  und  muss  insbesondere  denjenigen  Wunder 
nehmen,  der  die  Blüthezeit  dieser  Kunst  in  möglichst  fernabliegend»' 
Zeiten  zurückverlegen  möchte.  An  Fig.  53  tritt  dagegen  das  Schema 
platt  und  deutlich  zu  Tage,  und  es  bedarf  erst  genaueren  Zusehens, 
um  uns  zu  überzeugen,  dass  es  das  gleiche  Schema  ist,  das  wir  auch 
an   Fig.  52  befolgt  gesehen  haben. 

Wenn  die  abweichende  nüchterne  Form  von  Fig.  53  dem  Einflüsse 
orientalischer  Art  der  Stilisirung  zugeschrieben  wurde,  so  ist  damit  zu- 
gleich gesagt,  dass  der  antike  Orient  in  vorhellenistischer  Zeit 
die  intermittirende  Wellenranke  ebensowenig  gekannt  hat, 
wie  die  fortlaufende  Wellenranke,  —  und  um  so  weniger  gekannt 
haben  konnte,  als  das  intermittirende  Schema  gegenüber  dem  fort- 
laufenden eine  Weiterbildung  und  Complication  darstellt.  Der  Umstand 
dass  wir  es  hier  mit  einer  vegetabilischen  Wellenlinie,  mit  einer  wirk- 
lichen Pflanzenranke  zu  thun  haben,  Avofür  wir  bei  Betrachtung  der 
fortlaufenden  Wellenranke  mangels  von  Blumen-  oder  Blätteransätzen 
an  den  bezüglichen  mykenischen  Denkmälern  keinen  al:)soluten  Nach- 
weis führen  konnten,  erscheint  ausser  Zweifel  gesetzt  durch  die  „Epheu- 
blätter", in  welchen  die  Wellenranke  in  Fig.  52  intermittirt. 

Es  wnrde  schon  früher  erwähnt,  dass  Goodyear-^)  für  eine  ganz 
ähnliche  Stilisirung  der  Lotusblätter  (S.  51)  in  der  egyptischen  Kunst 
Beispiele  anzuführen  weiss,  und  deshalb  das  E'pheuhlaU  einfach  auf  alt- 
egyptischen  Ursprung  zurückführt.  Was  gegen  einen  solchen  Zusam- 
menhang zu  sprechen  scheint,  ist  der  Umstand,  dass  das  „Epheublatt"  in 
der  mykenischen  Kunst  gerade  immer  in  solcher  Behandlung  entgegentritt, 
die  gar  nichts  Egyptisches  an  sich  hat.  Von  dem  specifisch  mykenischen 
Charakter  des  Zweiges  Fig.  46  war  schon  früher  die  Rede;  das  gleiche 
gilt  womöglich  in  erhöhtem  Maasse  von  Fig.  52.    In  der  späteren  grie- 


beflndet  sich  aber  auf  der  Schulter  ehier  solchen   (Fig*.  66).     Auch  in  dieser 
Beziehung-  haben  die  Nachredner  Semper's  viel  zu  viel  hineing'edeutelt. 
23)  a.  a.  0.  S.  161  ff. 


126  B-    D^s  Prtaiizenornament  in  der  gTiochischen  Kunst. 

chischen  Kunst  ist  das  Eplieublatt  von  der  g-oselnvungenen  Ranke  meist 
unzertrennlich:  wo  es  lose  gereiht  vorkommt,  dort  zeigt  es  höchst  cha- 
rakteristischer prassen  sehr  frei  bcAvegte  Formen,  wofür  ein  sprechendes 
Beispiel  auf  der  Schulter  einer  bei  Salzmann,  Necropole  de  Camiros 
Taf.  47  publicirten  Vase.  Auch  die  nicht  seltenen  etruskischen  Beispiele 
von  „Epheublättern",  die  Goodyear's  Scharfblick  nicht  entgangen  sind, 
treten  gcAvöhnlich  in  Begleitung  von  geschwungenen  Kankenstengeln 
auf.  Was  aber  doch  wieder  andererseits  eine  Entlehnung  aus  egyp- 
tischem  Gebiete  als  das  Wahrscheinlichste  erscheinen  lässt,  ist  der  Um- 
stand, dass  es  ein  in  der  Geschichte  der  Ornamentik  bis  zu  diesem 
Punkte  und  noch  lange  nachher  unerhörtes  Ereigniss  bedeuten  würde, 
wenn  man  ein  so  unbedeutendes  Ding  wie  ein  Blatt  an  und  für  sich, 
um  seiner  selbst  willen,  unter  die  Zierformen  aufgenommen  hätte.  Es 
erscheint  daher  innner  noch  als  das  Wahrscheinlichste,  dass  das  „Epheu- 
blatt"  als  Blüthenform  aus  fremdem  Kuiistbositz  von  den  ..niykcnischen"' 
Künstlern  übernonunen  wurde. 

Wir  fassen  nunmehr  das  Ergebniss  zusammen.  In  der  mykenischen 
Kunst  begegnet  uns  überhaupt  zum  ersten  Male  eine  frei  bewegte 
Pflanzenranke  zu  dekorativen  Zwecken  verwendet.  Ferner  ist  die  my- 
kenische  Kunst,  so  viel  Avir  sehen  können,  die  Wiege  der  fortlaufenden 
sowie  der  intermittirenden  Wellenranke  gcAvesen,  d.  h.  derjenigen  zwei 
PHanzenrankenmolive,  die  der  griechischen  Kunst,  und  zwar  dieser 
zuerst  innerlialb  der  ganzen  antiken  Kunstgeschichte,  ganz  besonders 
eigenthümlich  gewesen  sind.  Wer  vorschauend  sich  der  entscheidenden 
Rolle  bewusst  ist,  welche  das  Rankenornament  in  der  Folgezeit,  in  der 
hellenistischen  und  in  der  römischen  Kunst,  dann  im  Mittelalter  nament- 
lich in  der  saracenischen-^"),  endlich  in  der  Renaissancckunst  bis  auf 
den  heutigen  Tag  gespielt  hat,  wird  erst  voll  ermessen,  welche  epochale 
Bedeutung  jener  Zeit  und  jcnieni  N'nlke  beigemessen  Averden  mnss,  avo 
dasselbe  zum  ersten  Male  nachAvcislich  geübt  Avurde.  Das  i\lotiA'  der 
frei  bcAvegten  Pflanzenraiik(!  ist  in  diesem  Lichte  betraclitet  ein  überans 
sprechender  Ausdruck  liir  den  griechischen  Kunstgeist  übei-liau|>t.  Ebenso 
wie  dieser  die  ui-nlt   egyptischen  Blütlieiinintive  n;icii  den  Gesetzen  des 

''"")  Die  interniittirendc  W'clleurankc  ist  n.  A.  nncli  lieute  <ias  j;-el)räiu'ii- 
lichstc  Bordüreniriotiv  au  persischen  Teppichen.  Da  kein  ass.\  risciies  oder 
achämcnidisches  Denkmal  über  die  einscitijjen  Bog-enreihen  iiinausg'ekonniien 
ist,  Avird  es  wohl  für  niemand  Unbefangenen  mehr  einen  ZAveifel  leiden,  dass 
dieses  Motiv  erst  mit  der  helienistisciieii  Invasion  in  das  Festland  von  Asien 
gelangt  ist. 


1.    Mykenisches.  127 

Formschönen  in  der  denkbar  gefälligsten  Weise  umgebildet  hat,  so  hat 
er  auch  die  vollkommenste  Weise  der  Verbindung  zwischen  diesen 
Blüthen  gefunden:  die  im  Avohllautenden  Rhythmus  verfliessende  Ranke. 
Kein  Vorbild  in  der  Xatur  konnte  auf  das  Zustandekommen  der  Wellen- 
ranke unmittelbaren  Einfluss  üben,  da  sie  sich  in  ihren  beiden  typischen 
Formen,  insbesondere  in  der  intermittirenden ,  in  der  Natur  nirgends 
findet:  sie  ist  ein  frei  aus  der  Phantasie  heraus  geschaffenes  Produkt  des 
griechischen  Kunstgeistes. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  gewinnen  wir  aber  eine  neue, 
fundamentale  Anschauung  von  der  geschichtlichen  Stellung  der  my- 
kenischen  Kunst  überhaupt:  die  mykenische  Kunst  erscheint  uns 
hiernach  als  der  unmittelbare  Vorläufer  der  hellenischen 
Kunst  der  hellen  historischen  Zeit.  Das  Dipylon  und  Avas  sonst 
dazwischen  lag,  war  nur  eine  Verdunkelung,  eine  Störung  der  ange- 
bahnten Entwicklung.  Und  wenn  es  einen  Zusammenhang  giebt  zwischen 
kunstgeschichtlichen  Beobachtungen  und  ethnographischen  Verhältnissen, 
so  Averden  wir  den  Rückschluss  wagen  dürfen,  dass  das  Volk,  welches 
die  mykenische  Kunst  gepflegt  hat,  mögen  es  nun  die  Karer  oder  sonst- 
weichen Xamens  gewesen  sein,  • —  dass  dieses  Volk  eine  ganz  wesent- 
liche Componente  des  späteren  griechischen  Volksthums  gebildet  haben 
muss.  Die  zweite  grosse  Staffel  der  Kunstgeschichte,  Avelche  die  vor- 
alexandrinische  Kunst  der  Hellenen  repräsentirt,  —  die  „mykenischen" 
Künstler  haben  sie  bereits  erklommen.  Wenn  Puchstein  in  den  Säulen 
des  Atridenschatzhauses  die  wahren  protodorischen  Säulen  erblickt  hat, 
so  Averden  Avir  in  der  Ornamentik  der  mykenischen  Vasen  und  Gold- 
sachen die  AA^ahre  protohellenische  Ornamentik  sehen  dürfen,  ebenso 
Avie  in  der  Krieger\"ase ,  dem  Becher  A-on  Vaphio  u.  s.  av.  die  unmittel- 
baren Vorläufer  jener  Darstellungen  rein  menschlicher  Thaten  und  Vor- 
gänge, wie  sie  die  reife  hellenische  Kunst  auch  auf  gcAA^öhnlichen  AU- 
tagsAverken  dem  Auge  vorzuführen  gesucht  hat. 

Die  erörterte  Bedeutung  des  Rankenornaments,  insbesondere  der 
Wellenranke,  in  der  mykenischen  Kunst  ist,  Avie  es  scheint  —  bisher 
nicht  genügend  erkannt  Avorden.  Der  einzige,  dem  meines  Wissens  das 
Vorkommen  der  Wellenranke  in  den  vor-  und  frühgriechischen  Stilen 
Anlass  zu  einigen  Bemerkungen  gegeben  hat,  ist  J.  Böhlau^*)  geAA-esen, 
der  das  Schema  der  fortlaufenden  Wellenranke,  wie  es  sich  an  einigen 
von  ihm  untersuchten  böotischen  Vasen  findet,   ganz  richtig  mit  dem 


2^)  Jahrb.  des  deut.  archäol.  Inst.  1888,  S.  333. 


228  ß-    -^'^^  Pflanzenornament  in  der  gnechischen  Kunst. 

mykenischen  Beispiel  Fig.  50  in  Verbindung"  g-obr;u'hr  und  dassL'lbc  als 
specitiscli  gi'iechiscli  erkannt  liat,  obne  die  Sache  Aveiter  zu  verfolgen. 
Goodyear  ist  das  Vorkommen  der  fortlaufenden  "Wellenranke  in  der 
mykenischen  Kunst  augenscheinlich  entgangen,  nicht  aber  die  inter- 
mittirende  Variante  auf  der  Vase  Fig.  52.  Er  giebt  auch  zu,  dass  dies 
ein  Motiv,  und  zAvar  —  wie  er  meint  —  das  einzige  Motiv  sei-^),  das  der 
mykenischen  und  der  späteren  griechischen  Kunst  gemeinsam  gewesen 
ist.  Einen  kausalen  Zusammenbang  zwischen  beiden  durfte  er  aber 
nicht  zugestehen,  kraft  des  Vorurtheils,  in  dem  er  hinsichtlich  des  Allge- 
meincharakters der  mykenischen  Kunst  und  ihrer  Träger  befangen  ist. 
Die  „Mykenäer"  sind  in  Goodyear's  Anschauung  karische  Söldner  ge- 
wesen, kriegerische  Beutemacher,  die  in  Egypten  aus  Anschauung  etwas 
erlernt  haben,  und  es  zu  Hause  schlecht  und  recht  nachmachten.  Das 
tiefer  liegende  künstlerische  Moment  kam,  wie  auch  sonst  in  der  Kegel 
in  Goodyear's  Buche,  bei  dieser  Beurtheilung  gar  nicht  in  Kechnimg. 
Eine  Erklärung  für  die  konstatirte  Gemeinsamkeit  niusste  aber  von 
ihm  gleichAvohl  geliefert  werden. 

Diese  Erklärung  Goodyear's  lautet  dahin,  dass  das  ^lotiv  von 
Fig.  52  in  der  griechischen  Kunst  erst  vom  5.  Jahrhundert  ab  vorkommt, 
(was  schon  durch  das  melische  Beispiel  Fig.  53  Aviderlegt  erscheint), 
dass  Zwischenglieder  fehlen  und  daher  eine  beiderseitige  Entlehnung 
aus  einem  dritten  Gebiet  angenommen  werden  müsse.  Als  dieses  dritte 
Beispiel  bezeichnet  Goodyear  Cypern  und  zAvar  auf  Grund  einer  bei 
Cesnola,  Cyprus  S.  145  abgebildeten  Steinvase  und  eines  daselbst  auf 
S.  190  publicirten  Terracotta-Sarkophags.  Keines  der  beiden  Beispiele 
zeigt  aber  eine  intermittirende  Wellenranke,  und  überdies  sind  beide 
zweifellos  griechischen  Ursprungs.  Die  Steinvase  enthält  Epheublätter 
auf  einen  geraden  Stengel  aufgereiht;  die  als  Palmette  gestaltete 
Henkelattache  lässt  über  den  griechischen  Ursprung  dieses  Stückes 
keinen  Zweifel.  Der  Sarkophag  entliält  allerdings  die  Epheulilätter 
auf  eine  fortlaufende  (nicht  auf  eine  intermittirende)  Wcllenranke  auf- 
gereiht; dieselbe  macht  aber  einen  völlig  ausgeprägt  griechischen  Ein- 
druck, und  da  Cesnola  selbst  über  das  Alter  sich  nicht  ausspricht,  auch 
die  Fundumstände  keinen  Avie  immer  gearteten  Schluss  zulassen,  so 
kann  auch  dieses  Beis])iel  nicht  für  einen  BeAveis  des  Vorkommens  der 
"Wellenraiikc  in  dei-  ]ilir.iiikiseh-ky]»rischen  Kirnst  angesehen  Averden. 
In  der  Kritiklosigkeit,  die  Goodyear  in  dieser  Frage  bekundet,  Aviir<lc 

")  A.  a.  0.  314. 


1,    Mykenisches.  \29 

er  ofi'enbar  vollends  bestärkt  durch  den  Umstand,  dass  Flinders  Petrie 
im  Jahre  1890  zwei  Beispiele  von  Wellenranken  im  Typus  von  Fig.  52 
in  Egypten  gefunden  haben  soll,  datirbar  in  die  Zeit  der  19.  oder  den 
Beginn  der  20.  Dynastie.  Selbst  wenn  sich  die  Identität  dieser  zwei  Bei- 
spiele mit  dem  intermittirenden  Typus  von  Fig.  52  herausstellen  sollte, 
wäre  dies  mit  Rücksicht  auf  das  massenhafte  mykenische  Geschirr,  das 
in  Egypten  (namentlich  von  Petrie)  gefunden  wurde,  nicht  entscheidend 
für  egyptischen  Ursprung.  Zwischen  dem  Ijornirten  egyptischen  Kunst- 
geist und  demjenigen  der  sich  in  der  griechischen  Pflanzenranke  aus- 
spricht, liegt  eben  eine  ganze  Welt. 

Der  freie  naturalistische  Zug,  der  sich  im  I^ankenornament 
ausspricht  und  dessen  Vorhandensein  in  der  mykenischen  Kunst  Good- 
year schlankweg  leugnet,  lässt  sich  bei  aufmerksamer  Beobachtung  auch 
an  gewissen  Einzelmotiven  der  my- 
kenischen B 1  ü t h e n o r n a m e n t i k  beob- 
achten. Wir  haben  schon  vorhin  (S.  115  f.) 
gesehen,  dass  die  „Mykenäer"  die  gebräuch- 
lichsten Voluten -Blüthenmotive  nicht  skla- 
visch nach  dem  egyptischen  Typus  kopirt, 
sondern  mehr  oder  minder  frei  nachgebildet 
haben.  Möglicherweise  haben  sie  in  der 
Tliat  bei  der  Einzeichnung  der  Palmetten- 
fächer   an  Staubfäden    gedacht,    die    Furt- 

-  ■  Fig.  54. 

Wängler     darin     erblicken     Avill.       Es     würde      Getriebenes  GoWplättchen.  MykeniscU. 

sich    darin    eine    naturalisirende    Tendenz 

aussprechen,  die  das  seiner  formalen  Schönheit  (oder  symbolischen  Be- 
deutung?) halber  übernommene  Motiv  der  verständlichen  Wirklichkeit, 
der  realen  Pflanzennatur  anzunähern  bestrebt  gewesen  wäre.  Der  Nach- 
weis dafür,  dass  bei  der  Nachbildung  der  egyptischen  Volutenmotive 
eine  solche  Tendenz  vorhanden  gewesen  ist,  lässt  sich  in  der  That 
wenigstens  an  einem  Typus  führen,  dessen  Diskussion  seinerzeit  (S.  IIG) 
für  diese  Gelegenheit  vorbehalten  wurde. 

Es  ist  dies  das  Motiv  des  reinen  Dreiblattes,  woran  ZAvei  mehr  oder 
minder  volutenförmig  gestaltete  Blätter  als  Kelch  dienen,  aus  welchem 
sich  das  dritte  Blatt  als  krönende  Zwickelfüllung  erhebt.  Als  Beispiel 
diene  das  Goldblech  Fig.  54 -'5)  mit  aflfrontirteni  Pantherkatzen-Paar  über 


-'')  Schlieinann,   Mykenä  Fig.  266.     Weitere  Beispiele   ebendas.   Fig.    87, 
264,  265,  470. 

Riegl,  Stilfrageii.  «^ 


130 


B.    Das  Pfianzenovnament  m  der  üTiochisclien  Kunst. 


dem  Dreiblatt.  Die  einzelnen  Blätter  zeigen  eine  dentlielie  veg-etabilische 
Stilisii'tmg-  mit  Mittelrippe  und  divergirendeu  Seitenrippchen.  Diese 
Stilisirnng  ist  den  analogen  egyptisclicn  Lotns-Dreiblättern'-')  fremd. 
;Man  könnte  daher  versucht  sein  das  mykenische  Dreiblatt,  Avie  es  in 
Fig.  ä-l  entgegentritt,  für  eine  selbständige  mykenische  Erfindung  zu 
halten,  Avenn  sich  der  Zusammenhang  desselben  mit  egyptischen  Vor- 
bildern nicht  monumental  nachweisen  Hesse. 

Den  Ausgangspunkt   für   diesen  Nachweis   bildet   die   berühmte,  in 
Stein   skulpirte  Decke  von   Orchomenos    (Fig.  55  nach    Schliemann, 


1  ij,'.  öö. 
Skulpirtcs  Deckenornament  von  Orchomenos. 

Oroliomenos  Taf.  2).  AVer  den  entwicklungsgeschiclitliciicii  Faden  di-r 
Ornamentik,  soweit  Avir  iliii  bislicr  entrollt  haben,  sich  gegcnAvärtig  häh, 
dem  Avird  auf  den  r-rstcn  lilick  insl)esondere  die  daran  (Schliemann, 
el)endas.  Taf.  1)  durcligcführte  entschiedene  Selieidnng  ZAvisclien  Innen- 
feld und  Bordüi-f  auffallen.  Doch  müssen  \\ir  di<'  Enu-tcrung  dieses 
Punktes  vorläulig  verscliieben  und  A'or  Allem  jene  Umstände  in's  Auge 
f.L.^,.,,,   Avelc))«-    einen    unmittelbaren   Zusannuenhang    des  vorliegenden 


■'y    Z.    li.    l'i;r.    -10    in    Skuljitur.    mIht    aiicli     in    ilcr    minder    strengen 
Malerei. 


1.    Mvkenisches. 


131 


Deckenmusters  mit  egyptischen  Vorbildern  zu  beAveisen  geeignet  sind. 
Es  ist  dies  namentlich  die  Musterung  in  Spiralen,  deren  je  vier  immer 
an  einem  mittleren  Aug'e  zusammenlaufen.  Genau  dasselbe  Scliema 
tinden  "wir  Avieder  an  einer  gemalten  egyptischen  Deekendekoration 
(Fig.  56)^^).  Die  vier  sphärischen  Zwickel,  die  durch  je  vier  benach- 
barte Spiralen  gebildet  erscheinen,  sind  in  letzterem  Falle  mit  je  einem 
Zwickellotus  ausgefüllt,  so  dass  in  der  Mitte  noch  Raum  bleibt  für  eine 
Eosette.  Dagegen  ist  am  mykenischen  Beispiel  Fig.  55  immer  nur  einer 
von  je  vier  Zwickeln  ausgefüllt,  aber 
das  zur  Füllung  desselben  verwen- 
dete Motiv  ist  zweifellos  ebenfalls 
einem  gleiehgearteten  egyptischen 
Vorbilde  entlehnt.  Auch  das  myke- 
nische  Füllungsmotiv  zeigt  nämlich 
die  Grundform  eines  aus  drei  langen 
und  spitzen  Blättern  gebildeten  Blu- 
menprofils; die  dazwischen  eingezeich- 
neten Blätter  sind  in  Fig.  50  aller- 
dings von  spitzer  Form,  in  Fig.  55 
dagegen  abgerundet ,  welche  Ab- 
.  weichung  aber  keineswegs  als  eine 
wesentliche  gelten  darf,  da  auch  für 
diese  Art  der  Stilisirung  des  Zwickel- 
lotus ein  egyptisches  Vorbild  vorliegt, 
nämlich  die  Lotuspalmette,  die  in  der 
egyptischen  Kunst  zur  Zwickelfüllung 
in  spiralengemusterten  Bändern  unter- 
schiedslos neben  dem  spitzblättrigen 
Lotusprofil  verwendet  vorkommt.  Das 

Zerfallen  der  den  Fächer  an  Fig.  55  bildenden  abgerundeten  Blätter  in  je 
vier  Zonen  ist  nicht  minder  egyptisch  und  könnte  vielleicht  mit  der  techni- 
schen Herstellung"')  zusammenhängen.  Als  ein  wesentliches  Moment  muss 
aber  die  Schrafifirung  der  beiden  Kelchblätter  betont  werden,  die  sich 
den  Spiralen  sphärisch  anschmiegen.  Das  dritte,  füllende  Spitzblatt  ist 
nicht  quer  schraffirt,  sondern  der  Länge  nach  durch  Furchen  gegliedert. 


Fig.  56. 
Gemaltes  egyptisches  Deckenmuster. 


-*)  Prisse  d' Avenues,  Ornementation  des  plafonds,  postes  et  fleurs,  No.  3. 
-^)  Vielleicht  waren    die    durch   Stege   begrenzten  Zellen   dazu  bestimmt 
Emailpasten  aufzunehmen. 

9* 


132 


B.    Das  Pflanzenornament  in  der  ü'rieohischen  Kunst. 


"Wenn  man  von  der  Sehrartirnng  der  Kelelil)lätter  absieht,  su  trägt  das 
Ganze  einen  ziemlich  strengen  Charakter,  was  auch  in  dem  Umstände 
M-ohll)eg:ründet  ist,  dass  die  Kopie  des  zu  supponirenden  egyptischen 
Vorbildes  offenliar  in  recht  genatter  Weise  erfolgte. 

Die  konstatirte  Genauigkeit  der  Uebertragung  mochte  vielleicht 
damit  zusammenhängen,  dass  die  Decke  von  Orchomenos  in  Steinrelief 
ausgeführt  worden  ist.  Freiere  Bewegung  war  erst  dann  ermöglicht, 
Avenn  es  sich  um  Ausführung  in  einer  Ircieren  Technik  z.  B.  in  AVand- 
malerei  handelte.  Hiefür  haben  Avir  ein  Beispiel  aus  Tiryns  (Fig.  57) ^'>), 
das  uns  in  trefflicher  Weise  dazu  dienen  wird,  den  Process  der  weiteren 
Verarbeitung  des  Motivs  durch  die  mykenischen  Künstler  zu  verfolgen. 
Das   Grundschema    ist    hier    das  gleiche   wie    in    Orchomenos:   Spii-alen 


Fig.  57. 
Oriuimentalo  Wandmalerei  aii.s  Tirvns. 


mit  ZAvickellotus^');  dazu  im  Saum  Rosetten  und  zn  äusserst  die  zahn- 
sehnittartigen  Stäbchen,  elicnfalls  genau  ^\i<■  an  der  Decke  von  Orcho- 
menos. Uns  interessirt  hier  vornclinilicli  dn  Zw  iclccllutiis.  \'(in  den 
drei  spitzen  Blättern,  die  das  (;i'rii>iM'  dcssellx'n  bilden,  sind  hier  nielit 
bloss  die  beiden  seitlichen  durch  Scln-aftirung  gleichsam  als  geripin 
cliarakterisirt,  sondern  auch  das  tiillcnde  mittlere  Blatt:  also  ein 
zweifellos  naturalisirender  Zug,  den  wir  au  denselben  Typen  in  der 
egyptischcn  Kunst  nirgends  vorlinch'n.  Hinsieht licli  des  Palmettenfächers 
liat  es  sich  der  ]Maler  sehr  be(|uem  gemacht,  indeiu  er  nicht  die  ein- 
zelnen   radiantr-n    Blätter,    sondern    die    dei'    I'.reiie  nach    .ingi-ordneten 


■'•")  Scliliciiianii,  Tirvns  Tal'.  V. 

';  Da  es  sich  hier  um  eine  schmale  Bordüre  handelt,  setzen  an  jeih  iii 
Auge  nui-  je  zwei  Spiralen  al»,  was  natürlich  ilic  blentität  beider  Cluster  niclit 
altcrirt. 


1.    Mykenisclies.  I33 

Zonen  von  Fig.  55  mit  Strichen  angegeben  hat.  Dagegen  ist  der  ZAvickel- 
lotus  in  Fig.  57  gegenüber  Fig.  55  nni  den  dreiblättrigen  Ansatzkelch 
im  innersten  Spiralenwinkel  vermehrt,  Avas  nach  früheren  Auseinander- 
setzungen (S.  65)  wiederum  einem  echt  egyptischen  Postulat  entsi>richt. 

Die  gefiederten  Lotusprofll-Blätter  in  Fig.  57  nun,  die  einerseits 
mit  denjenigen  von  Fig.  55  auf's  Engste  zusammenhängen,  dürfen 
anderseits  wohl  als  die  nächsten  Verwandten  jener  gefiederten  Drei- 
blätter angesehen  Averden,  die  uns  an  Fig.  54  begegnet  sind.  Der 
naturalisirende  Zug,  der  sich  an  den  Goldblättchen  gleich  Fig.  54  aus- 
spricht, tritt  auch  an  der  Wandmalerei  Fig.  57  zu  Tage,  deren  egyp- 
tisches  Vorbild  ausser  ZAveifel  stünde,  auch  wenn  uns  die  Decke  von 
Orchomenos  nicht  zu  Hilfe  käme  Diese  letztere  (Fig.  55)  zeigt  uns 
das  egyptische  Vorbild  verhältnissmässig  am  reinsten  kopirt;  aber  selbst 
hier  konnten  Avir  an  "der  Schraffirung  der  seitlichen  zAvei  Spitzblätter 
eines  jeden  ZAvickellotus  die  beginnende  Neigung  zur  naturalistiscüen 
Charakterisirung-  beobachten.  Auch  diese  Neigung  ist  eine  echt 
griechische,  die  durch  Dipylon  und  orientalisirende  Stile  lediglich  A^er- 
dunkelt  wurde,  und  zwar  so  nachhaltig  A^erdunkelt,  dass  sie  erst  in  der 
perikleischen  Zeit,  die  auch  schon  in  so  vielen  anderen  Beziehungen 
die  unmittelbare  Vorläuferin  der  hellenistischen  gCAvesen  ist,  Aviederum 
zu  mächtiger  und  gestaltender  Geltung  gelangte.  Zum  BcAveise  dessen 
nenne  ich,  der  Aveiteren  Schilderung  der  EntAvicklung  A^orgreifend,  die 
gesprengte  Palmette  und  den  Akanthus. 

Also  nicht  so  sehr  die  pflanzlichen  Motive  selbst,  sondern 
ihre  Behandlung  ist  es,  Avodureh  sich  ein  selbständiges  Kunst- 
schaffen an  den  Ueberresten  der  mykenischen  Kultur  kund- 
giebt.  Gerade  die  in  dieser  Kunst  gebräuchlichsten  Blüthenmotive 
Hessen  sich  auf  dem  Wege  der  Vergleichung  auf  die  alten  egyptischen 
Typen  mit  Volutenkelch  zurückführen.  Wasserpflanzen  darin  zu  er- 
blicken, Avie  bisher  vielfach  angenommen  Avurde,  halte  ich  nicht  für 
gerechtfertigt.  Man  hat  dabei  augenscheinlich  die  schmalen  Scliilf- 
blätter  im  Auge  gehabt,  Avie  sie  z.  B.  an  Fig.  49  vom  undulircnden 
Hauptstamme  abzweigen.  Solche  schilfartige  Blätter  finden  sich  aber 
auch  an  egyptischen  Vorbildern,  z.  B.  an  Fig.  40  in  der  Bekrönung 
alternirend  mit  Lotus.  Der  Unterschied  zAvischen  diesem  egyptischen 
und  jenem  mykenischen  Beispiel  beschränkt  sich  im  Wesentlichen  bloss 
darauf,  dass  die  Schilfblätter  dort  gerade  und  sell)ständig  emporsteigen, 
hier  dagegen  von  einem  gemeinsamen  Stamme  abzAveigen:  es  ist  also 
wiederum  eine  verschiedene  Behandlung  der  gleichen  Grundmotive,  die 


134  ß-    Das  Pflanzeuornament  in  der  griechischeu  Kunst. 

—  Avie    wir   gesehen    liabeii  —   das  Verbältiiiss    der   mykenisclien    zur 
egyptischeu  Pflauzeuoruamentik  überhaupt  kenuzeichnet. 

Zweifellos  enthält  aber  die  mykenische  Ornamentik  auch 
eine  Reihe  von  Motiven,  deren  Ursprung  wir  aus  der  egyp- 
tisehen  Kunst  'abzuleiten  nicht  im  Stande  sind,  und  die  wir 
daher,  vorläulig  Avenigstens,  als  Originalschöpfungen  dieser  Kunst  an- 
sehen müssen.  Vor  Allem  sind  dies  3IotiA-e  animalischer  Natur,  was  ja 
um  so  begreiflicher  erscheinen  Avird,  Avenn  AAir  uns  erinnern,  dass  der 
Mensch  allenthalben  2-)  am  frühesten  die  LebeAA^esen  aus  seiner  Um- 
gebung, sei  es  plastisch,  sei  es  zeichnerisch,  auf  einer  Fläche  naclizu- 
bilden  A-ersucht  hat.  Den  küsten-  und  inselbeAvohnenden  „Mykenäern" 
Avii'd  der  essbare.  Aielleicht  einen  Hauptbestandtheil  ihrer  Nahrung  ge- 
bildet habende  Tintenfisch  oder  der  Polyp ^^)  näher  gestanden  sein  als 
etwa  der  Ibis  oder  die  Brillenschlange.  Der  Tintenfisch  ist  denn  auch 
dasjenige  —  und  ZAvar  das  einzige  —  ^Motiv,  dessen  Originalität  Good- 
year (S.  311)  den  Trägern  der  mykenisclien  Kunst  zugesteht;  er  A'cr- 
Aveist  hiebei  auch  recht  überzeugend  auf  die  Bedeutung,  die  dieses  See- 
tliier  noch  heute  für  die  BcA^ölkerung  der  LeA^ante  besitzt.  Selbständige 
Entstehung  mag  man  ferner  den  Schmetterlingen^^)  einräumen,  deren 
Stilisirung  (Kopf  und  Fühler)  sich  als  ein  gemeinsames  Produkt  egyp- 
tischer  und  nnkciiisclier  "Weise  darstellt.  Aber  aucii  ein  anscheinend 
A^egetabilisches  Motiv  finden  Avir  in  der  my kenischen  Kunst  (Fig.  58) 3^), 
Avofür  es  AA'ohl  recht  sclnver  fallen  dürfte  ein  egyptisches  Vorbild  bei- 
zubringen, dem  A'ielmehr  ein  naturalistischer  Ckarakter  innezuAvohnen 
scheint.  Die  Projektion  stellt  sich  dar  in  ]iall)er  Volhnisidit.  liat  aber 
mit  der  egyptischeu  Palmette  augensclieiiiiicli  niclits  zu  thun.  In  der 
Akanthus-Palmette  AA'erden  Avir  eine  A^erwandte  Bildung  kennen  lernen; 
lür  <\\i-  Hi'i->ii'llung  eines  beiderseitigen  Zusamiuciili.ings  felden  aber 
alle  Zwisclienglieder.  Es  gcAvinnt  somit  den  Anschein,  dass  dieses 
pflanzliche  Motiv,  ebenso  Avie  der  Tintenfisch  und  der  Schmetterling,  im 


'*)  Wie  die  Trog-lod_\  ten  in  der  Dordogne,  vgl.  8.  21. 

2^)  Der  Polyp  auf  assyrischen  Reliefs  (Layard,  Monuments  I.  71)  hat 
gewiss  auch  selljständige  gegenständliche  Bedeutung  und  Aveder  mit  dem 
mykenisclien  ]^olyj)en  nocli  mit  etwaigen  egvj)tisclien  Vorbildern  icnnstgescliiclit- 
lich  irgend  etwas  zu  tliun. 

"*)  Schliemann,  Mykenä  Fig.  '243:  von  Insekten  haben  die  Egypter  die 
Heuschrecke  zur  Darstellung  gebracht:  Prisse  d'A.,  Ornementation  des  plafonds 
bucräncs  unten. 

^^1  Goldhiältchen  Ix-i  Schliemann,  iMykcnii  Fig.  241),  dann  Fig.  247, 
248,  250. 


1.    Mykenisches.  135 

weiteren  Verlaufe  der  Kmistentwicklung-  auf  gTiechischeiu  Boden  ver- 
schwunden und  den  strenger  orientalisirenden  Motiven  Platz  ge- 
macht hat. 

Die  Bedeutung-,  welche  der  Spirale  in  der  egyptischen  Kunst  für 
die  Fortbildung-  der  Pflanzen  Ornamentik  eingeräumt  werden  musste, 
zwingt  uns,  auch  auf  ihre  Stellung  in  der  my kenischen  Kunst  näher 
einzugehen,  trotzdem  dieses  Motiv  von  Haus  aus   ein  geometrisches  ist 


Fit'.  ä8. 
Gestanztes  Ooldplättchen.     Mykenisch. 

und  daher    um    seiner    selbst  willen    in    einer  Untersuchung  über  das 
Pflanzenornament  keinen  Raum  beanspruchen  könnte. 

Eines  der  einfachsten  Spiralenmuster  in  Bordürenform  bietet  die 
Wand  eines  hölzernen  Kästchens  (Fig.  59) ^'^).  Die  fortlaufende  Spirale 
windet  sich  hier  um  ein  mittleres  Aug-e,  ähnlicli  wie  das  egyptische 
Beispiel,  Fig-.  20,  wo  das  Auge  mittels  einer  Rosette  verziert  erscheint. 
Das  Grundelement  ist  Ijeiderseits  ein  geometrisches,  bandartiges:  in 
Fig.  25  ist  es  gemalt,  in  Fig.  59  im  Holze  vertieft  zu  denken.  Soweit  wäre 
die  Uebereinstimmung  in  allem  Wesentlichen  aufrecht;  einen  bemerkens- 
werthen  Unterschied  ergiebt  erst  die  Betrachtung  der  Zwickelfülltmg. 


36)  Schliemanii,  Mykenä  Fig.  222. 


X36  ß-    I)as  Pflanzenornament  in  der  g-riechisclien  Kunst. 

An  dem  mykenisclu-n  Kästchen  ist  diese  FüUiuig-  vielleicht  eine  völliii- 
znlallige,  gar  nicht  beabsichtigte,  denn  das  sphärische  Dreieck  ist  bloss 
durch  die  Furchen  hervorgebracht,  "welche  dazu  nöthig  Avaren.  um 
einerseits  die  Spirahvindungen.  anderseits  (b^i  Aussensaum  der  Käst- 
chenwand zu  begrenzen.  Man  könnte  in  diesem  Falle  in  der  That 
sagen,  dass  das  Zwickeldreieck  durch  die  „Technik"  bedingt  sei:  gewiss 
eine  der  allerprimitivsten  ZAvickelfüllungen  ^').  Wir  begegnen  derselben 
bezeichnendermaassen  auch  bei  den  neuseeländischen  Maori:  vgl.  Fig.  28 
an  der  äussersten  Windung  reclits  ol)en  die  Dreiecke,  die  auch  nichts 
anderes  sind  als  Zwickeltullungen  der  Spiralen.  Dagegen  zeigt  die 
egyptische  "Wandmalerei,   Fig.  25,   den   ausgeBprochenen  Lotuskelch  in 


ii«.  59. 
Geschnitzte  Wand  von  einem  nolzküstchcn.    Mykeniscli. 

Profil  zur  Zwickelfüllung  verwendet,  ^lan  ist  sich  bereits  einer  künst- 
lerischen Nothwendigkeit  l)ewusst  geworden,  das  neutrale  Zwickelfeld 
mit  einem  urnamentalen  ]\[otiv  auszufüllen. 

Die  mykenisclie  Spiralornamentik  ist  auch  über  blosse  bordü- 
renartige Streifenverzierungen  li  in  ausgegangen.  Zwei  nelii'n 
einander  herlaufende  Spiralen,  die  in  ihrem  Con-  und  Divergireu  eine 
fortlaufende  Keihe  herzförmiger  Configurationen  Inlden,  zeigt  die  Vase 
bei  Furtwängler  u.  Löschcke,  ISIyken.  Thongei".  I,  'iline  jede  Zwickel- 
füllung. Das  gleiche  Motiv,  aljer  bereits  mit  Zw  iekelfüllung  nach  cgyj)- 
tischer  Art,    unter    geometrischer  Selieiuatisirung    der   Zwiekelpalniette 

■'■'}  Die  in  der  niykenisclicn  Kunst  iifter  wiotlerkclirt:  in  Stein  Tiryns 
Taf.  IV,  aber  aucli  in  Wandmalerei  ebenda  Taf.  Xa,  auf  Vasen  Mykcn.  Tlion- 
gefässe  I\'.  1  l.  an  einem  Goldknopf  bei  Schliemann,  Mykcnä  Fig.  422. 


1.    Mvkenisclies. 


137 


finden  wir  auf  der  Vase  Ix-i  Furtwäng-lcr  u.  Löschcke,  Myken.  Vasen 
XII.  58.  Legte  man  noch  mehrere  solcher  Spiralen  nebeneinander,  so 
konnte  man  ganze  Flächen  damit  überkleiden,  wie  dies  an  der  goldenen 
Brustplatte,  Fig.  60^-^),  der  Fall  ist.  Das  gleiche  Schema  haben  wir  in 
der  egyptischen  Ornamentik  durch  Fig.  26  kennen  gelernt.  Der  l)eider- 
seitige  Unterschied  beruht  auch  hier  in  der  Zwickelfüllung.  Die  my- 
kenische  Brustplatte  weist  diesbezüglich  ovale  Jlotive  auf,  die  sich  mit 
den  tropfenförmigen  Zwickelfüllungen  der  egyptischen  Kunst  (Fig.  20^ 


Fig.  60. 
Goldene  Brnstplatte  mit  getriebenen  Verzierungen.     ^Mykeniscli. 


in  Verbindung  bringen  lassen.    Die  egyptische  Wandmalerei  verwendet 
dagegen  wiederum  die  typischen  Zwickellotusblüthen. 

Stellt  sich  nach  dem  bisher  Gesagten  die  mit  dem  Zwickellotus 
ausgestattete  Spirale  als  die  specifisch  egyptische  Form  derselben  her- 
aus, so  ist  doch  daran  zu  erinnern,  dass  auch  diese  in  der  mykenischen 
Kunst  nachgewiesen  ist,  wofür  einfach  bloss  auf  Fig.  55  und  57  ver- 
Aviesen  zu  werden  brauclit.  Die  Uebereinstimmung  dieser  beiden  Muster 
mit  dem  egyptischen,  Fig.  50,  ist  eine  so  weitgehende,  dass  wir  trotz 
einzelner  Abweichungen  im  Detail  an  dem  Zusammenhange  zwischen 
beiden   nicht  länger  zweifeln  zu  dürfen  glaubten.     Eine  ganz  ähnliche 


^^)  Nach  Schliemann,  ^lykenä  Fig.  458. 


]^38  B-    I^'is  Pflaiizouornament  in  der  üTiechischen  Kunst. 

Verwendung  der  Spirale  finden  ^\  ir  lerner  avif  der  steinernen  Grabstele 
bei  Schliemann  Mykenä,  Fig.  1-40,  in  diesem  Falle  aber  bezeiclmender- 
maassen  ohne  Z-wickelfüllung.  Es  ergiebt  sich  daraus  der  Schluss,  dass 
die  ..Mykenäer"  das  Postulat  der  Zwickelfüllung  nicht  als  ein  absolutes 
angesehen  haben.  Das  Gleiche  bestätigt  der  Kückverweis  auf  Fig.  59 
und  die  hiezu  citirten  verwandten  Beispiele. 

Ist  es  nach  all  dem  Gesagten  nothwendig  anzunehmen,  dass  die 
Mykenäer  das  Ornamentmotiv  der  Spirale  von  den  Egyptern  über- 
nommen haben?  Die  Nachahmung  egyptischer  Spiralmuster  ist  zwar 
durch  die  Decke  von  Orchomenos  über  jeden  Zweifel  hinaus  erwiesen: 
genügt  dies  aber,  um  das  Aufkommen  des  Motivs  selbst  in  der  my- 
kenischen  Kunst  auf  Anlernung  aus  egyptischen  Vorbildern  zurückzu- 
führen? Es  ist  überaus  schwierig,  eine  entscheidende  Antwort  attf  diese 
Frage  zu  geben.  Ich  muss  mich  daher  darauf  beschränken,  meine 
Bedenken  dagegen  zu  äussern,  dass  man  heute  schon,  auf  Grund  der 
blossen  Vergleichung  der  vorliegenden  beiderseitigen  Denkmäler,  eine 
vollständige  Abhängigkeit  der  mykenischen  von  der  egyptischen  Spiral- 
ornamentik behauptet,  wie  sie  z.  B.  Goodyear  über  alle  Zweifel  erhaben 
ansieht. 

Ich  denke  dal>fi  keineswegs  an  die  vielfach  beliebte  Altlcituni^- 
der  Spirale  aus  inatcricll-technischen  Nothwendigkeiten ,  am  wenigsten 
an  die  Drahtspirale,  die  zu  diesem  Behufe  am  häufigsten  herangezogen 
wird.  AVeit  eher  könnte  man  diesbezüglich  an  die  textile  Schnur 
denken,  die  auf  einen  Untergrund  aufgelegt  und  mit  Ueberfangstichen 
befestigt  erscheint.  Die  fortlaufende  Schnur  füiu't  in  solchem  Falle 
sehr  natürlich  zu  spiraligen  Einrollungen,  aus  denen  sie  den  Ausgang 
selber  finden  muss.  Diese  spiraligen  Sclmürchenstickereien  bilden  nocli 
heute  die  Hauptverzierung  der  Tiacht  der  r.alkanbeAvohner  und  weiter 
in  Kleinasien  und  Syrien,  «1.  h.  in  solchen  liändern,  die  sännntlich 
wenigstens  in  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  Jahrtausend  v.  Chr.  dem 
Hellenismus  auheimgefallen  waren.  AVir  werden  siiäter  sogar  Beispiele 
kennen  jcrni'ii  n-'ig.  87),  dass  speciliscli  alti^riechische  Ornanientmolive 
niitti'is  der  Scliniirciienstickerei  liis  auf  den  iieutigen  'l'ag  auf  der 
Balkanhalltinsel  dargestellt  wenleu.  Dies  .Alles  Ix-i-echtigt  uns  noch 
keineswegs,  den  Ursjiruu;:-  der  Spir.ile  auf  die  Technik  der  Schnürchen- 
stickerei zurückzuführen.  Die  Si-hnürchenstickerei  mochte  sich  des 
Motivs  der  Spirale  als  des  ihr  zusagendsten  gern  ])emächtigt  haben: 
die  fTste  Schaffung  desselben  kann  trotzdem  auf  das  freie  menschliche 
Kunstwollen    zurückgehen.      Dasjenige,    was    mich    vor    Allem    /("igern 


1.   Mvkenisches. 


139 


lässt,  die  my kenische  Spirale  auf  ausschliesslichen  Anstoss  von  eg'vp- 
tischer  Seite  zurückzuführen,  ist  vielmehr  der  Umstand,  dass  die  my- 
kenische  Kunst  eine  mit  der  Spirale  sehr  verwandte  Orna- 
mentik g-ebraucht  hat,  welche  in  der  eg'yptischen,  soviel  wir 
sehen,  nicht  in  Verwendung'  stand. 

Das  Element  der  Spiralornamentik  in  der  mykenischen  wie  auch 
in  der  egyptischen  Kunst  ist  das  Band^^).  In  der  mykenischen  Kunst 
kommt  aber  das  Band  nicht  bloss  in  Spiralwindungen,  sondern  auch  zu 


Fig.  61. 
Goldblättchen  mit  getriebenen  Verzierungen.     Mykeniscli. 


anderen  Conhgurationen  ang-eordnet  vor.    Namentlich  getriebene  Gold- 
plättchen  (Fig.  61)  ■*'^')    zeigen  diese  Bandornamentik.    Als  charakteristisch 


^3)  Bei  der  herrschenden  Neig-ung-  überall  hinter  den  primitiven  Ver- 
zierung-sformen  die  Einwirkungen  der  Textilkunst  zu  vermuthen,  halte  ich  es 
für  nöthig-  ausdrücklicli  zu  betonen,  dass  mit  der  oben  g-ebrauchten  Bezeich- 
nung- „Band"  durchaus  keine  Bezugnahme  auf  die  Vorbildlichkeit  eines  textilen 
Bandes  verknüpft  zu  denken  ist.  Das  „Band"  ist  in  diesem  Fall  nur  eine  be- 
sonders körperlich  zur  Darstellung-  gebrachte  Linie.  Bandornamentik  in 
diesem  Sinne  treffen  wir  bei  Völkern  (Älaori),  die  niemals  ein  textiles  Band 
gekannt  haben. 

■"')  Schliemann,  Mykenä  Fig.  245. 


140 


B.    Das  PHanzenovnament  iu  der  a'i'icchischen  Kunst. 


ist  hiebei  luTvorzuhelieii .  d;iss  die  AViiulinig'en  der  Bänder  immer  klar 
nebeneinander  ji'eleo-t  sind  im  Gefi'ensatze  zu  den  ,.Bandverscldini;'nni;'en'' 
der    ..nordiscli-IViiliiiiittilalterlielien"    Knnst.      Sollte    nicht    auch    diese 

Ixcii'elmässig'keit,  so  wie  der  rlnthmisch 
uiidulirende  Verlauf  der  mykenischen 
IJandornamente  auf  Kechnung'  des  in 
der  mykenischen  Kunst  latenten  klassi- 
schen Kunstgeistes  zu  setzen  sein")'? 

An  Fig\  Gl  ist  ferner  der  Umstand 
zu  beachten,  dass  die  einzelnen  J5aud- 
windungen  um  Aiujev  lierumgclegt  sind. 
Aehnliches  haben  ^\\\•  allerdings  auch 
in    der    Spiralornamentik    der   Egypter 

i:"'4v  ;  (S.  72)  wahrnehmen  können.  "Wenn  nun 
fvV' !  die  Mykenäer  ihre  Spiralen  um  Augen 
laufen  Hessen  (Fig.  59),  so  läge  es  zwar 
am  näclisten,  diesen  Umstand  ebenso 
wie  das  ^lotiv  der  Spirale  selbst  aut 
Kechuung  egyptischen  Einflusses  zu 
setzen.  Hing-egen  kennen  Avir  um  Augen 
g'erollte  Bänder  aus  der  egvinischen 
P'^'^'^'  ''^it^^'^%  ,  r*|^//'!  Kunst  nielit.  Könnte  da  das  Auge  an 
r-5',r  /•  v;:.\"  ^     ■  ?:      •  i   •'"   ;      Beispielen    wie    Fig.    (jl     nicht    ebenso 

seil)st;üulig  zur  AuAvendung  und  Gel- 
tung im  Künstlerisehen  gelangt  sein, 
wie  etwa  die  sphäriselien  Zwickeldrei- 
•  ■ekc   in   Fig.  ;")'.>?*-'). 

\'ou  mykenischen  Baudmtistern 
möge   noch   dasjenige  von  einer  steiner- 


.* 
» 


Fig.  C2. 

.Skulpirtes  liandornaiTient  von  einem 

Grabstein. 


■")  Das  spätere  griccliischc  baliyiiiith  liilild  liicNoii  nur  eine  sclirinlinre 
Ausnahme,  da  in  diesem  Falle  das  Iläthseliial'te  bt-absiclitigt  war;  um  so  l)e- 
zeichnender  ist  hiebei  der  Umstand,  dass  das  g-rieehisclie  Labyrinth  die  Ver- 
schling'ung'en  verschmäht,  wogegen  die  „nordischen"  Fabyrintiie  iiucn  w  ii  ren 
Charakter  hauptsächlieli  dem  vielfaclicn  Sielikren/rn  nnd  riitiTcinanderN cr- 
schwinden  der  Bänder  verdanken. 

*■)  In  diesem  Liclite  l)etrachtet  köinite  aucli  das  nieso]iotamisehe  Fieelit- 
band  (Fig.  28,  S.  88),  das  sich  gleichfalls  um  ein  Auge  rollt,  sowohl  von 
egyf)tischen  als  von  mykenisci)en  Bildung'(!n  unabhängig  sein.  NCiw  andtc 
aber  keineswegs  gleichartige  Beispieh»,  aus  mykenischem  Bereich  sind  l)ei 
Schliemann,  Mykenä  Fig.  'W.),  Myken.  Vasen  XXXIV.  338. 


1.   Mvkeiiisches. 


141 


nen  Grabstele  (Fig.  G2)  *2)  ErAvälmung  finden.  Das  reciproke  Muster, 
zu  welchem  liier  das  Band  znsammeng-eleg't  erscheint,  ist  ein  höchst 
einfaches;  und  doch  welcher  künstlerische  Abstand  von  den  geAvöhn- 
lichen  starren  Zickzacksäumen  der  eg-yptischen  Füllungen!  Ja,  selbst 
das  wellenförmige  Band,  also  die  allereinfachste  Bandconfiguration, 
findet  sich  auf  mykenischen  Vasen,  z.  ß.  Myk.  Thongef.  X.  46,  nicht 
aber  seine  Transponirung  iu"s  Eckige,  d.  i.  das  Zickzack.  Daher  weist 
der  ganze  bisher  zu  Tage  geförderte  Denkmälerschatz  aus  dem  Bereiche 


l'it,.  (_;.5, 
Becher  aus  vergoldetem  .Silber.     JIvkenisch. 


der  mykenischen  Kunst  kein  Beispiel  eines  eckigen  Mäanders  auf,  wohl 
aber  den  laufenden  Hund,  d.  i.  die  abgerundete  Form  des  Mäanders 
(Fig.  63)**);  der  laufende  Hund  in  der  Mitte  dieses  Bechers  ist  in  solchem 
Sinne  betrachtet  ein  reciprokes  Bandornament  wie  dasjenige  in  Fig.  62 
und  bedarf  zu  seiner  Al)leitung  nicht  erst  der  Dazwischenkunft  der 
egyptischen  Spirale*^). 


*^)  Schliemann,  Mykenä  Fig.  14-2. 

•'■')  Vergoldeter  Becher  bei  Schliemann,  ^Mykenä  Fig.  348. 

*'")  Auch  die  S-förmigen  Windungen,  die  in  der  Mitte  von  Fig.  Gl  den 
Kreis  ausfüllen,  sowie  die  Triquetren  (z.  B.  Mykenä  Fig.  138,  139)  u.  dgl.  sind 
aus  der  Bandornamentik  abzuleiten.  —  Für  eine  Verwendung  der  Spirale  zur 


242  B-    I^'^^  Pfianzeuornament  in  der  gTiechischen  Kiuist. 

Ich  glaube  also  in  der  Spirale  nur  eine  besondere  Art  der  Band- 
ornamentik erblicken  zu  sollen.  Das  Bandornament  ist  aber  ein  aus 
der  gekrümmten  Linie  heraus  konstruirtes  geometrisches  Ornament, 
das  eine  höhere,  vielleicht  die  höchste  Stufe  des  geometrischen  Stils 
darstellt,  und  liereits  eine  besondere  Kunstbegabung  zur  Voraussetzung 
zu  haben  scheint.  Von  Naturvölkern,  welche  die  Spiral-  und  Band- 
omamentik  bis  auf  die  neuere  Zeit  gepflogen  haben,  sind  die  neusee- 
ländischen Maori  besonders  hervorzuheben.  Die  Bedeutung,  die  der 
Kunst  dieses  Volkes  für  die  EntAvicklungsgeschichte  der  Künste  in  ihren 
primitiven  Stadien  zuzuschreiben  wäre,  falls  dasselbe  in  der  That  — 
wofür  aller  Anschein  spricht  —  seit  unvordenklichen  Zeiten  isolirt  und 
auf  sich  selbst  gestellt  geblieben  ist,  wurde  schon  auf  S.  75  erörtert. 
Goodyear'*^)  ZAvar  hält  malayischen  Einfluss  auf  Neuseeland  für  wohl- 
Itezeugt,  ohne  sich  aber  darüber  des  Näheren  zu  verbreiten  oder  auch 
nur,  was  er  doch  sonst  in  ähnlichen  Fällen  thut,  zu  citiren.  Die  Spirale 
spielt  in  der  Ornamentik  der  Maori  eine  so  überwiegende  Rolle,  dass 
der  malayische  Einfluss  —  sollte  die  Spirale  in  der  That  seinem  Ein- 
flüsse zuzuschreiben  sein  —  ein  sehr  tiefgreifender  gewesen  sein  müsste. 
Wie  lässt  sich  nun  damit  der  Umstand  zusammenreimen,  dass  auf  Neu- 
seeland kein  ]\Ietallgegenstand  gefunden  wurde?  Die  Abgeschnittenheit 
vom  Verkehr  mit  der  südasiatischen  Inselwelt  muss  hienach  schon  minde- 
.stens  viele  Jahrhunderte,  wo  nicht  .Jahrtausende  lang  gewälu-t  liaben. 
Und  wie  kamen  dieMalayen  zur  egyptischen  Spiralornamentik  ?  Goodyear 
nimmt  zu  diesem  Behufe  einen  malayischen  Zwischenhandel  zAvischen 
Egypten  und  Indien  an,  wofür  jedoch  keinerlei  BcAveise  vorliegen. 
Haben  aber  die  ^faori  in  der  That,  wie  es  nach  ihrer  ..Steinkultur- 
zu  schliessen  allen  Anschein  liat,  die  Spiralornamentik  selbständig  ent- 
Avickelt,  etwa  in  der  Weise,  dass  sie  kraft  ihrer  Kunstbegabung  auf 
der  Stufenleiter  der  Kunstentwicklung  zur  höchsten  Ausbildung  des 
geometrischen  Stils,  zur  dekorativen  Verwendung  der  Kreislinie  gelangt 
sind*^),   so  ist  auch    die  ]\rögliclikeit   vorhanden,   dass   die  ,31ykenäer" 

Flächenfüllung',  wie  sie  uns  z.  B.  auf  dein  Goldblatt  l»ei  Schliemaiiii,  Mykonä 
Fig.  24(j  entgegentritt,  imd  die  mit  der  Randnniainentik  von  Fig.  244,  240 
ebendaselbst  völlig  parallel  läuft,  hat  die  cgyptische  Kunst  gleichfalls  kein 
Beispiel.  Mit  dieser  Art  der  Spiralenornanientik  möchte  ich  die  charakteristisciien 
Verzierungen  der  Vasen  des  Fm-twängler-Löschckc'schen  vierten  Stils  (Myken. 
Vasen  XXXVI.  370,  371)  in  Verbindung  bringen. 

*'■)  A.  a.  0.  S.  373. 

")  Aber  darüber  hinaus  ebensowenig  wie  die  Inkaperuaner,  von  denen 
wir   auch   nur  eine,  geometrische  und   eine  animalische  Ornamentik   kennen. 


1.    Mvkenisches. 


143 


schon  vor  der  Berührung'  mit  der  altegyptisehen  Kulturwelt  dieselbe 
Ornamentik  gebraucht  und  fortgebildet  haben ,  und  nach  erfolgter  Be- 
rührung von  den  verwandten  egyptischen  Bildungen  Anregung  und 
Befruchtung  empfangen,  anderseits  aber  auch  eine  ihrem  individuellen 
Kunstgeiste  entsprechende  Fortbildung  daran  geknüpft  haben.  Ent- 
schieden abzuweisen  wäre  nur  die  Hypothese,  dass  die  Egypter  das 
Spiralenmotiv  aus  der  mykenischen  Kunst  entlehnt  hätten.  Die  Egypter 
Avaren  zweifellos  in  „mykenischer"  Zeit  das  höher  stehende  Kulturvolk 
und  es  existirt  kein  Beispiel  in  der  Geschichte,  dass  ein  solches  Volk 
von  einem  niedriger  stehenden  jemals  eine  so  maassgebende  Anleihe 
gemacht  hätte. 


Fig.  64. 
Getriebenes  Ooldplättchen.     :My kenisch. 


Fig.  C.-.. 
Getriebenes  Goldplättchen.     Mykenisch. 


Im  Anschlüsse  an  die  Erörterung  der  Parallele  mit  der  neusee- 
ländischen Spiralornamentik ^^)  soll  noch  eine  besondere  Art  der 
Verwendung  des  Spiralmotivs  in  der  mykenischen  Kunst 
zur  Sprache  gebracht  Averden,  die  gleichfalls  ihre  Parallelen  in  der 
neuseeländischen  Kunst  hat,  aber  anderseits  auch  mit  der  späteren 
griechischen  Eankenornamentik  bemerkenswerthe  Analogien  aufweist. 
Man   sehe    das    Ornament    des    Goldblattes  Fig.  G4*'^).     Die    Mitte    der 


vielleicht  eben  aus  dem  Grunde  weil  ihnen  eine  Pflanzenornamentik  nicht  im 
entscheidenden  Momente  von  Aussen  her  zugemittelt  worden  ist. 

^^)  Die  Musterung-  von  Bandstreifen  mit  isolirten  Spiralen,  z.  B.  in  der 
Art,  wie  wir  es  an  der  neuseeländischen  Fruchtschale  Fig.  29  gesehen  haben, 
findet  sich  in  übereinstimmender  Weise  auch  an  einer  Wandmalerei  zu  Tiryns, 
Schliemann,  Taf.  VIe. 

")  Schliemann,  Mykenä  Fig-.  305,  S.  230. 


144  B-    Das  Pflanzenornament  in  der  griechischen  Knnst. 

gTösseren  unteren  Hälfte  nininit  ehu-  Configuration  ein,  die  aus  zwei 
zusammentretenden  Doppelspiralen  gebildet  ist;  nach  unten  reihen  sich 
an  jede  der  beiden  Spiralen  koncentrisch  gezeichnete,  immer  kleiner 
werdende  Schraflirungen  an.  Wenn  man  die  beiderseitigen  Schrafti- 
rungen  zusammen  als  ein  Ganzes  betraclitet,  so  gt'ben  sie  mit  ihrem 
Fächer  eine  Art  Palmette,  deren  Kelch  die  beiden  darüber  zusammen- 
tretenden Voluten  bilden.  Das  solchermaassen  zu  Stande  gekommene 
palmettenartige  Motiv  ist  aber  keineswegs  das  Ursprüngliche:  die 
Schraffirungen  kehren  nämlich  auf  mykenischen  Goldsachen  häutig 
Avieder,  dienen  aber  immer  als  eine  Art  Zwickelfüllung  für  bloss  ein- 
fache Spiralen,  so  dass  sie  sozusagen  Halbpalmetten  bilden.  ]\Ian  vgl. 
z.  B.  Fig.  65'''^').  W'wv  zweigen  von  einer  grossen  Doiipelspiralr  kleinere 
Spiralen  ab;  wo  diese  letzteren  mit  den  ümgrenzungslinien,  sei  es  der 
grösseren  Spirale,  sei  es  der  Peripherie  des  ganzen  Plättchens,  ZAvickel 
l)ilden,  sind  diese  letzteren  koncentrisch  zur  AViiidniig  der  betreffenden 
Spirale  mit  parallelen,  sich  verjüngenden  Schratten  ausgefüllt. 

Dasselbe  System  zeigen  nun  einmal  neuseeländische  Si)iral- 
z Wickel:  so  einige  unten  an  der  äusscrsten  Windung  in  Fig.  28,  ferner 
besonders  charakteristisch  an  den  Nasen  der  ]\ö])fe  Fig.  81  und  32,  wo 
je  zwei  solcher  Spiralen  fächerartig  genau  zu  der  gleichen  Palmette 
zusammen  treten,  wie  wir  es  an  Fig.  tlJ:  gesehen  haben.  Zur  Erklä- 
rung dieses  Alotivs  bei  den  ]\laori  vermag  ich  nie-hts  Anderes  anzu- 
zuführen, als  das  Postulat  der  Zwickelfüllung;  dies  scheint  wenigstens 
aus  Fig.  28  hcrvorzugelien,  wo  die  gebrochenen  (nicht  im  Halbkreis 
gekrümmten)  Schratten  mit  Dreiecken  (vgl.  Fig.  59)  abwecliseln. 

Ferner  lässt  sich  für  diese  lOrscheinung  aber  aueli  eine  ln"ielist  lie- 
merkenswerthe  Analogie  mit  der  s p ä l  e  r e  n  g r i  e c h  i  s c  Ii e n  K a n  k e n  o r n  a - 
mentik  (siehe  Fig.125,127)  verzeicJnien.  Auch  an  den  späteren  Palnietten- 
ranken,  wie  sie  sich  namentlich  unter  den  Vasenheul^ein  anfgeniall  Umlen, 
überziehen  die  freien  Rankenlinien  synnnetriseli  die  Fläclx'  und  rollen 
sich  zu  Spiralen  ein,  die  Arm  Palnieltenfächern  gekrönt  sind:  wo  aber 
für  ganze  Palmetten  kein  l»'aiini  ist  —  etwa  in  einem  si)itz  zidaul'enden 
Zwickel  -  dort  liat  die  Ilailtpaliuette  Platz,  mit  bloss  einei'  \'olute 
und  einem  ]ialV)en  FäcJier.  Der  Unterschied  zwiselien  dem  mykeni- 
scIkmi  und  dem  reifhellenischen  Motiv  besieht  hauptsächlieli  darin,  dass 
der  Fächer  der  späteren  griecliischen   l'.dmette  analog  der  egyptiseh- 

'■''■)  Scliliciiianii,  Mykenii  Fig.  36'»,  vgl.  auch  Fig.  US,  484,  487,  488,  491. 
Ahiiliche.s  vcnnuthe  ich  als  der  Ornamentik  einiger  Vasen  des  sogen,  vierten 
Stils  zu  (o-nnde  liegend:  Mykcn.  Vasen  XXXVH.  378,  379,  382. 


1.    Mykenisches.  145 

asiatischen,  die  ihr  unmittelbares  Vorbild  gewesen  ist,  aus  geraden, 
aus  dem  Kelche  herausstarrenden  Strahlen  l)esteht,  Avährend  der  Fächer 
an  den  mykenischen  Beispielen  im  Halbkreis  gefiedert  erscheint^').  Die 
Verwendung  der  freibewegten  Ranke  mit  selbständig  angesetzten  Blüthen 
zum  ZAvecke  der  Flächenfüllung,  anstatt  der  starren  egyptischen  Spiral- 
bänder mit  bloss  zwickelfüllenden  Blüthen,  ist  —  wie  wir  im  weiteren 
Verlaufe  sehen  Averden  —  eine  wesentliche,  klassische  Errungenschaft 
der  reifen  griechischen  Kunst  gewesen.  Ich  stehe  niclit  an,  Fig.  64 
und  65  als  Vorläufer  dieser  Entwicklung  zu  betracliten,  Vorläufer, 
für  Avelche  auf  altorientalischem  Boden  ebensowenig  ein 
Vorbild  vorhanden  war  Avie  für  die  Wellenranke  und  die  ge- 
sammte  freie  Rankenornamentik  überhaupt. 

Die  Einführung  der  lebendigen  Pflanzenranke  in  die  Ornamentik 
stellt  sich  somit  als  ein  wesentlicher  Fortschritt  dar,  den  die  mykenische 
Kunst  an  die  ihr  dem  Alter  nach  überlegene  egyptische  geknüpft  hat. 
Der  Fortschritt  nach  dieser  Richtung  war  zugleich  ein  bleibender,  wie 
wir  sehen  werden,  Avas  deshalb  l)esonders  zu  betonen  ist,  weil  die 
meisten  sonstigen  Eigenthümlichkeiten  der  mykenisclien  Ornamentik, 
die  Band-  und  Sph^almuster,  die  Tintenfische  und  Schmetterlinge  der 
späteren  griechischen  Kunst  fehlen,  und  auch  die  Entwicklung  der 
Blüthenformen  nicht  an  die  mykenischen  Umbildungen  der  egyptischen 
Typen,  sondern  neuerdings  an  original -orientalische  Typen  geknüpft 
hat.  Die  mykenischen  Rankenornamente  bilden  dagegen,  Avie  gesagt, 
eine  dauernde  Errungenschaft.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  lässt 
sich  auch  manches  Andere  besser  begreifen,  AA^as  uns  an  der  mykeni- 
schen, scheinbar  primitiven  Kunst  überraschend  Vorgeschrittenes  und 
Vollkommenes  begegnet.  Wenn  diese  Punkte  auch  nicht  die  Pflanzen- 
ornamentik im  Besonderen  betreffen,  so  hilft  doch  das  Eine  das  Andere 
aufzuklären,  und  deshalb  AA'oUen  Avir  die  Betrachtung  der  mykenischen 
Kunst  nach  der  angedeuteten  Seite  hin  noch  Aveiter  verfolgen. 

Solchen  Zeugnissen  einer  vorgeschrittenen  EntAvicklung  begegnen 
AA'ir  innerhalb  der  mykenischen  Kunst  sowohl  auf  dem  Gebiete  des 
rein  Dekorativen  als  auf  demjenigen  der  figürlichen  Darstellungen. 

In  Bezug  auf  die  Dekoration  im  Allgemeinen  ist  einmal  zu- 
rückzuAA^eisen  auf  die  skulpirte  Decke  von  Orchomenos  (Fig.  55).    Schon 


'"')  Man  vgl.  aber  damit  die  leider  niclit  scharf  genug-  gezeichneten 
Doppelspiralen  in  der  Bordüre  einer  der  Grabstelen,  bei  Schlicmann,  Mykenä 
Fig.  24.  Die  ZA\äckel  der  Spiralen  erscheinen  da  mit  Halbpalmetten  a'ou  fast 
saracenisch-abstraktem  Charakter  gefüllt. 

RiogI,  Stilfi-agou.  10 


1^46  ^-    ^^^  Pflanzenornament  in  rlei-  g-riechischen  Knnst. 

bei  der  früheren  Besprechung  dieses  überaus  aufschlussgebenden  Denk- 
mals mykenischer  Dekorationskunst  Avurde  der  überraschende  Eindruck 
hervorgehoben,  den  die  streng  durchgeführte  Scheidung  ZAvisclien 
Innenfeld  und  Bordüre  auf  den  Beschauer  ausübt.  Die  (Grund- 
tendenz, die  zu  dieser  Scheidung  getrieben  hat  und  Avelcher  sänmitliclic 
an  der  Entwicklung  der  Kunstgeschichte  betheiligten  MittelmeerviUkcr 
nachgestrebt  haben,  wurde  schon  auf  S.  87  gekennzeichnet.  Das  Ziel 
konnte  natürlich  nur  schrittweise  erreicht  werden;  wie  Aveit  die  Egypter 
davon  noch  entfernt  waren,  wurde  gleichfalls  bereits  in  ausführliclier 
Weise  dargethan.  Erst  in  der  assyrischen  Kunst  konnten  Avir  ein  durcli- 
gängiges,  ansclieinend  beAA'usst  durchgeführtes  System  a'ou  Füllung  und 
Kahmen,  Innenfeld  und  Bordüre  AAahrnclnuen.  In  diesem  Lichte  be- 
trachtet stellt  sich  das  der  Decke  von  Orchomeuos  zu  Grunde  liegende 
dekorative  Grundschema  dar  als  ein  Fortschritt  gegenüber  der  sonst 
vorbildlichen  egyptischen  Kunstweise  und  als  auf  einer  Linie  stehend 
etwa  mit  der  StoinschAvelle  von  XiniA^e  (Fig.  lU),  mit  Avelcher  sie  sogar 
unmittelbare  Berührungspunkte  (die  Rosetten  zur  Besäumung  a'ou  Innen- 
feld und  Bordüre)  gemein  hat.  Der  Zeit  nach  ist  aber  die  Decke  von 
Orchomenos  den  bezüglichen  assyrischen  Denkmälern  entschieden  voraus. 
Abgesehen  von  jener  aus  der  verhältnissmässig  späten  Zeit  der  Sar- 
goniden  stammenden  Steinsclnvelle  sind  die  ältesten  bekannt  gcAvor- 
denen  Denkmäler  aus  den  assyrischen  Königspalästen  nicht  A-or  dem 
.Jahre  Eintausend  v.  Ch.  entstanden,  Avälirend  man  die  Blüthe  (h'i-  niy- 
kenisclien  Kultur  in  das  l(i.  bis  l'J.  Jahrliun(h,'rt  v.  Ch.  verU>gen  avüI. 
Noch  Aveniger  können  die  phönikischen  KunstAverke,  die  gleichfalls  die 
Trennung  ZAvischen  struktiver  Umrahmung  und  neutraler  P^üllung 
ziemlich  streng  durchgeführt  zeigen,  als  A'orbildlich  für  die  mykenisclien 
Künste  angesehen  Averden,  denn  nach  dem  auf  S.  108  Gesagten  Averdcn 
Avir  die  Entstehung  der  phönikischen  Metallschalen  u.  dgl.  aiicli  nicht 
viel  frülier  als  in  die  Zeit  der  Sargoniden  zu  setzen  haben.  Isi  ,i1h  r 
die  mykenische  Kultur  thatsächlich  gleichzeitig  mit  der  Herrsi  li.it'i  der 
Ramessiden  gewesen,  aus  deren  Z<'it  uns  die  bei  Prisse  d'A.  ,il)gel>il- 
deten  egyiitischen  Wandmalereien  mit  ihrer  vielfach  unvollkommenen 
und  tastenden  Durchführung  der  Bordürenunirahmung  erhalten  sind, 
<(j  Avird  man  zu  dem  Schlüsse  geführt,  dass  die  Mykenäer  so  Avie  in 
dem  Einzelmotiv  der  freibcAvegten  PHanzenranke  auch  in  dem  nilge- 
meinen  Scliema  der  dekorativen  Raumtiieilung  und  Fläclienlireehung 
wesentlich  über  die  Errungenschaften  der  Egyjiter  liinans-  und  den 
späteren  entsclieidenden   Tluiten   der  ( irieehen  entgegengeknnnn<'n  sind. 


1.   Mykenisches.  147 

Im  innigsten  Zusammenhange  mit  dem  eben  Gesagten  steht  die 
weitere  Wahrnehmung,  dass  uns  an  zahlreichen  Denkmälern  der  mykeni- 
schen  Kunst  eine  freie,  keineswegs  mehr  ängstliche,  sondern  mit- 
unter geradezu  grosse  und  kühne  Anordnung  des  Ornaments 
auf  dem  Grunde  entgegentritt.  Man  sehe  z.  B.  auf  einer  Vase  aus 
dem  Sechsten  Grabe  (Mykenische  Thongefässe  IX.  44),  deren  Malerei 
gewiss  nicht  durch  allzu  grosse  Sorgfalt  in  der  Detailausführung  her- 
vorragt, wie  sicher  und  kühn  die  Vogelfiguren  zwischen  die  zwei  ab- 
schliessenden Saunistreifen  auf  den  Bauch  des  Gefässes  hingeworfen 
sind.  Das  Gleiche  gilt  von  den  Löwen,  die  um  den  goldenen  Becher 
bei  Schliemann  Mykenä  Fig.  477  herumlaufen,  indem  sie  mit  ihren  in 
gestrecktem  Laufe  dargestellten  Leibern  genau  so  viel  Eauni  füllen,  als 
die  Kuppe  des  Bechers  zur  Verzierung  darbot.  So  ängstlich  streifen- 
weise wie  die  Verzierung  der  Dipylonvasen  ist  nun  diejenige  der  bei 
Prisse  d'Avennes  a.  a.  0.  abgebildeten  egyptischen  Gefässe  nicht  mehr, 
aber  doch  Aviedei-um  keineswegs  so  frei  und  gross  hinkomponirt  Avie 
auf  vielen  mykenischen  Beispielen.  Und  dasselbe  gilt  von  den  Formen 
der  Gefässe;  auch  diese  verrathen  in  Mykenä  den  Zusammenhang  mit 
den  späteren  griechischen  Typen  gegenüber  den  gebundenen  Formen 
der  egyptischen  Vasen. 

Für  die  herrschende  Art  der  Kunstbetrachtung  tritt  die  Kunst  erst 
dann  aus  dem  Bereiche  des  wesentlich  ethnologischen  Interesses  in  den- 
jenigen der  kunsthistorisehen  Beachtungswürdigkeit,  sobald  sie  den 
Menschen  in  seinen  Thaten  und  seinen  Leiden  zur  Darstellung 
bringt.  Während  das  geometrische,  das  Pflanzen-  und  das  Thierorna- 
ment  bloss  vom  Standpunkte  des  Schmückens  betrachtet  wird,  ge- 
winnen wir  an  dem  mit  menschlichen  Figuren  verzierten  Kunstwerk 
ein  gegenständliches  Interesse.  Die  Kunst  der  Neuseeländer  Avird  trotz 
ihrer  kunstvollen  Spiralornamentik  bei  uns  niemals  mehr  als  ein  sozu- 
sagen exotisches  Interesse  erwecken,  weil  dieselbe  in  der  Darstellung 
der  menschlichen  Figur  nicht  über  völlig  rohe  götzenartige  Monstra 
hinausgekommen  ist.  In  der  mykenischen  Kunst  begegnen  wir 
aber  vielfach  der  Darstellung  des  Menschen,  und  zwar  nicht 
bloss  auf  eigens  dazu  bestimmten  Gegenständen,  wohin  z.  B. 
die  Intaglios  gehören  mögen,  sondern  in  rein  dekorativer  Ab- 
sicht, zur  Verzierung  kunstgcAverblicher  Gegenstände  ver- 
wendet. 

Dieser  Punkt  ist  sofort  zur  Kennzeichnung  des  grundsätzlichen 
Unterschiedes  gegenüber    der    egyptischen  Kunst  hervorzuheben.     Die 

10* 


148  ß-    D*^^  Pttanzenoriiaiiient  in  der  <:Tiechisclu'n  Kuu^t. 

Kriegervase  z.  B.  steht  in  Bezug'  auf  ihren  Inhalt  bereits  vollständig  auf 
dem  Boden  der  späteren  griechischen  ^'asennlalerei ;  Aehnliches  gilt  von 
dem  tatischirten  Becher  mit  menschlichen  Köpfen,  den  Tsuntas  gefunden 
hat.  Inwiefern  die  Anfänge  der  Darstelhmg  menschlicher  Figuren  bei 
den  „Mykenäern"  auf  egyptische  Anregungen  zm'ückgehen  könnten, 
ist  heute  schwer  zu  entscheiden.  An  egyptischen  Zügen  fehlt  es  nämlich 
auch  auf  hguralem  Gebiete  nicht  völlig:  man  beachte  nur  Avie  die  Sti- 
lisirung  der  menschlichen  Figuren  auch  bei  den  „Mykenäern"  in  der 
von  den  egyptischen  Eeliefs  sattsam  bekannten  Weise  erfolgt  ist,  indem 
der  Oberkörper  in  Vorderansicht,  der  Kopf  und  die  Füsse  dagegen  in 
Seitenansicht  gebildet  erscheinen.  Diese  Art  der  Stilisirung  hat  auch 
die  charakteristischen  „Wespentaillen"  der  mykenischen  Figuren  zur 
Folge  gehabt,  die  noch  im  Dipylon  typisch  geblieben  sind.  Die  An- 
lehnimg an  egyptische  Vorbilder  mag  sich  selbst  auf  bestimmte  Scenen 
erstrecken.  Für  den  „Gaukler-'  aus  Tiryns  bringt  Goodyear  eine  bei 
Lejtsius  publicirte  Parallele  aus  eniem  Mastaba- Grabe.  Eine  Stier- 
fangscene  könnte  auch  die  bei  Prisse  a.  a.  0.,  Amphores  jarres  et  autres 
vases  N<).  1  publicirte  egyptische  Vase  enthalten:  ein  darauf  dargestellter 
mit  den  Hinterbeinen  nach  rückwärts  ausschlagender  Stier  zeigt  in 
seiner  Haltung  die  nächste  Verwandtschaft  mit  einem  der  Stiere  auf 
dem  Becher  von  Vaphio.  Und  doch  wird  Niemand  den  Becher  von 
Vaphio  für  egyptische  Arbeit  erklären  wollen.  Wie  individuell  sind 
doch  da  die  Menschen  charakterisirt,  trotz  der  egyi»tisirenden  Stilisirung 
ihrer  Oberleiber.  Ja  das  Genreartige  in  Inhalt  und  Darstellung,  soAvie 
die  eingehende  Berücksichtigung  des  Landschaftlichen^-),  wie  sie  uns  auf 
dem  Becher  von  Vaphio  entgegentritt,  zeigt  uns  die  my kenische  Kunst 
in  einem  so  freien  Verhältnisse  zu  dem  Stoffe,  den  Natur  nnd  mensch- 
liches Privatleben  darbieten,  wie  es  die  spätere  griechische  Kunst  kaum 
vor  dt-r  Diadochenzeit  wieder  erreicht  hat.  Auch  diesbezüglich 
mochten  vielleicht  die  genreniässigen  Scenen  in  den  egyj)tischen  Gräbern 
vorbildlich  gewesen  sein;  wenn  aber  diese  Scenen  in  der  egyi)tisehen 
Kunst  bekanntlich  einen  streng  gegenstäiidlielien.  mit  dem  Leben  n.icli 
dem  Tode  zusammenhängenden  Beweggrund  tnid  dementsprechende 
Bedeutung  hatten,  so  wird  man  dem  Stierfang  auf  dem  Becher  von 
Vaphio  gewiss  nur  eine  dekorative  Bedeutung  zuerkennen  können:    in 


")  Dies  ist  auch  Puclistcin  als  lu'clit  orientalisch  aufg-efallen,  bei  seiner 
Besprechung'  des  überaus  interessanicn  Trnlz|>l;ittclii'ns  im  Berliner  Antiquarium 
(Arch.  Aiiz.  1891,  S.  4  f.). 


1.    Mykenisches.  149 

diesem  Falle  sind  es  Avirkliche  Genrescenen.  Aehnliches  gilt  von  der 
Löwenjag'd  auf  der  einen  tauscliirten  Dolchklinge;  und  selbst  die  soge- 
nannte Nilborde  auf  der  zweiten  Dolchklinge  braucht  nicht  mehr  als 
allgemeine  Anregung  egyptischem  Einflüsse  zu  verdanken. 

Die  auf  S.  128  allerdings  widerlegte  Behauptung  Goodyear's,  class 
die  mykenische  Kunst  gewisse  Eigenthümlichkeiten  wie  die  intermit- 
tirende  Wellenranke  (Fig.  52)  aus  dem  Bestände  der  sogenannten 
griechisch-kyprischen  Kunst  entlehnt  hätte,  veranlasst  mich,  die 
Stellung  des  Pflanzenornaments  innerhalb  dieser  Kunst  mit  wenigen 
Worten  zu  kennzeichnen.  Dasselbe  lehnt  sich  eng',  weit  enger  als  es 
in  der  mykenischen  Kunst  der  Fall  war,  an  die  egyptischen  Vorbilder  an 
und  hat  es  daher  auch  zu  keiner  fruchtbaren  Fortbildung  gebracht. 
Phönikische  Einflüsse  haben  daran  Nichts  geändert.  Das  Abweichende, 
specifisch  Kyprische,  beruht  hauptsächlich  in  dem  isolirten  Gebrauche 
der  Lotusblüthen  u.  s.  w.  gemäss  dem  jeweiligen  dekorativen  Zwecke, 
zu  dem  dieselben  dienen  sollten.  Das  Figürliche  steht  völlig  im  Bann 
der  egyptischen  Vorbilder.  Der  Manu  auf  der  vielbesprochenen  Vase 
aus  Athienu  =3)  ist  nicht  bloss  egyptisirend,  sondern  —  was  meines  Wissens 
bisher  nicht  scharf  genug  hervorgehoben  wurde  —  ein  leibhaftiger 
Egypter,  da  zu  den  schon  von  Ohnefalsch-Richter ^^)  beobachteten  egypti- 
schen Eigenthümlichkeiten  noch  der  Schurz  zu  bemerken  ist,  den  der 
Mann  ganz  nach  egyptischer  Weise  um  die  Hüften  des  bis  auf  ein 
Halsband  ganz  nackten  Körpers  herumgelegt  trägt.  Das  Vorkommen 
eines  specifisch  griechischen  Motivs  —  der  fortlaufenden  Wellenranke 
—  auf  einem  Fundstück  aus  Cypern  wurde  schon  früher  (S.  128)  zu 
erklären  versucht.  Ein  zweites,  von  Goodyear  unbeachtet  gebliebenes 
Beispiel  derselben  Wellenranke  mit  spitzoblongen  Blättern  bietet  eine 
Vase  aus  Curium,  die  bei  Perrot  und  Chipiez  HL  Fig.  506  abgebildet 
ist^^).  Auch  in  diesem  Falle  haben  wir  es  weder  mit  einer  einheimisch- 
kyprischen  Specialität,  noch  mit  phönikisch-egyptischem  Einflüsse  zu 
thun,  sondern  mit  griechisch-mykenischer  Art,  Avie  durch  die  umgebogenen 
Epheuzweige  auf  der  Schulter  des  Gefässes  ausser  Zweifel  gesetzt  er- 
scheint.   Perrot  meint,  diese  seiner  Ansicht  nach  kyprische  Arbeit  wäre 


^3)  Jahrb.  des  deut.  arch.  Inst.  1886,  Taf.  VIII. 

^*)  Ebenda  S.  79  ff. 

=^)  Die  Zeichnung-  bei  Perrot  ist  leider  nicht  scharf  genug-  g-ehalten.  Es 
scheint  völlig-  dieselbe  Ranke  zu  sein  die  wir  auf  dem  Bonner  Becher  (Fig-.  51) 
ang-etroffen  haben. 


250  B-    I^'i^  Ptiauzenoinament  in  der  gTiechischen  Kunst. 

verhältnissmässig  jungen  Datums.  Damit  mögen  sich  diejenigen  aus- 
einandersetzen, die  der  mykenisehen  Kunst  ein  bestimmtes,  und  ZAvar 
ein  möglichst  liohes  Alter  zuweisen  zu  können  glauben. 

Jedenfalls  lässt  sieh  auch  in  diesem  Falle  ebensowenig  wie  in  dem 
früher  erörterten  (S.  128)  erweisen,  dass  die  epochemachende  p]rtin- 
dung  der  Wellenranke  auf  kyprischem  Boden  vollzogen  Avorden  wäre. 
Die  Blüthenmotive  auf  kyprischen  Vasen  sind  zumeist  ohne  Verbin- 
dung, nacli  Art  von  Stremnustern  in  den  Kaum  liineingesetzt.  AVo 
Verbindungen  auftreten,  gehen  dieselben  über  das  von  den  Egyptern 
und  allenfalls  von  den  Mesopotamien!  Erreichte  nicht  hinaus.  Gegen- 
über den  egyptischen  Vorbildern  Hesse  sich  als  Fortschritt  höchstens 
das  Ueberschneiden  zweier  in  der  gleiclien  Richtung  verlaufenden 
Bogenreihen  anführen,  das  sich  auf  kyprischen  Vasen  des  öfteren 
tindet^")  —  ein  Motiv,  das  gegenübci-  der  einfachen  Bogenreihe  ver- 
mehrte Lebendigkeit  und  Abwechslung  bedeutet.  Ol)  dieser  Fortschritt 
aber  auf  Eechnting  kyprischen  Kunstgeistes  zu  setzen  ist,  l)leiln  vor- 
läutig  zweifelhaft;  anscheinend  am  frühesten  l>egegnet  es  uns  in  IMesopo- 
tamien^'),  und  seine  Fundstätten  aus  der  ersten  Hälfte  des  letzten 
Jahrtausend  v.  Cli.  liegen  weit  ühvv  (Vw  Kultursphäre  des  Mittelmeeres 
zerstreut  (..Kyrenische"  Vasen,  Kainirus  auf  Khodos,  anderseits  Vulci 
in  Italien). 

In  der  Entwicklungsgeschichte  des  Pllanzenornaments  wird  also 
der  gi'iechisch  kyprischen  Kunst  kein  sell)ständiger  Platz  einzuräumen 
sein.  Sie  zehrt  vom  Erbe  der  altorientalischen  Kunstvölker,  der  Egypter 
und  Mesoi)Otamier.  verwendet  phönikische  Varianten  wie  den  Palmetten- 
baum, und  übernimmt  die  wenigen  vorkommenden  Keime  späterer 
fruchtbarer  Entwicklung  von  den  Griechen,  angefangen  von  der  „my- 
kenisehen" Zeit.  Insofern  ist  diese  Kunst  in  der  That  eine  „griechisch "- 
kyprische. 

2.    Dci-  IHpyloii-Stil. 

Die  natürliche  Fortentwicklung  der  mykenisehen  Ornamentik  «Tlitt 
eine  gc-waltsame  Störung  und  Unterbrechung  durcii  das  Eindringen 
eines  „geometrisclien"  Stils,  des  l)ipyhn-Stih.  Dieser  Stil  ist  nicht 
der  geometrische  Stil  schlechtweg,  kann  auch  keineswegs  als 
Muster  eines  reingeometrischen  Stils  gelten.  Namentlich  in  Bezug 
auf  die  Gesammtdekoration  fehlt  \\\m  die  Naivetät  der  primitiven  Stile. 

•'«)  Z.  B.  auf  der  Vase  aus  Oniiidia.   I'ern.t   III.  (W,  Fig.  r)OT. 
")  LayanI,  Niiiive  i.  'I'af.  84  No.  K'.. 


2.    Der  Dipylon-Stil.  151 

Es  ist  etwas  Raffinirtes  in  der  Vertheiluug  der  Ornamente.  Es 
herrscht  zwar  die  elementare  Eintheilnng  in  Streifen:  also  ein  Schema, 
über  welches  die  mykenische  Kunst  weit  hinausg-ekommen  war.  Aber 
die  Abwechslung  der  Streifen  nach  der  Breite,  die  hiebei  beobachteten 
„tektonischen"  Rücksichten,  die  Einfügung-  figürlicher  Scenen,  dies  Alles 
verräth  eine  vorgeschrittenere  überlegtere  Dekorationskunst,  als  wir 
sie  in  den  rein  geometrischen  Stilen  —  den  nordischen,  den  ältesten 
kyprischen,  den  amerikanischen,  den  polynesisehen  —  anzutreffen  ge- 
wöhnt sind.  Der  Dipylon-Stil  lässt  sich  überhaupt  nicht  mit  einer 
kurzen  Formel  abthun.  Er  ist  keine  blosse  Uebertragung  des  Runden, 
wie  es  in  der  mykenischen  Kunst  das  Herrschende  gewesen  ist,  in's 
Eckige.  Wir  begegnen  im  Dipylon  runden  Linien  neben  eckigen, 
Kreisen  neben  Quadraten,  rosettenartigen  Vier-  und  Mehrblättern  neben 
Strahlenrosetten. 

Wodurch  sich  das  Dipylon  als  doch  noch  nicht  ausser  allem  Zu- 
sammenhange mit  einer  naiven,  bloss  schmucksuchenden  Kunststufe 
erweist,  das  ist  neben  der  Streifenmusterung  der  Horror  vacui. 
Namentlich,  wo  figürliche  Darstellungen  auftreten,  erscheint  der  ge- 
sammte  von  den  Figuren  oder  dem  Beiwerk  der  Scenen  nicht  in  An- 
spruch genommene  Raum  mit  Füllmotiven  überstreut,  lieber  diesen 
Standpunkt  war  die  „mykenische"  Kunst  längst  hinausgekommen.  Das 
Vorhandensein  figürlicher  Scenen  in  der  Dekoration  scheint  zwar  an 
sich  Zeugniss  von  einer  höheren  EntAvicklung  abzugeben;  aber  die 
Figuren  selbst,  insbesondere  die  menschlichen,  stehen  weit  zurück  hinter 
denjenigen,  Avelche  die  mykenische  Kunst  geschaffen  hat,  hinter  den 
charakteristischen,  lebendig  bewegten  Erscheinungen  etwa  des  Vaphio- 
bechers  oder  auf  der  Dolchklinge  mit  dem  Löwenkampf.  Ob  wir  nun 
diese  Stilisirung  der  Figuren  im  Dipylon  für  eine  originale  Errungen- 
schaft seiner  Träger,  oder  aber  für  Nachbildungen  nach  dem  egypti- 
schen  Kanon  halten,  wofür  in  der  That  Manches ^^)  zu  sprechen  scheint: 
immer  gelangen  wir  auf  eine  tiefer  gelegene  Stufe  der  Kunstentwick- 
lung als  diejenige  gewesen  ist,  die  bereits  von  der  mykenischen  Kunst 
erreicht  worden  Avar. 

Als  charakteristisch  für  das  Dii)ylon  wird  seit  Conze^-')  das  Fehlen 


^*)  Namentlich  sind  die  Oberkörper  der  menschlichen  Figuren  viel  strenger 
als  in  der  mykenischen  Kunst  in  der  Vorderansicht  g-ebildet;  über  Egyptisches 
im  Dipylon  vgl.  Kroker  im  archäol.  Jahrb.  1886,  S.  95  ff. 

^^)  Zur  Geschichte  der  Anfänge  der  griechischen  Kunst,  in  den  Sitzungs- 
berichten  der  kk.  Akad.  der  Wissensch.  phil.  bist.  Classe  LXIV.  2.  Heft,  1870. 


152  ß-    D'^*  Ptlaiizenornamoiit  in  der  g-iiechischen  Kunst. 

von  Ptlanzoiiornamenten  bezeichnet.  In  der  Tliat  haben  sich,  trotz 
des  reichen  ^Materials,  das  in  den  seither  verflossenen  zwanzig  Jahren 
zn  Tage  gefördert  worden  ist,  nnr  höchst  vereinzelte  Beispiele'^")  un- 
zweifelhaft pflanzlicher  Motive  anf  geometrischen  Vasen  der  Dii)yloii- 
zeit  gefunden.  Freilich  Goodyear,  der  im  fortlaufenden  Zickzack  bloss 
verkümmerte  Lotusblüthenrcihen  erblickt,  führt  den  Dipylonstil  ebenso 
gut  wie  den  nordisch-prähistorischen  in  allem  Wesentlichen  auf  egyp- 
tische  "Wurzel  zurück.  Aber  selbst  wenn  dem  so  wäre,  würde  der 
Dipylonstil  für  unsere  augenblickliche  Aufgabe,  für  die  Darlegung  der 
Entwicklung  des  Pflanzenornaments  und  der  Pflanzenranke  keine  posi- 
tive Bedeutung  haben,  da  an  den  angebliclien  Rückschlag  ins  Geome- 
trische keine  fruchtbare  Entwicklung  des  Pflanzlichen  anknüpfen 
konnte.  Der  Dipylonstil  musste  aber  nichts  desto  weniger  an  dieser 
Stelle  zur  Sprache  gebracht  werden,  um  die  Unterbrechung  der  „myke- 
nisclien-  Entwicklung  und  das  Nachfolgende  überhaupt  zu  erklären. 
Denn  selbst  auf  solchen  Punkten  des  späteren  Hellas,  wo  sich  myke- 
nische  Ueberlieferungen  ziemlich  treu  erhalten|habeu,  hat  sich  der  Ein- 
fluss  des  Dipylon  in  tiefgreifender  Weise  V)emcrkbar  gemacht,  so  z.  B. 
auf  der  Insel  Melos,  auf  deren  Vasen  wir  neben  unverkennbar  my ke- 
nischen Ueberlieferungen  die  füllenden  Streumuster  des  geometrischen 
Horror  vacui,  des  primitiven  Schmückungstriebes  finden  werden. 

Die  bisherigen  Funde  haben  ergeben,  dass  sich  die  Invasion  des 
geometrischen  Stils  über  alle  Landschaften  erstreckt  hat,  wo  später 
Sitze  griechischer  Kultur  und  Kunst  gewesen  sind:  am  stärksten  auf 
dem  europäischen  Fcstlande,  in  stetig  abnehmender  Intensität  nach 
Osten  hin  bis  gegen  Cypern.  ;Man  hat  daraus  auch  eine  Antwort  auf 
die  ethnogi'aphische  Frage  konstruirt.  Die  Träger  des  Dipylon  Avären 
hiernach  ein  Volk  gewesen,  das  nicht  aus  dem  Orient,  sondern  über 
europäische  Landschaften,  also  wohl  über  die  Balkangegenden  nach 
Grieclicnland  eingewandert  ist.  Vielfach  hat  man  hiebei  an  die  Wan- 
derung der  Dorer  gcdaclit,  was  Aviederum  den  folgericlitigen  Schluss 
nacli  zielien  musste,  dass  die  Träger  der  mykenischen  Kunst  in  Grie- 
chenland die  Achäer,  also  ebenfalls  Griechen,  gewesen  sein  müssten. 
Dies  konnten  diejenigen  niclit  zugeben,  die  in  den  Trägern  der  myke- 
nischen Kultur  die  Karer  erblicken  Avollten.  Diese  letzteren  stützten 
ihre   Annahme    hanptsäclilicli    auf  Gründe,    die  ausserhalli   der  Sphäre 

^■'')  So  an  einer  Vase,  ;uis  Kameiros,  Arcli.  .laliib.  1886,  S.  135,  wclclieu 
Umstand  schon  Fint\v;iii;rler  liervorgehoben  hat. 


2.    Der  Dipylon-Stil.  I53 

des  Kunstschaffens  gelegen  sind;  doch  empfanden  sie  von  Ulrich  Köhler 
bis  auf  Goodyear  immerhin  die  Verpflichtung,  auch  auf  dem  Gebiete  der 
Kunst  das  Ungriechische  im  Mykenischen,  das  Griechische  im  Dipylon 
darzuthun.  Das  Erstere  fiel  anscheinend  nicht  schwer:  ha])en  doch 
auch  wir  Gelegenheit  gehabt,  die  zahlreichen  Elemente  zweifellos  egyp- 
tischer  Herkunft  in  der  mykenischen  Formenwelt  zu  beobachten.  Was 
aber  den  griechischen  Charakter  im  Dipylon  betrifft,  so  hat  den  Ver- 
tretern dieser  Meinung  Studniczka^^)  am  bündigsten  das  Wort  von  der 
Lippe  weggesprochen.  Ihm  vertritt  der  geometrische  Stil  der  einge- 
wanderten Hellenenstämme  das  Princip  strenger  Zucht,  mittels  deren 
alle  Entlehnungen  aus  dem  überquellenden  Formenreichthum  des  Orients, 
von  den  „mykenischen"  angefangen,  zu  echt  hellenischem  Gute  umge- 
prägt Avurden. 

Ebensowenig  wie  die  Lösung  der  „mykenischen  Frage"  nach  ihrer 
ethnographischen  Seite  kann  die  Klärung  des  Verhältnisses  zwischen 
den  Trägern  der  mykenischen  und  der  Dipylon-Kultur  hier  beabsichtigt 
sein.  Aber  es  muss  daran  erinnert  werden,  dass  die  Betrachtung  des 
Pflanzenornaments  in  der  mykenischen  Dekoration  das  Vorhandensein 
specifisch  griechischer  Errungenschaften  ergeben  hat,  die  wir  in  den 
altorientalischen  Künsten  vergebens  suchen,  und  ebenso  vergebens  im 
Dipylon.  Dass  die  Träger  der  Dipylonkultur  im  späteren  Hellenen- 
thum  aufgegangen  sind,  soll  darum  keineswegs  bestritten  Averden;  aber 
die  schöpferischen  „Keime  des  Griechenthums"  vermögen  wir  weit  mehr 
im  Mykenischen  zu  verfolgen,  Aveshalb  wir  uns  vorhin  (S.  127)  den  Schluss 
verstattet  haben,  dass  die  Träger  der  mykenischen  Kultur,  mögen  die- 
selben nun  Karer  oder  Achäer  gcAvesen  sein,  eine  sehr  Avesentliche  Com- 
ponente  des  späteren  hellenischen  Volksthums  ausgemacht  haben  müssen. 

Wenn  es  noch  eines  BcAveises  bedürfte,  dass  das  Eindringen  des 
geometrischen  Stils  an  Stelle  des  mykenischen  einen  Eückschritt,  und 
nichts  als  einen  Rückschritt  bedeutet  hat,  so  haben  ihn  die  Griechen 
selbst  damit  geliefert,  dass  sie  angesichts  der  Aussichtslosigkeit,  mit 
diesem  Stil  etAvas  anzufangen,  sich  Aviederum  an  die  ursprüngliche 
Quelle  ihrer  Avichtigsten  Zierformen,  an  den  Orient,  gcAA^endet  haben ^-). 


ß')  Athen,  Mitth,  1887,  24. 

^-)  Analoges  hatten  wir  Gelegenheit  in  der  assyrischen  Kunst  zu  beob- 
achten, (S.  93)  wo  uns  auch  zur  Zeit  der  Sargoniden  reiner  egyptisch  stilisirte 
Blumentypen  entgegengetreten  sind,  als  an  den  älteren  Denkmälern  aus  der 
Zeit  des  Assuniasirpal  u.  s.  w.  Freilich  mochten  die  Gründe  da  und  dort  ver- 
schiedene ffew^esen  sein. 


154  B-    I^^s  Pflanzenornament  in  der  g-riechischen  Knnst. 

Es  ist  nun  unsere  Aufgabe,  zu  zeigen,  wie  das  l'flanzenorna- 
ment  neben  und  nach  dem  Dipylon  in  der  griechiselien  Kunst 
Avieder  zu  Ehren  kommt,  wie  es  zum  Theil  die  orientalischen 
Errungenschaften  schematiscli  Aviederliolt,  namentlicli  aber 
wie  es  an  die  grosse  mykenische  Errungenschaft,  an  die 
freibewegte  Pfanzenranke  anknüpfend,  diese  sell)st  sowie 
die  angesetzten  Blüthen  im  Sinne  des  Formschönen  ausbildet, 
so  allmälig  die  Fähigkeit  gewinnt,  grössere  Flächen  zu 
überziehen,  und  endlich  auch  menschliche  und  Thierfiguren 
zur  Dekoration  heranzieht  und  sich  subordinirt.  Da  es  sich 
somit  um  die  Schilderung  eines  fortlaufenden  Entwicklungsganges 
handelt,  werden  die  Formen  und  die  Denkmäler  im  Allgemeinen  in 
chronologischer  Reihenfolge  vorgeführt  werden.  Doch  lässt  sich  die 
letztere  auf  einem  Gebiete,  das  so  vielfach  lokale  und  individuelle 
Fortbildungen  zeigt,  nicht  immer  streng  aufrecht  erhalten.  Ich  er- 
achte es  daher  für  nöthig,  auch  an  dieser  Stelle  zu  betonen,  dass  es 
sich  hier  nicht  um  einen  chronologischen  Fixirungs-  oder  genaueren 
Datirungs  -  Versuch  der  betreffenden  Vasengattungen  u.  s.  f.  handelt. 
welche  Aufgaben  gewiss  nicht  ausschliesslicli  auf  Grund  des  Pflanzen- 
ornaments g<'löst  AVerden  könnten.  Xur  die  Stellung  der  einzelnen  zu 
besprechenden  Denkmäler  innerhalb  der  Entwicklungsgeschichte  des 
Pflanzenrankenornaments  soll  jeweilig  nach  Möglichkeit  genau  um- 
grenzt Averden;  die  auf  breitester  Basis  vorgehende  klassische  Kunst- 
archäologie mag  daraus  jene  Schlüsse  ziehen,  zu  Avelchen  sie  sich 
durch  Vergleichung  mit  dem  Befund  der  übrigen  Eigentliünilielil<eiten 
der  bezüglichen  Denkmäler  berechtigt  glaubt. 

3.    ölelisches. 

An  die  Spitze  sind  die  melischen  Vasen  zu  setzen.  Das  j\lNkenische 
tritt  in  diesei-  frühgiiechischen  Vasenklasse  noch  am  deutlichsten  zu 
Tage,  und  zw.ir  ger;ide  Jene  Elemente,  die  in  die  spätere  lielleniselie 
Kunst  ül)ergegangen  sind.  Als  Beispiel  dii'ne  Fig.  (»6,  entlehnt  aus 
<onzes  melischen  Thongefässen  (1.1),  avu  auch  die  Details  Fig.  ()7 
'Mel.  Thong.  I.  4)  und  Fig.  53  (Mel.  Thong.  I.  5)  zuerst  publicirt  sind. 

Wenn  Avir  von  den  rosettenartigen  Gebilden  abseben,  so  begegnen 
uns  an  Fig.  i".«'«  vr)n  Einzclmotiven  die  beiden  grundlegenden 
Typen  des  eg>  jit  isclien  Lotus:  die  spitzbjättrige  Prolilansiclit 
(Fig.  53),    soAvie    die   Lotuspalmette  (in   l-'ig.  (»C    unter  den    iiinterlteineii 


3.    Melisches. 


155 


der  Pferde).     So    unverkennbar    der    egyptische   Ursprung,    schon  des 
Volutenkek'hs  halber,    so  in  die  Augen   springend  sind  anderseits  die 


Fig.  6G. 
Melische  Vase. 


Unterschiede.     Insbesondere  die  Palmetten  unter  den  Hinterbeinen  der 
Pferde    sind    weder    egyptisch,    wegen   dei-    stark    eingerollten  Volute, 


156  B-    r)'*^^  Pflanzenornament  in  der  giiechisclien  Kunst. 

noch  assyrisch,  "weil  ihneu  die  nach  Aufwärts  gerollten  Voluten 
fehlen.  Die  Palmetten  in  Fig\  66  sind  einfach  griechisch.  Charak- 
teristisch dafür  sind  die  stark  eingerollten  Voluten  des  Kelches  und 
die  in  entsprechender  Grösse  dazu  gebildete  Fäelifi-krcinc,  deren  kol- 
benartig auslaufende  Blätter  nicht  dicht,  sondern  lose  nebeneinander 
angeordnet  sind.  Das  Motiv  der  griechischen  Palmetten  tritt  uns  da 
in  allen  seinen  wesentlichen  Bestandtheilen  fertig  entgegen:  es  fehlt 
nur  noch  die  feine  Abwägung  und  Durchbildung  der  Details  im  reinen 
Sinne  des  Formal -Schönen,  —  ein  Process,  der  erst  im  Laufe  des 
5.  Jahrhunderts  sein  Ziel  erreicht  hat.  —  In  abbreviirter  Form  wieder- 
holt sich  die  Volutenblüthe  am  Fusse  (als  Doppelvolute  mit  giebelartiger 
Zwickelfüllung)  und  in  der  gleichen  Form  in  der  Wüte  des  oberen 
Randes  des  Figurenfeldes  mit  den  Reitern. 

Die  Beziehungen  dieser  beiden  pHaiizliehen  Einzelniotive  der 
melischen  Vasenkunst,  des  Profillotus  und  der  Palmette,  zu  orientali- 
schen Vorbildern  sind  stärker  ausgeprägt  als  diejenigen  zur  mykeni- 
schen  Ornamentik.  Dies  gilt  insb(>sondere  vom  Protillotus;  aber  auch 
hinsichtlich  der  Palmette  ist  kein  mykenisches  Beispiel  bckainit,  an 
dem  ein  so  regelmässig  gestalteter  Blattfächer  mit  dem  Volutenkelch 
verbunden  wäre.  Wir  Averden  also  an  erneuerten  orientalischen  Ein- 
fiuss  denken  müssen,  entweder  an  original-egyptischen  oder  einen  ab- 
geleiteten. Wie  frei  diese  melischen  Vasenmaler  mit  den  frem- 
den Blütlienmotiven  schalteten,  beweist  nicht  bloss  die  Verl)in- 
dung  des  Lutusproüls  mit  Volutenkelch,  wie  sie  in  Fig.  53  links 
zweifellos  kenntlieh  gemacht  ist,  sondern  namentlich  auch  die  Zusam- 
menstellung zweier  grosser  Volutenblumen,  wie  sie  die  Mitte  des  Halses 
in  Fig.  6(j  schmücken.  Die  Spitzblätter,  Avelche  die  beiden  Blunnni 
bekrönen,  .stellen  den  Zusammenhang  derselben  mit  dem  spitzblättrigen 
Profillotus  her.  Ein  ganz  ähnliches  Gebilde  gew.'ihrcii  wir  uuiei-li.illi, 
in  der  Mitte  zwischen  den  heideii  Pferden;  aber  an  Sidle  der  Spitz- 
blätter der  Krone  sind  liier  die  Hlattfächer  des  PalniciieDiiiotivs  ge- 
treten. Die  Voluten  sind  übrigens  so  sein-  das  r(d)er\viegeiide,  (Irnnd- 
legende  des  Motivs,  dass  die  beiden  von  ihnen  eingeschlossenen  Kelche 
sich  als  blosse  Zwickelfüllungcn  darstellen,  kaum  stäi'ker  vorschlagend 
als  die  zahlreichen  weiteren  Zwickelfüllungen,  die  lUier.ill  bei  der  Be- 
rührung der  Spiralen  und  bei  der  Abzweigung  von  K'.inken  entsielien. 
Das  Gesammtmuster  ei'schiene  somit  analog  den  egyptischen  Spiral- 
musternngen  mit  Zwickelblumen,  Avie  z.  B.  Fig.  26,  27.  Dass  aber  der 
melisclif  Vasenmah-r    luclit   an    st;ii'i'e    ireiHnetris(dic'    Siiir.den,    sund^m 


3.    Melisches. 


157 


an  lebendiges,  vegetabilisches  SclilingAverk  gedacht  hat,  deuten  die 
kurzen  Eankenzweige  an,  die  sich  oben  und  unten  an  die  Seiten  der 
Voluten  ansetzen.  Auf  diese  Eankenzweige  wird  übrigens  noch  zurück- 
zukommen sein. 

Wir  haben  nun  die  Art  und  Weise  zu  betrachten,  Avie  an  den 
melischen  Vasen  die  vegetabilischen  Einzelmotiv«'  untci-  cinfindor  in 
Verbindung  gebracht  erschei- 
nen. Das  unmittelbar  vorher 
Gesagte  hat  uns  bereits  dazu 
übergeleitet.  Im  Vordergrunde 
standen  da  die  Spiralen,  wo- 
gegen sich  die  Blüthenmotive 
bloss  als  Füllsel  darstellten. 
Das  Postulat  der  Zwickelfüllung 
erschien  an  dem  gegebenen  Bei- 
spiel als  ein  absolutes.  Ver- 
gleichen wir  damit  Fig.  67.  Wir 
sehen  da  zwei  neben  einan- 
der laufende  Spiralenreihen;  die 
Zwickel,  die  je  zwei  zusammen- 
stossende  Spiralen  im  Innern 
bilden,  erscheinen  durch  einen 
Palmettenfächer  gefüllt;  alle 
Zwickel,  die  sich  nach  Aussen 
öffnen ,  sind  durch  einfache 
Giebel  geschlossen.  Das  egyp- 
tische  Vorbild  haben  wir  in 
Fig.  26  kennen  gelernt ,  ein 
mykenisches  Zwischenglied  in 
Fig.  60.  Die  weitere  Entwick- 
lung hat  anscheinend  daraus 
das  doppelte  Flechtband  ge- 
macht (Fig.  68)*^^),  das  sich  sehr 
häutig  an  archaischen,  bemalten  Terracotten, 
spätrömischen  Mosaiken  findet. 

Keinen  wesentlichen  Fortschritt  über  egyptischen  Kunstgeist  hinaus 
zeigt  ferner  derjenige  Ornamentstreifen  von  Fig.  66,  der  sich  unmittelbar 


rig.  (m. 

Gemaltes  Oninmeiit  von  einer  melischen  Vase. 


aber    selbst    noch    auf 


3)  Von  dem  Berliner  Sarkophag-  aus  Klazomcnä,  Aiit.  Denkm.  I.  44. 


158 


B.    Das  Pflanzenornament  in  der  "-riecbischen  Kunst. 


über  dem  Fusse  befindet.  AYir  sehen  da  neben  einander  g'elegte  Dop- 
pelvoluten (die  beiden  auf  der  Abbildung  ersichtlichen  nur  zur  Hälfte 
sichtbar).  Die  beiden  ZAvickel,  die  eine  jede  von  diesen  Doppel volnten 
mit  sich  selbst  bildet,  sind  mit  Palniettenfächern  gefüllt,  die  Zwickel 
dagegen,  die  durch  das  Nebeneinanderstossen  je  zweier  Dopiielvuluten 
entstehen,  mit  einfachen  Giebeln. 

Es  bleiben  an  der  Vase  Fig.  Cid  noch  die  In'iden  Oniamcntstrcilcn 
zu  betrachten,  die  den  Figurenfries  mit  den  Reitern  oben  und  unten 
besäumen.  AVir  haben  diese  beiden  Säume  absichtlich  zum  Schlüsse 
aufgespart,  da  dieselben  in  ihrer  ^rusterung  entschieden  reingriechi- 
schen Charakter  zeigen,  und  zugleich  mit  mykenischen  Vorbildern  so 
enge  zusammenhängen,  dass  Avir  sie  als  direkte  Zwiseiienglicder 
zwischen  mvkenischen  und  lielleii  ischen  Kunst  formen  ansehen 


7K>i 


Fig.  G8. 

Von  einem  klazomenisclien 

Tbonsarkophag. 


Fig.  69. 

(ieinuiu-s  Füllornauieut  von  einer 

luelisfhcn  Vase. 


dürfen.  Der  untere  Saum  l)esteht  aus  neben  einander  gelegten  S-8pi- 
ralen;  diese  wären  nun  an  sich  eben  so  wenig  unegyiitisch.  wie  die 
giebelfürmigen  Zwickelfüllungen  dazwischen.  Das  :\rykenisch-(lrie- 
chische  beruht  in  den  Ranken,  die  von  den  Spiralen  tlieils  ol)en,  tlieils 
unten  abzweigen  und  in  den  Palmettenfächer-Füllungen,  die  /wixhen 
diesen  Ranken  und  den  Spiralen  eingezeichnet  sind,  und  nicht,  \\ii'  es 
das  egyptische  Schema  erforderte,  in  den  inneren  Winkeln  der  S-Kriim- 
mung.  Wie  ein  Kgyptei-  die  Zwickel  einer  S-Si)irale  get'iilll  halle, 
zeigt  Fig.  tV.'.  die  gleichfalls  von  einer  melischen  Vase  (Conze  Taf.  1\') 
entlehnt  ist  und  dasell>st  als  Füllsel  zwischen  den  Pferdebein<>n  dient. 
Dagegen  lüldet  die  a])zweigende  I\anke  mit  dem  tiillenden  l-'iiidiei-  in 
Fig.  W  eine  Halbpalmette.  Das  Motiv  der  Halbpahnetle,  deren  zwei  eine 
ganze  Palmette  zusammensetzen,  ist  spätei-hin  in  der  grieeliisi  hen  Or- 
namentik ein  überaus  wichtiges  und  grundlegendes  gewnidm.  An  der 
melischen  Vase,   Fig.  <;(;,  ist   es  in  .dleni  Wesentlichen  schon   vorhanden; 


o.    Melisches.  159 

aber  wie  Avir  auf  8.  144  gesehen  haben,  war  es  bereits  in  der  mykeni- 
schen  Kunst  vorgebildet^*).  Ob  nun  der  melische  Vasenmaler  das 
Motiv  bewusstermaassen  als  selbständige  Halbpalmette*^^)  oder  als  blosse 
accidentelle  Zwickelfüllung  der  S-Spirale  aufgefasst  hat:  daran  wird 
nicht  zu  zweifeln  sein,  dass  wir  darin  ein  Zwischenglied  zwischen  einer 
mykenischen  und  einer  reingriechischen  Kunstform  zu  erblicken  haben. 
Der  Zweifel,  der  in  dem  letzterwähnten  Falle  noch  übrig  bleiben 
könnte:  ob  nämlich  die  geometrische  S-Spirale  oder  die  vegetabilische 
Halbpalmette  das  Hauptmotiv  gebildet  hat,  —  dieser  Zweifel  fällt  hin- 
weg bei  der  Betrachtung  des  Schultersaums  von  Fig.  66,  in  grösserem 
Maassstabe  reproducirt  in  Fig.  53.  Derselbe  zeigt  abwechselnd  ein- 
wärts und  auswärts  gerichtete  Profillotusblüthen ,  die  unter  einander 
fortlaufend  im  Schema  der  intermittirenden  Wellenranke  ver- 
bunden erscheinen,  —  einem  im  Sechsten  mykenischen  Schachtgrabe 
zuerst  nachgewiesenen  Schema,  dessen  kunstgeschiehtlicher  Bedeutung 
wir  bereits  auf  S.  123  f.  gerecht  geworden  sind.  Auch  hinsichtlich  des 
Verhältnisses  dieses  melischen  Beispiels  zu  dem  erwähnten  mykenischen 
ist  auf  die  citirte  Stelle  zurück  zu  verweisen. 

Fassen  wir  also  das  Ergebniss  unserer  Betrachtung  der  Pflanzen- 
ornamentik auf  den  melischen  Vasen  zusammen.  Das  Pflanzenorna- 
ment steht  hier  im  Wesentlichen  noch  auf  der  Stufe  der  my- 
kenischen Kunst.  Es  bcAvegt  sich  in  der  Regel  auf  der  Grenzlinie 
zwischen  Spiralornament  und  Rankenornament.  Die  entscheidende 
Schöpfung  der  mykenischen  Kunst,  die  ausgesprochene  Blumenranke, 
hat  es  nicht  preisgegeben,  aber  auch  augenscheinlich  nicht  weiter  fort- 
gebildet. Die  steife  vertikale  Stellung  der  Blumenkelche  sowie  der 
Einzelstengel  bedeutet  eher  einen  Rückfall  in's  Egyptische,  worauf  auch 
die  Stilisirung  der  Lotusblüthen  und  Palmetten  hinweist.  Die  Zwickel- 
füllung ist  ein  so  grundlegendes  Postulat  gew^orden,  wie  sie  es  in  der 
mykenischen  Kunst  noch  nicht  gewesen  ist,  selbst  nicht  in  der  egyp- 
tischen,  wohl  aber,  wie  es  scheint,  in  der  phönikischen.     Am  wenigsten 


^*)  Am  nächsten  scheint  dem  in  Rede  stehenden  Muster  von  Fig.  66  die 
Bordüre  der  Grabstele  bei  Schliemann,  Mykenä  Fig.  24,  S.  58  zu  stehen. 

^=)  Übrigens  lässt  sich,  wie  ich  glaube,  die  bewusste  Anwendung  der 
Halbpalmette  seitens  der  melischen  Vasenmaler  monumental  erweisen.  Die 
Sphinx  auf  der  melischen  Vase  Arch.  Jahrb.  1887,  Taf.  XII  trägt  sie  am  Haupte 
als  Bekrönung,  also  in  einer  Funktion,  in  welcher  späterhin  häufig  wohl  die 
Palmette  gebraucht  wurde  (Arch.  Zeit.  1881,  Taf.  XIII  No.  2,  3,  6),  aber  nicht 
die  einzelne  Spirale. 


j(3()  B.  Das  Ptlanzenornament  in  der  gTiechischen  Knust. 

gewahrt  mau  —  beiläufig'  bemerkt  —  von  assyrischem  Eintittss,  mau 
Avollte  denn  die  Heftel  oder  die  Klannnerii,  wodurch  die  Spiralranken 
bei  ihrer  Berührting-  in  Fig\  GG  und  GT  zusammengehalten  erscheinen, 
als  Zeugnisse  dafür  ansehen,  weil  sie  sich  auch  auf  assyrischen  Bogen- 
friesen  (Fig.  33)  flnden.  Der  Rückfall  in's  „Geometrische"  äussert  sich 
namentlich  in  der  peinlichen  Aufthcilung  der  gesammten  Oberfläche  der 
Vase  Fig.  66  in  parallele  Streifen,  und  in  den  zahlreichen  Streumustern 
im  Figureufries.  Es  ist  auch  die  Möglichkeit  nicht  abzuweisen,  dass 
derselbe  Horror  vacui,  der  diese  Streufüllsel  hervorgebracht  hat,  die 
]ieinliche  Beobachtung  der  ZAvickelfüllung  im  letzten  Grunde  zur  Folge 
gehabt  hat. 

4.    Rhodisches. 

Die  nächste  Gruppe  von  Denkmälern  die  wir  in  Betracht  zu  zlelieu 
haben,  sind  die  sogen,  rhodiachen^^)  Vasen  und  die  mit  diesen  eng  ver- 
Avandten  Thonsarkophage  von  Klazomenä .  Das  allgemeine  Dekorationsschema 
ist  hier  zwar  im  "UY'sentlichen  das  gleiche  wie  an  den  melischen  Vasen: 
Streifenmusterung  und  reichliche  Streumuster  als  Füllungen  zwischen 
den  menschlichen  und  Thierfiguren.  Wenn  aber  an  den  melischen 
Vasen  in  Bezug  auf  das  Pflanzen-  und  Spiralen-Ornament  die  myke- 
nisclie  Tradition  über-\\og,  so  tritt  diese  an  der  rhodischeu  Klasse  in 
den  Hintergrund  und  macht  Elementen  von  mehr  orientalischem  Ge- 
präge Platz.  Das  Maass  der  Orientalisirung  ist  jedoch  auch  nicht  überall 
das  gleiche,  uiul  schon  die  Betrachtung  dieses  Umstaudes  allein  lülirt 
sofort  zu  einer  Scheidung,  die  freilich  niclit  ausschliessliche  Geltung  in 
Anspruch  nehmen  kann  und  will. 

Wo  nämlich  die  Blüthenmotive  vereinzelt,  ohne  \'erviel- 
fachung  und  oluie  Verbindung  mit  ihresgleichen  vorkonnneu,  dort  er- 
scheinen die  unverkennbaren,  zu  Grunde  liegenden  Volutenkelchblütlieu 
orientalischer,  oder,  genauer  gesagt,  egyptischer  Schöpfung  gewöhidich 
sehr  frei  behandelt  und  dem  jeweiligen  Zwecke  angepasst.  Als 
Beispiel  diene  Fig.  70*^").     In  diesem  Falle  handelte  es  sich  um  die  Ans- 

''•')  Da.ss  trotz  des  Hau])tfundorts  (Kaniciros  auf  Rliodos)  diese  Vasen  .lul' 
ar^^ivischcn,  also  europäischen  Ursprung  zurückgeführt  werden  (vgl.  Dünnnler 
im  Arcliäol.  Jahrb.  1891,  263  ff.),  sei  deshalb  erwähnt,  um  es  zu  rechtfertigen, 
dass  die  bemerkbaren  stärkeren  orientalischen  Einflüsse  in  dieser  Vasengriij)])« 
von  uns  nicht  ausdrücklich  mit  der  Nähe  der  Levante  in  Verlündniiü-  gebracht 
wurden. 

'•'')  Von  einer  Schale  aus  Kamciros  (Salzniauu,  Necropolc  de  Cauiirus, 
Taf.  :')!;. 


4.   Rhodisches. 


161 


füUung-  eines  Kreissegments.  Infolge  dessen  wurden  die  beiden,  den 
Kelch  bildenden  Voluten  (die  hier  nach  assyrischer,  aber  gleichfalls  in 
Egypten  wurzelnder  (S.  103)  Weise  nach  aufwärts  eingerollt  sind)  stark 
in    die    Länge   gezogen,    und    in  den  Zwickel    dazwischen    ein  grosser 


Fig.  70. 
Gemalte  Verzierung  von  einem  rhodischen  Teller. 

Fächer  eingesetzt.  Zu  bemerken  ist  auch  die  reichliche,  ja  peinliche 
Füllung  aller  übrigen  Zwickel  innerhalb  des  Segments.  Ein  anderes 
Beispiel  giebt  Fig.  71.  Dieses  Motiv  bildet  die  Mitte  eines  Streifens  von 
einer  Oenochoo*^^),  woran  sich  rechts  und  links  in  symmetrischer  Folge 


Fig.  71. 
Gemalte  Verzierung  von  einer  rhodischen  Vase. 


Vogelfiguren  und  Sphingen  anschliessen.  Hier  gewahren  wir  einen 
spiralig  (also  mykenisch-griechisch)  eingerollten  Volutenkelch,  darüber 
zwei  ausladende  spitze  Kelchblätter,   und  zwischen  diesen  einen  grie- 


««)  Salzmann  Taf.  37. 

Riegl ,  Stilfragen. 


11 


H\'2 


B.    Das  PHauzenornanient  in  der  ü-riechisclien  Kunst. 


chischen  PalmettenfächtT:  auch  die  vier  dadiircli  entstandenen  Zwickel 
erscheinen  entsprechend  ausgefüllt.  Das  auf  solche  "Weise  zu  Stande 
gekommene  Gebilde  lässt  sicli  ebenso  wenig  wie  Fig.  70  als  unmittel- 
bare Koi»ie  eines  orientalischen  A'orbildcs  erklären,  wenngleich  im  letzten 
Grunde  die  orientalische  Volutenblüthc  iiiclit   zu  verkennen  ist:  die  Be- 


l-ig.  72. 
lUioUischcr  Teller  mit  gem.altiM'  Vcrzicnui:,'. 


liandluiig    ist   elxoi   eine   vow   der  orientalischen   griindlieli   xci-seliiedene. 
myk<'nische.  oder,  wenn  man  will,  griechische. 

Eine  weit  strengere  Anlehnung  an  die  cirientalischen  \'(irliil(ler 
zeigen  hingegen  in  der  K'egel  die  PliithenniMtive  der  rliodischen  \'asen, 
sobald  diesell)«-n  ver\  iellii  It  igt  neben  einander  gereiht  oder  unter  ein- 
ander in  Verbindung  gesetzt  erscheinen.  Mg.  7*2  giebt  einen  Teller 
ans   Kaniciros*'-*)    wieiler.      X.-unentlicIi    ilii'    liHtn^hliitJien-Knosiien-K'eilie 

'•'')  .SalzniMiiii  Tat.  .'»4. 


4.    Rhodisches. 


163 


des  Raudes  erinnert  unmittelbar  an  egyiJtiscbe  Vorbilder.  Freilieli  wenn 
man  näher  zusieht,  gewahrt  man  Dinge,  die  an  einem  echten  egyptischen 
Beispiel  undenkbar  sind.  Die  Silhouette  der  Lotusblüthen  ist  hier  schon 
weit  flüssiger  und  eleganter,  die  Füllung  zwischen  den  zwei  ausladenden 
Kelchblättern  ist  nicht  durch  Spitzblätter,  sondern  durch  Palmetten- 
fächer  hergestellt  (vgl.  hiefür  Fig.  71).  Vollends  wenn  wir  die  Mitte 
des  Tellers  in  Betracht  ziehen,  wo  mit  den  Knospen  blosse  Palmetten- 
fächer  ohne  die  in  der  egyptischen  Kunst  damit  unzertrennlich  ver- 
bundenen Volutenkelche  alterniren,  erscheint  die  nichtegyptische  Her- 
kunft des  Tellers  ausser  allen  Zweifel  gesetzt.  Immerhin  al)er  ist  zu 
betonen,  dass  eine  solche  strenge  Reihung  von  Lotus-Blüthen-  und 
Knospen  nach  dem  egyptischen  Grundschema  in  der  ganzen  mykeni- 
schen  Kunst  niclit  nacha'ewiesen  ist. 


Fi«.  73. 
Bogenfries  mit  Lotusblüthen  und   Knospen  von  einer  •rhodi.scUen   ^'ase. 


Die  einfache  Reihung  der  Lotusmotive,  Avofür  eben  ein  Beispiel 
gegeben  wurde,  scheint  gleichwohl  selten  in  der  rhodischen  Kunst  ge- 
wesen zu  sein.  Das  geradezu  Tyi)isclie  ist  dagegen,  der  Bogenfries 
mit  Lotusblüthen  und  Knospen.  Fig.  73  giebt  hievon  ein  Beispiel, 
dass  bezeiclmendermaassen  von  derselben  Oenochoe  entnommen  ist, 
auf  welcher  sich  die  mykenisirende  Palmette  Fig.  71  vorfindet.  Hier  ist 
sogar  der  Kelch  der  Lotusblüthen  aus  Spitzblättern  gebildet,  also  nach 
ägyptischer  Weise,  entgegen  der  unegyi)tischen  Verquickung  mit  dem 
Palmettenfächer,  die  wir  in  Fig.  72  kennen  gelernt  haben.  Allzuviel 
Gewicht  wird  man  auf  eine  solche  ausnahmsweise  engere  Anlehnung 
an  orientalische  Vorbilder  freilich  nicht  legen  dürfen,  wie  insbesondere 
die  Betrachtung  der  Oenochoe  bei  Salzmann  Taf.  44  nahelegt,  wo  unten 
der  Fries  von  Fig.  73,  an  der  Schulter  dagegen  ein  Bogenfries  mit  den 
Motiven  von  Fig.  7-2  sich   vereinigt  findet.     Gleichwohl   ist  das  Schema 

11* 


1(34:  B-    I-*'^s  Pfiaiizcnoniament  in  der  gTiechischen  Kunst. 

des  Lotusblüthen-Knospen-Bogenfrieses  ebenfalls  in  der  niykenisehen 
Kunst  nicht  nachzuweisen,  und  erweist  sich  somit  in  gleichem  Maasse 
wie  die  Lotus-Blüthen-Knospen-Reilien  als  eine  nachmykenische  Anleihe 
aus  dem  egyptisch-orientalischen  Kunstfonds. 

Obzwar  es  für  unsere  Aufgabe  ziemlich  gleichgiltig  ist,  ob  der 
zuletzt  geschilderte  Lotus-Bogenfries  unmittelbar  aus  egyptischer  Quelle 
oder  aber  aus  einer  abgeleiteten  übernommen  worden  ist,  will  ich  doch 
der  häufig  begegnenden  Behauptung,  dass  wir  es  da  mit  einem  specifisch 
assyrischen  Motiv  zu  thun  haben,  nicht  ganz  aus  dem  Wege  gehen. 
Was  an  dem  Bogenfries  Fig.  73  für  assyrische  Herkunft  spricht,  sind 
insbesondere  die  Ileftel  oder  Klammern,  mittels  welcher  die  Blütlien''^) 
an  den  Bogenlinien  befestigt  erscheinen  (vgl.  Fig.  28),  in  zweiter  Linie 
das  Hinwegfallen  aller  jener  kleinen  füllenden  Rosetten,  Knöspchen  u.s.w., 
mit  denen  die  Zwischenräume  an  den  egyptischen  Bogenfriesen'")  über- 
laden sind.  Diese  Eigenthümlichkeiten  halte  ich  aber  noch  nicht  für 
genügend,  um  ihr  Vorkommen  auf  rhodischen  Vasen  aus  assyrischer 
Quelle  erklären  zu  müssen.  Die  assyrische  Kunst  ist,  Avie  wir  gesehen 
haben,  in  allem  Wesentlichen  eine  abgeleitete,  die  Blüthe,  die  wir  von 
ihr  kennen,  eine  verhältnissmässig  späte  und  die  mykenische  in  der 
Entwicklung  der  Ornamentik  nicht  erreichende.  Die  strenger  egypti- 
sirenden  Bogenfriese,  die  allein  für  die  in  Rede  stehenden  rhodischen 
vorbildlich  gewesen  sein  können,  finden  sich  erst  in  der  Zeit  der  Sar- 
goniden  (vgl.  S.  93),  sind  also  kaum  nenncnswerth  älter  als  die  rhodischen 
Beispiele'-). 

Auch  das  Auftreten  des  Flechtbamles,  jenes  in  der  mesopotamisclien 
Kunst  so  weit  verbreiteten  (S,  89),  in  der  egyptischen  dagegen  vernach- 

'^)  An  der  Oenochoe,  Salzniann  Taf.  44,  auch  die  KnosixMi. 

"')  Fig'.  22,  wo  aber  die  bei  Prissc  vollständig*  abgebildeten  Füllst!  der 
Deutlichkeit  des  Grundschemas  zuliebe  hiuAveg-  gelassen  sind. 

")  Der  Einfluss  der  assyrischen  Kunst  auf  die  Entfaltung  der  ürii-cliisclHii 
wird  erst  noch  näher  umgrenzt  werden  müssen;  soviel  darf  aber  liente  schon 
g'esagt  werden,  dass  derselbe  g-rös.stt^ntheils  Aveit  über  Gebühr  überschätzt 
worden  ist;  so  auch  von  Hohvcrda  im  Arch.  Jahrb.  1890,  S.  2;37  fV.  Wenn  da- 
selbst u.  A.  zum  Beweise  die  pränestinische  Ciste  Mon.  ined.  Mll.  2G  citirt  er- 
scheint, so  ist  dagegen  zu  sag'en,  dass  die  Lotusblüthen  an  diesem  Beispielen 
steif  eg'vptisirend,  die  Palmctten  gräcisirend,  keineswegs  aber  assyrisch  ge- 
bildet siml.  In  der  Zeit  d(T  Sargoniden  war  das  Kunstsehafl'en  auf  naclnnals 
hellenischem  Boden  übrigens  bereits  soweit  erstarkt  und  vorgesriiritten.  dass 
seinen  Trägern  und  Ptlegern  das  gk-ichzcitige  assyrische  KunstschalVen  kaum 
.Honderlich  iraponirt  haben  dürtte. 


4-   Rhodisches.  165 

lässigten  Motivs,  in  der  rhodisclien  Kunst  könnte  man  für  ein  Zeug- 
niss  assyrischen  Einflusses  nehmen.  Die  mykenische  Kunst  hat  aber 
das  Flechtband  anscheinend  bereits  gekannt  (S.  140),  zu  einer  Zeit,  aus 
welcher  uns  assyrische  Denkmäler  mit  Flechtbändern  mindestens  nicht 
erhalten  geblieben  sind.  Und  was  das  rhodische  Flechtband  streng 
vom  assyrischen  unterscheidet,  ist  die  an  jenem  in  der  Regel  beob- 
achtete Zwickelfüllung  in  den  Aussen  winkeln.  Am  Euphorbosteller 
ist  dieselbe  einfach  giebelförmig"),  an  zwei  Berliner  Vasen ^*)  kreis- 
bis  tropfenförmig,  au  den  Sarkophagen  aus  Klazomenä")  durch  Pal- 
mettenfächer bestritten.  Diese  fanatische  Zwickelfülluug,  die  wir  schon 
an  den  melischen  Vasen  beobachtet  haben,  ist  aber  der  assyrischen 
Kunst  durchaus  fremd.  Dagegen  findet  sich  tropfenförmige  Zwickel- 
füllung in  den  Aussenzwickeln  eines  Bogenfrieses  schon  auf  mykenischem 
Kunstgebiet,  vgl.  Myken.  Vasen  XIX.  1.86. 

Nach  dieser  Abschweifung  kehren  wir  zu  den  Blüthenmotiven  der 
rhodischen  Vasen  und  ihren  Verbindungsweisen  zurück.  Die  Spirale, 
die  als  verbindendes  oder,  infolge  der  ihr  eigenthünilichen  Zwickelbil- 
dung, provocirendes  Motiv  für  Blüthenformen  noch  in  der  melischen 
Kunst  eine  so  grosse  Rolle  gespielt  hat,  tritt  in  der  rhodischen 
Kunst  zurück.  Darin  spiegelt  sich  der  weitere  Verlauf  der  griechischen 
Pflanzenornamentik  wieder:  in  ihrer  selbständigen  Existenz  ist  die 
Spirale  späterhin  auf  den  laufenden  Hund  beschränkt  Avorden.  Wo  sie 
den  Blumen  als  Kelch  dient,  hält  sie  sich  länger,  aber  die  Blumen 
werden  immer  mehr  das  Maassgebende,  an  Bedeutung  Ueberwiegende. 
Mit  anderen  Worten:  die  Spirale  verliert  zusehends  ihre  geome- 
trische Bedeutung  und  Avird  zur  vegetabilischen  Ranke. 
Dieser  Process,  in  der  mykenischen  Kunst  angebahnt,  erscheint  in  der 
rhodischen  zu  weiterem  Fortschritte  gebracht,  und  darin  ruht  die 
hauptsächliche  Bedeutung  der  rhodischen  Klasse  für  die  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Pflanzenornaments. 


")  Salzmann  Kameiros  53.  Die  Schliessung-  eines  Zwickels  durch  einen 
zweischenklig-en  Giebel  ist  offenbar  die  einfachste  Lösung"  des  Postulats  der 
Zwickelfüllung--,  es  ist  daher  nicht  nothwendig-  die  Spitzblätter  des  Lotus  als 
hiefür  vorbildUch  zu  Hilfe  zu  nehmen.  Am  Schild  des  Menelaus  auf  dem- 
selben Teller  sind  zwar  die  Zwickel  zwischen  den  Doppelvoluten  mit  je  drei 
Giebeln  gefüllt,  hier  ist  aber  in  der  That  ein  spitzblättriges  Lotusprofil  gemeint, 
nach  Analogie  von  Fig.  55,  56. 

'^)  Arch.  Jahrb.  1886,  S.  139,  140. 

^^)  Ant.  Denkm.  I.  45. 


166 


R.    Das  Prianzenovnamcnt  in  der  .üTiocliischeu  Kiin>r. 


Xai-li  dem  dien  Gesajiten  stein  zu  <'i-\varteu.  dass  die  rluidiselie 
Dekorationskunst  von  dem  speciüsch  jiTieelnsclien  Motiv  der  Wellen- 
ranke  bereits  umfassenderen  Gehrauch  p-emaelit  hat.  In  der  That  lassen 
sich  mehrfache  Beispit'lf  ilafür  naelnveisen. 

Von  fortlaufenden  Wellenranken  sind  mir  drei  Beispiele  aus 
rhodisch-klazomenischem  Gebiet  bekannt  geworden.  Das  erste  findet 
sich  au  einem  Terracotta-Zieg-el  aus  Kameiros,  Fig-.  74  "';i,  und  ist  merk- 
Avürdig-erweise  eckig  gebrochen.  Auf  den  ersten  Blick  ^v;ihnt  man  einen 
Mäander   zu   sehen,    aber  während    dieser  letztere   in    seiner   tyiMsehen 


.Scherbe  von  einem  iliodisclK-n  Teller. 


Form  stets  einseitig  (egyptisch)  ist,  laufen  die  liKiinbenartigeii  Ein- 
rollungen in  Fig.  74  bald  von  unten  nach  dheii  niid  hald  umgekehrt, 
wie  es  eben  das  Charaktcristiciini  ({*■]■  forilnnfendeii  Wellenranke 
(Vig.  öO)  bildet.  Den  raid<eiiarligen  ( 'liaraklei-  ^•el•V(lllställdigell  /.nni 
t''e>)erflnsse  die  kleinen  Kinrollungen,  die  sieli  miieii  an  die  grrissereii 
zweigartig  anseldiessen.  I'^m  diese  ganz  \(  reinzelte  eckige  Bildung  zu 
erklären,  wiivl  man  geneigt  sein,  (h-n  l'jnllnss  des  geonietrisehen  Stils 
heranzuzielien,  <\fy  die  Trans]»onirung  des  urs])rünglicli  ans  der  Kreis- 
fnrin  eonstniirten  M(jtivs  in's  Eckige  verui'sacht  haben  niMcJite. 

Halion  wir  es  in  Fig.  74  mit  einer  bloss(Mi  Kanke  ohne  alle  weitere 
]>flanzlielie  Ziitliat  ZM  tlinn.   so  tritt   uns  auf  der  \'ase,  Fig.  75,  (Salziuami 

''■)  Salziiiaiin  Taf.  2!». 


4.    Ithodischej 


167 


46)  eine  in  vollendetem  Kreissohwungx*  gehaltene  AVellenranke  entgegen, 
deren  Zwickel  mit  Palmettentacheni  gefüllt  sind.  Diese  augenschein- 
lich einem  vorgeschritteneren  Stadium  der  Entwicklung  angehörende 
Amphora  ist  übrigens  aus  mehrfachen  Gründen  merkwürdig,   und  darf 


Fig.  75. 
Rliodische  Amphora. 


auf  eine  Sonderstellung  ausserhalb  der  Reihe  Anspruch  erheben.  Vor 
Allem  scheint  eine  Rechtfertigung  dafür  geboten,  warum  wir  das  Spiralen- 
motiv auf  dem  Bauche  dieser  Amphora  eine  Wellenranke  genannt  haben. 
AVir  sehen  nämlich  in  der  Mitte  zwei  Spirallinien  zusammenstossen,  die 


I6g  B.    Das  Ptianzcnoniameiit  in  der  griechischen  Kunst. 

uiclit  nach  Raukenart  in  einantU-r  übergehen,  sondern  bloss  äusscrlich, 
durch  eine  Klammer,  mit  einander  verbunden  sind.  Wenn  wir  aber  die 
beiden  Spirallinien  rechts  und  links  weiter  nach  rückwärts  verfolg'en, 
bemerken  Avir  beiderseits  nach  oben  abzweigende  Einrollungeu,  wie  sie 
eben  dem  Schema  der  fortlaufenden  AA'ellenranke  entsi)rechen.  Wir 
haben  es  da  also  nicht  mehr  mit  iieometrischen  Spiralen,  sondern  mit 
Kanken  zu  thun.  Dieselben  ersclicincn  zwar  gegenüber  den  zwickcl- 
füllenden  Palmettenfächern  noch  sehr  vorschlagend  in  der  Gesammt- 
dekoration,  aber  auch  die,  bloss  nach  einer  Seite  (oben)  eingezeichneten 
Fächer")  sind  gi'össer  gehalten,  als  es  bei  bloss  accidentellen  Füllseln 
in  der  Regel  der  Fall  zu  sein  pflegt. 

Lassen  Avir  alier  einen  ^loment  das  Detail  aus  dem  Auge  und  be- 
trachten Avir  die  Gesammtdekoration,  so  Averden  Avir  uns  erst  be- 
Avusst,  dass  Avir  es  <la  nicht  mit  der  Ulrichen  Strcifonnmstcrung  der 
rhodischen  Vasen,  dem  Erlttiieil  des  geometrischen  Stils,  zu  tiiun  lialicii. 
sondern  mit  einem  einzelnen,  grossartig  hingeAvorfemn  .Muster, 
das  für  sich  genügt,  den  Bauch  der  Vase  in  gefälliger  Weise  zu 
schmücken.  Die  mykenische  Kunst  Avar  es ,  die  einen  solchen  gross- 
artigen Zug  in  der  Dekoration  entfaltet  hat  (S.  147):  sollen  Avir  nicht 
auf  eine  latente  NacliAA'irkung  A'on  dieser  Seite  auch  den  Anstoss  zu 
der  Bildung  A'on  Fig.  75  zurückführen  V  Nicht  anders  ist  das  Schulter- 
muster dieser  Amphora  zu  erklären.  Wir  sehen  da  gereihte  Blättclien 
A'on  epheuähnlicher  Form ,  etAvas  schräg  projicirt  und  mit  anmuthig 
geschlängelten  Stengeln  versehen:  worin  sich  gleichfalls  jene  Neigung 
zur  lebendigeren  Bewegung  der  pflanzlichen  IMotivc  kundgiebt,  Avie  sie 
(S.  118j  die  mykenische  Kunst  gegenüber  den  altorientalischen  Künsten 
so  vortheilhaft  auszeichnet.  AVir  könnten  somit  das  Gefäss  —  abgesehen 
von  seiner  Form  --  niykeiiiseii  nennen,  weini  nicht  der  llakenkreuz- 
Äläander  am  Halse  Aväre,  d<ii  <lii'  niA'kenische  Kunst  nicht  kennt,  und 
der  somit  doch  am  allerAvahrstlieinlichsten  aus  Egypten  herübergenom- 
men sein  Avird.  Werden  AAir  uns  schliesslich  noch  der  „rhodischen" 
Stilisirung  der  füllenden  Palmettenfächer  bcAvusst,  so  Averden  AAir  nicht 
mehr  überrascht  sein,  das  übrigens  nicht  A-ertMiizclt  (histohcnde  Gefäss") 
znsannnen  mit  den  übrigen  „liiodiscjicn'  'riMin\\,i;iiin  in  K.inieiros  ge- 
f'un<li'n  zn  halx'ii.  Es  ist  rltcn  in  der  ii.iiiiit>.i('hc  niykcniscii.  mit 
orientalisclM'n  Einflüssen,  die  anl'  ..i'li(tdi>clien"  S.iclien  nicht   unge\\(ilin- 


^')  Unten  sind  die  ZAvickeirüllniij;<'H  hiess  dislact  aiiucdentct. 
'*)  Näclist.stchend   die  Ani|iliora  Ix'i  Salzinann   Tat'.  17. 


4.    Rhodisches. 


169. 


lieh  sind,  aber  ohne  Einfluss  des  Dipylon.  Wenn  man  vom  Mangel 
einer  fig-ürlichen  Darstellung"  absieht,  so  repräsentirt  Fig-.  75  das  an- 
schaulichste Zwischenglied  zwischen  mykenischer  und  hellenischer  Kunst. 
Das  vollkommenste  Beispiel  einer  fortlaufenden  Wellenranke  auf 
rhodischem  Stilgebiete  findet  sich  an  dem  einen  Berliner  Sarkophag"  aus 
Klazomenä ")  (Fig.  76).  Die  Blumenmotive  sind  hier  nicht  mehr 
Zwickelfüllungen,  sondern  vollendete  Halbpalmetten.  Es  wäre  dies  ein 
plötzlicher  Sprung  mitten  in  die  reinste  griechische  Ornamentik,  Avenn 
Avir  nicht  ein  melisches  Zwischenglied  (S.  158)  kennen  gelernt  hätten, 
das  uns  auf  geradem  Wege  auf  das  mykenische  Ursprungsgebiet  zu- 
rückführt. Der  zwischen  den  ündulirungen  der  Wellenlinie  und  den 
spiraligen  Einrollungen  ihrer  Abzweigungen  jeweilig  freibleibende  Kaum 
ist  vollständig  mit  einem  halben  Palmettenfächer  gefüllt,    dieser  Pal- 


TO  üi  iggS^'Lii  i!j  itfSEiTffiinJi^BSumj 


Fig.  TG. 

Gemalte  A'erzierung  vou  einem  klazomeuischen 

TIioDsarkophag. 


Fig.  77. 

■\'on  einem  lilazomenischen 

Sarkophag. 


mettenfächcr  wächst  aber  nicht  aus  dem  inneren  Zwickel  heraus,  sondern 
verläuft  concentrisch  zum  Spiralenkelch,  analog  dem  my kenischen  Vor- 
bilde Fig.  64.  Dass  dies  nicht  bloss  uns  so  erscheint,  sondern  auch 
bereits  den  Verfertigern  dieses  klazomenischen  Sarkophags  das  Motiv 
der  Halbpalmette  vorgeschwebt  hat,  beweist  das  Ornament  in  Fig.  77, 
das  sich  auf  demselben  Sarkophag  vorfindet.  Es  ist  dies  zweifellos  ein 
Ausschnitt  aus  einem  Lotus-Palmettenband  (Fig.  79):  in  der  Mitte  wächst 
der  Lotus  empor,  rechts  und  links  davon  ist  je  eine  halbe  Palmette  sicht- 
bar, die  genau  dieselbe  Form  hat  wie  die  Halbpalmetten  in  Fig.  76^°). 


'«)  Ant.  Denkm.  I.  46. 

*")  Hier  muss  auch  auf  das  im  Grundschema  mit  Fig.  77  verwandte, 
aber  durch  seine  vorgeschrittene  Bildung-  fast  verblüftende  Motiv  (birnförmige 
spiralenbekrönte  Lotusblüthe  zwischen  zwei  blattartigen  Halbpalmetten) 
zwischen  den  zwei  Sphingen  unterhalb  des  Kopfstücks  des  Klazomenischen 
Sarkophags.  Mon.  ined.  XI,  53,  hingewiesen  werden.  Eine  Halbpalmette,  die 
einen  selbständigen  liegenden  Zweig  krönt,  und  deren  Seltsamkeit  auch  Furt- 
Avängler  aufgefallen  ist,  findet  sich  auf  einer  Berliner  Kanne,  abgeb.  im  Arch. 
Jahrb.  1886,  S.  139. 


\~Q  B.    Das  Ptlanzenoniament  in  der  g-riechischcn  Kunst. 

Das  Schema  der  interniittirt-ndcii  "Wclleuran  ke  ist  in  so 
typischen  Beispielen  wie  in  Mykcnä  und  Melos  in  der  rhiMÜsi-licn  Kunst 
bisher  nicht  nachgewiesen.  Immerhin  lässt  sich  wenigstens  ein  Beispiel 
anführen,  an  welchem  der  charakteristische  Verhiuf  des  genannten 
Schemas  latent  zu  Grunde  liegt.  Fig.  78*')  zeigt  einen  Theil  des 
Innenmusters  von  einem  Teller,  wo  vier  umschriebene  Balmetten  in's 
Kreuz  gestellt  und  in  deren  äussere  Zwickel  vier  Palmettcnfäclier  zur 
Fülhtng  eingesetzt  sind.  Die  unisehriel)eneu  i'.ilmetten  weisen  nach 
Innen,  die  füllenden  Fächer  nach  Aussen,  so  wie  die  Lotuslilüthen  auf 
der  melischen  Vase  Fig.  53:  die  wellenförmig  dahinfliessenden  Stengel 


Fig.  78. 
Thfil  eines  bemalten  rhodischcn  Tellers. 

sind  liier  allerdings  unterdrüekl   und  dies  liinderl   uns  auch,   das  inter- 
niittirende  Schema  völlig  klar  zu  erkennen. 

Fig.  78  giebt  mir  \"i'ranlassung.  noch  eine  bisher  unbeachtet  ge- 
blietxme  Seite  des  rliodiselien  l'Hanzenornaments  zur  Si)rache  zu  liringen. 
Ich  habe  vorhin  von  nmfichriehenen  PaJmelten  gesiiroclien,  deri'H  kri'uzweisc 
Zusammensetzung  dem  Cluster  von  Fig.  78  zu  (ii-unde  liegen  si.ll.  Die 
timschriebene  Palmette  als  Kunstausdruck  ist  nämlich  in  dieser  Darstellung 
etwas  Neues.  Nicht  aber  der  Sache  nach*"^).  \\'ir  iiälten  bei  der  Be- 
schreibung von  Fig.  78  ebenso  gut  sagen  kidinen.  das  Muster  wäre  aus 
eini'in  im  Kreise  verLiurrudcn  l'^gcnlVicse   mit   nach  auswiirts  gekelirt<'n 

■*')  Nach  Salzmaim  Taf.  02. 

'■')  Die  .,|>höiükisclK'.''  Palnictte  (S.  lOö),  an  welclior  die  uinschreihonde 
Linie,  ficn  Kelch  darstellt,  liat  aber  «laniit  niehts  zu  thun. 


4.    Rhodisches.  171 

Palmetten  gebildet,  in  deren  Volutenzwickel  bei  ihrem  seitlichen  An- 
einanderstossen  kelchtüllende  Palmettenfächer,  mit  der  Richtung  nach 
einAvärts ,  eingesetzt  Avurden.  Der  geschwungene  Kontur  des  einen 
Motivs  bildet  eben  zugleich  denjenigen  des  benachbarten,  wie  es  auch 
den  reciproken  Ornamenten  eigen  ist.  Das  Motiv  der  umschriebeiien 
Palmette  hat  seine  nächste  Vorstufe  an  dem  Ornamentband  auf  der 
melischen  Vase  Fig.  66,  das  um  den  Bauch  unmittelbar  über  dem 
Fusse  herumläuft  (und  am  Schilde  des  rhodischen  Euphorbostellers). 
In  letzterem  Falle  sind  die  Doppelspiralen  noch  die  Hauptsache,  die 
Blüthen  blosse  Füllungen,  in  Fig.  78  bereits  umgekehrt.  Auf  die  gleiche 
Wurzel  geht  offenbar  die  Verschränkung  der  Palmette  mit  dem  alter- 
nirenden  Lotusblüthen-Profll,  Fig.  79 s^),  zurück,  von  einem  klazome- 
nischen  Sarkophag*^*).  Es  ist  zweifellos  ein  und  dieselbe  künstlerische 
Tendenz,  die  allen  diesen  Versuchen  zu  Grunde  liegt. 


^Ag^ic^Xg^AasAg): 


Fig.  79. 
Von  einem  klazomenischen  Sarkophag. 

Die  umschriebene  Palmette  hat  in  der  späteren  Ornamentik  (bis 
in  romanische  Zeit)  eine  überaus  häufige  Verwendung  gefunden.  Es 
wäre  daher  wichtig,  den  Moment  und  die  Umstände  zu  fixiren,  unter 
denen  sie  zuerst  aufgetreten '  ist.  Allem  Anscheine  nach  ist  dies  jedoch 
schon  vor  der  Zeit  geschehen,  in  welcher  die  klazomenischen  Sarkophage 
entstanden  sind.  Auf  dem  Sarkophage,  Ant.  Denk.  I.  44,  ist  das  Eier- 
stabkyma  nämlich  bereits  völlig  typisch  ausgeprägt,  der  vegetabilische 
Lotus-Knospen-Reihen-Charakter  daran  vollständig  verAvischt.  Soll  dies 
in  der  That  schon  in  mykenischer  Zeit  geschehen  sein,  Avie  Goodyear 
Taf.  55  No.  7  unter  HiuAveis  auf  My kenische  Vasen  S.  49  Fig.  28  anzu- 
nehmen geneigt  ist?  Jedenfalls  sehen  Avdr  dann  den  Process  in  der 
rhodischen  Kunst  mit  den  neu  zugcAvanderten  orientalischen  Lotus- 
Palmettenbändern  auf's  Neue  sich  vollziehen.  Dass  darin  ebenfalls  ein 
Keim  der  nachfolgenden  Entwicklung  in  der  korinthisch-attischen  Kunst 
liegt,  hat  schon  Hohverda^^)  bemerkt.     Auch  dieser  Umstand  erscheint 


83)  Vgl.  Fig-.  77,  die  hienach,  Avie  schon  betont  Aviirde,  nichts  anderes  ist 
als  ein  Ausschnitt  aus  Fig.  79. 
ä*)  Monum.  ined.  XI.  54. 
8S)  Arch.  Jahrb.  1890,  263. 


\~2  B.    Das  Pflanzenornanient  in  der  griechiscben  Kunst. 

somit  geeignet,  die  Bedeutung  der  rhodischen  Kunst  für  die  Fortbildung 
des  griechischen .  Pflanzenornaments  zu  erhöhen.  Centrale  Zusammen- 
setzungen von  vegetal)ilischen  Motiven,  ähnlich  wie  in  Fig.  78,  begegnen 
uns  schon  in  den  altorientalischen  Künsten,  z.  B.  in  der  assyrischen 
Fig.  34:);  der  bekannte  aus  je  vier  Lotuskuospen  und  Palmettentachern 
zusammengesetzte  Stern,  der  sich  auch  in  Kameiros^*^)  gefunden  hat, 
hängt  noch  eng  mit  jenen  altorientalischen  Bildungen  zusammen. 
Aber  die  richtige  Grundlage  für  die  Verschiebung  und  Yerschränkung 
der  alternirenden  Lotusblüthen  und  Palmetten  Avar  erst  dann  gegeben, 
sobald  man  sich  daran  gewöhnt  hatte,  die  Spirale  völlig  frei 
zur  Kelehbildung  zu  gebraucheu,  und  die  Blunienmotive  sich 
von  blossen  Füllungen  zu  selbständigen  Ornamenten  eman- 
cipirt  hatten.  Diese  Stufe  der  Entwicklung  hat  aber,  soviel  Avir  heute 
sehen  können,  zuerst  die  „rhodische"  Kunst  erreicht^'). 

5.    Altböotisches.     Frühattisches. 

Mit  der  Betrachtung  der  melischen  und  rhodischen  Vasen  haben 
wir  die  Entwicklungsgeschichte  des  Pflanzeuornaments  über  die  my- 
kenische  Stufe  hinaus  weiter  verfolgt  und  insbesondere  an  den  Blüthen- 
motiven  des  rhodischen  Stils  und  ihren  ^'erbindungsweisen  deutlicli  die 
Ausgangsi)unkte  für  die  naclifolgende,  unbestritten  griechische  Entwick- 
lung erkannt.  Es  ist  nun  an  der  Zeit,  in  der  Abwicklung  der  Fort- 
Itildungsgeschichtc  eine  AVeile  iune/uhalten  und  einige  andere  Denk- 
mälergruppen zu  Worte  kommen  zu  lassen,  die  zwar  keine  wesentliche 
oder  gar  führende  Rolle  in  der  Entwicklung  des  griechischen  Pflanzen- 
ornaments gespielt  haben,  aber  durch  gewisse  Eigenthümlichkeiten  uns 
in  Stand  setzen,  den  zurückgelegten  Process  noch  besser  zu  verstellen 
und  uns  von  der  Stichhaltigkeit  der  aufgestellten  Entw  ickluiiusi-eilie 
noch  mehr  zu  überzeugen. 

Dies  gilt  insbesondere  Aon  den  hnoiisclien  Vasen,  die  •U<\\.  H<ilil.in 

*8)  Salzniann  Taf.  2. 

"')  Als  Versuch,  und  gewiss  nur  einer  unter  vielen  minder  gelungenen 
Versuchen,  ist  die  Sclialc  aus  Kanieiros  auf  Taf.  33  bei  Salzniann  lehrreich. 
Mit  den  Spiralen  sind  hier  ganz  zweckentsprechend  die  Volutcnkelche  für 
ebensovielc  Palinetten  gebildet.  Die  Ausfüllung  der  ZAvischenräunic  ist  dem 
Maler  aber  nicht  mehr  gelungen:  zwei  Lotusblüthen  war  er  im  Stande  anzu- 
bringen, mit  dem  dritten  Zwischenraum  ist  er  aber  dermaassen  in  die  Enge 
gerathcn,  dass  er  sich  mit  der  Einfügung  einer  Knosi»e  begnügen  musste. 
Dem  gegenüber  ist  die  Lösung  in  Fig.  78  eine  klassische  zu  nennen. 


5.   Altböotisclies.    Frühattisches. 


173 


im  Arch.  Jahrb.  1888  S.  325  ff.  beschrieben  hat;  ja  es  wird  sich  zeigen, 
class  wenigstens  an  einem  Beispiele  dieser  Vasenklasse  sicli  sogar  ein 
weiterer  höchst  bedeutsamer  Schritt  nach  Vorwärts  feststellen  lässt. 
Der  Eindruck  den  der  Bearbeiter  von  diesen  Vasen  anscheinend  be- 
kommen hat,  der  Eindruck  einer  in  lokaler  Isolirtheit  befangenen 
Kunstübung,  mag  vielleicht  richtig  sein.  Dies  schliesst  aber  nicht  aus, 
dass  neben  der  von  Böhlau  in  den  Vordergrund  gestellten  geometrischen 
Dekoration  auch  eine  nicht  zu  unterschätzende  pflanzliche  sieh  vorfindet, 


i'ig.  bO. 
Altböotische  Schale. 


deren  ,. lebendigen  vegetabilischen"  Charakter  übrigens  auch  Böhlau^^) 
wenigstens  in  Bezug  auf  die  Palmette  anerkannt  hat.  Das  Lotus- 
Blüthen-  und  Knospen-Band  bei  Böhlau ,  Fig.  14  S.  338,  das  derselbe 
schwer  verständlicher  Weise  mit  einem  Wellenband  nach  mykenischer 
Art  verwechselt  hat,  will  ich  nur  beiläufig  erwähnen,  ebenso  die  selb- 
ständigen, nach  mykenischer  Weise  an  geschweiften  Stengeln  sitzenden 
Blumen:  Lotusprotile  mit  drei  Spitzblättern  und  bereits  ganz  griechisch 
gebildete  Palmetten®").     Das  Wichtigste  für  unsere  Untersuchung  ist  das 


^8)  A.  a.  0.  359. 
^9)  A.  a.  0.  Fig-.  10. 


174 


B.    Das  Pflanzouornament  in  der  $>Tieehiscbeii  Kunst. 


Vorkommen   der  fortlaufenden   Wcl  1  mrankf  in  nicht  weniger  als 
drei  Fällen. 

Der  Rand  der  Sehale  Fig.  80  gielit  eines  davon  wieder-'^'L  Die 
Wellenranke  rollt  leielit  und  sicher  um  den  Rand  herum,  in  die  Z^\  iekel 
sind  nacli  egyptiseher  Art  (also  noch  nicht  nach  Art  der  klazonu:'nisclu'n 
Halbpalmetten')  Zwickelblumen  eingesetzt,  die  im  Effekt  den  Spiral- 
wiudungen  mit  ^lühe  die  Waage  halten.  Dass  wenigstens  die  in  Halb- 
kreis geschlossenen  unter  diesen  ZAvickelblumen  noch  im  Stile  der  Pal- 
metten des  Furtwängler-Löschcke'schen  mykenischen  Yasenstils  ge- 
halten sind,  hat  Böhlau  ebenso  wie  den  Zusammenhang  mit  der 
Scherbe  aus  Thera  Fig.  50  anerkannt:  icli  nuH'lite  dazu  aucii  die 
Zwiekellilunien  mit   ]iunktirter  Periplierie  reclnien. 


Figr.  81. 
Altböotisclie  Schale. 


Das  zweite  Beispiel  einer  fortlaufenden  AVellenranke  giebt  Bühlau 
a.  a.  0.  auf  S.  335,  Fig.  7.  Die  Zwickelfüllungen  sind  Iner  tropfenförmig, 
älndieh  Avie  auf  der  m>kenischeii  Unistphilte  Fig.  (10,  mid  treten  d.ilier 
gegenüber  den  Si)iraleinrollungen  noch  mehr  in  drn  Hintergrund  als 
an  Fig.  80.  B<-merkenswerth  ist  Idoss  die  Khunnier,  mittels  Avelcher 
.jede  SpiralaT)Zweigung  am  Ansätze  mit  <ler  toitl.-mt'eiideii  Wellenlinie 
verbunden  ersclieint. 

Unmitte]l)ar  unter  1- ig.  7  li.ii  Hr.hlau  in  Fig.  S  (unsere  Fig.  81)  das 
dritte  Beispiel  einer  forthiufenden  Welleiiraid<<'  abgebildet,  das  er  selbst 
nicht  als  solches  erkannt  hat.  Man  fasse  aber  den  Zweig  in  der  linken 
Hälfte  des  Mittelstreifens  in's  Auge.     Der  Stengel  steigt    vom    l'.nden  an 


^)  Nach  Fig.  5,  a.  a.  (>.  S.  M:}.S. 


5.    Altböotisches.     Frühattisches.  175 

den  oberen  Rand,  biegt  dort  um  und  spaltet  sich  in  zwei  durch  eine 
Klammer  zusammen  gehaltene  Spiralen,  die  einem  Palmettenfächer  zum 
Kelch  dienen.  Die  nach  rechts  ausgreifende  Spirale  entsendet  aber 
wiederum  einen  Spiralschössling  nach  unten  und  bildet  mit  ihm  einen 
zweiten  Kelch  in  dem  allerdings  aus  Raummaugel  bloss  ein  füllender 
Dorn  Platz  finden  konnte.  Der  letztgenannte  Spiralschössling  endlich 
entsendet  einen  gleichen  noch  weiter  rechts  nach  oben  und  bildet  mit 
ihm  den  Kelch  für  eine  Palmette  gleich  der  zuerst  genannten.  Sehen 
wir  von  den  Füllungsblumen  ganz  ab,  so  erkennen  Avir  unschwer  das 
Schema  von  Fig.  80,  beziehungsweise  Fig.  50. 

Woran  liegt  es  nun,  dass  Böhlau  den  Sachverhalt  an  Fig.  81  nicht 
sofort  erkannt  hat?  Vielleicht  hat  ihn  auch  die  kurze  Zweigform  be- 
irrt, gewiss  aber  die  überwiegenden  Dimensionen  der  Palmettenfächer 
gegenüber  den  Spiralkelchen.  Während  diese  letztere  an  Fig.  80  und 
insbesondere  an  dem  zweiten  Böhlau'schen  Beispiele  klar  und  tonan- 
gebend um  die  Schale  herum  fliessen,  treten  sie  an  Fig.  81  gegenüber 
den  Zwickelpalmetten  zurück  —  mit  anderen"'-^Worten :  die  Palmetten 
Averden  zur  Hauptsache,  die  Spiralen  zur  blossen  acciden- 
t  e  1 1  e  n  R  a  n  k  e  n  V  e  r li  i n  d  u n g.  Darin  kündigt  sich  der  Weg  der  Zukunft 
an,  Avährend  das  Motiv  dei-  fortlaufenden  Wellenranke  an  sich  den  Zu- 
sammenhang mit  der  mykenischen  Vorstufe  herstellt. 

Aber  auch  noch  unter  einem  zweiten  Gesichtspunkt  ist  Fig.  81 
für  die  Entwicklung  des  griechischen  Pflanzen-Rankenornaments  be- 
deutungsvoll: es  ist  dies  das  erste  Mal,  dass  sich  die  Wellenranke  von 
der  geschlossenen  bordüreartigen  Streifenform  emancipirt  und  als  selb- 
ständiger ZAveig^')  frei  hingeworfen  erscheint.  Dies  ist  aber  das 
eigentliche  Ziel  der  griechischen  Rankenornamentik  gCAvesen:  die  freie 
Entfaltung  der  undulir enden  Linien  über  eine  beliebige, 
nicht  bloss  auf  einen  Längsstreifen  beschränkte  Fläche.  Unter 
diesem  Hinblick  ist  der,  wenngleich  nicht  eben  schön  gelungene  Wellen- 
rankenzweig  Fig.  81  historisch  weit  bedeutsamer,  als  die  auf  S.  167  f.  ge- 
würdigte Wellenranke  Fig.  75.  Diese  letztere  ergielit  sich  uns  jetzt  als 
die  formvollendete  Lösung  eines  schon  von  der  mykenischen  Kunst 
vorgebildeten    Motivs,    als   Abschluss  des  EntAvicklungsprocesses  eines 


^')  Rankenzweige  kennt,  wie  wir  gesehen  haben,  schon  die  mykenische 
Kunst  sowie  die  meisten  archaisch -griechischen  Stile  (aucli  der  in  Rede 
stehende  böotische).  Es  ist  der  Wellenrankenzweig,  der  hier  zum  ersten- 
male  auftritt;  allerdings  vermöchte  man  vielleicht  selbst  hiefür  ein  mykeni- 
sches  Vorbild  in  Fig.  49  erblicken. 


„fl"' 


176  B-    Das  PHaiizenornament  in  der  g-riechischen  Kunst. 

immerhin  noch  gebundenen,  weil  in  Streitenform  gebannten  Motivs  im 
Sinne  des  höchst  erreichbaren  Formal-Schönen.  Der  Eankenzweig  Fig.  81 
durchbricht  das  hergebrachte  Schema  und  Aveist  auf  neue  fruchtbare 
Wege:  Aver  Avürde  da  verhingen,  dass  die  Lösung  auf  den  ersten  Wurf 
gelang? 

EinschaltuugSAveise  will  ich  liier  —  dem  chronologischen  Eiit- 
Avicklungsgange  vorgreifend  —  eine  spätere  böotische  Vasenornamentik 
zum  Vergleiche  heranziehen,  weil  sie  vielleicht  zur  Erklärung  für  die 
nachgewiesene  öftere  Verwendung  der  fortlaufenden  Wellenranke  in  der 
archaisch-böotischen  Kunst  beitragen  könnte.  Bei  den  Ausgrabungen 
des  Kabirenheiligthums  zu  Theben  hat  man  nämlich  eine  Anzahl  von 
A^asenseherben  zu  Tage  gefördert,  die  auffälligerweise  zu  allermeist  mit 
der  fortlaufenden  Wellenranke  verziert  sind  (Fig.  82)"-).  Winnefeld  hat 
nachgewiesen,   dass   die   betreffenden   Vasen   einer  lokal-böotischen  Fa- 

c--\  ^^V ^!^1    ' C^B 

Fig.  82. 
Epbeurauke  von  einem  späteren  böotisebcn  Thongefäss. 

brikation  angehören  und  nicht  vor  dem  4.  Jahrhundert  entstanden  sein 
können.  Zwischen  der  P^ntstehungszeit  der  altböotischen  (nach  Böhlau 
7.  Jahrhundert)  und  derjenigen  der  Kabirenvasen  liegen  allerdings 
mehrere  Jahrhunderte,  in  deren  Verlaufe  die  fortlaitfende  Wellenranke 
ein  gemeinübliches  Bordürenomament  der  griechischen  Kunst  geworden 
ist.  Auffällig  ist  aber  an  den  Kabirenvasen  innnerliin  die  exclusive 
Bevorzugung  des  fortlaufenden  Schemas,  das  überwiegende  Vorkommen 
der  sogenannten  E[ilieublätter,  .jenes  schon  in  iler  nixkenischen  Kunst 
verbreiteten  vegetabilischen  Motivs,  das  Feiilen  der  ,,in  anderen  Vasen- 
gattungen häufigsten  Ornamentmotive:  Mäander  und  Palmette,  Stab- 
oniament,  Eierstab  und  Strahlen"  (Winnefeld).  Nelnnen  wir  dazu  Jenen 
bestimmten  mykenischen  Zug,  der  sich  z.  B.  in  den  gekrünnnten,  die 
Wellenlinie  begleitenden  Stengeln  der  Hjilienbläiter  (Fig.  ')())  ausspricht, 
so  erscheint  es  in  der  Tliat  Avahrscheinlicli,  dass  diese  lokal-höotische 
Vasenornamentik'  ]iochalteiiliiinilieli<'   Tr.Mliiifiiirn    rej>i-;isentirt,    wie  sie 

»')  Nach  Athen.  Mitth.  ISSK,  S.  41«,  Fig.  (1. 


5.    Altböotisches.    Frühattisches.  177 

sich  unter  geringen  Concessionen  an  die  namentlich  durch  das  attische 
Geschirr  und  die  attische  Kunst  überhaupt  geschaffene  und  zur  Mode 
gewordene  griechische  Universalkunst  bis  gegen  die  alexandrinische 
Zeit  hin  bewahrt  haben  mochten. 

Da  im  Vorstehenden  von  dem  Epheuhlatt  die  Eede  war,  halte  ich 
es  für  gerathen,  um  Missverständnisse  zu  vermeiden,  nochmals  (s.  S.  125) 
den  Sinn  dieser  Bezeichnung  zu  erörtern.  Ich  denke  dabei  ebenso 
wenig  an  ein  Avirkliches  Epheublatt,  wie  bei  der  Bezeichnung  Palmette 
an  eine  Palme :  es  ist  einfach  ein  Verstäudigungsmittel  über  eine  gewisse 
dekorative  Kunstform,  von  welcher  wir  nicht  wissen,  was  sich  ihre  je- 
weiligen Darsteller  darunter  gedacht  haben.  Dies  schliesst  ja  nicht  aus, 
dass  man  darin  — namentlich  in  der  natm'alisirenden  nachalexandrinischen 
Zeit  —  in  der  That  einen  Epheu  gesehen  hat.  Das  Epheublatt  begegnet 
uns  in  Egypten,  dann  in  ^lykenä,  es  begegnet  uns  auf  den  sogenannten 
chalkidischen  Vasen  und  nun  im  Böotien  des  4.  Jahrhunderts.  In  letz- 
teren beiden  Fällen  könnte  man  dem  Motiv  —  die  topographische 
Nachbarschaft  als  über  alle  Z^veifel  erwiesen  vorausgesetzt  —  die  gleiche 
Bedeutung  beigelegt  haben;  wie  aber  in  Mykenä  oder  gar  in  Egypten? 
Deshalb  kann  ich  mich  auch  nicht  davon  überzeugen  lassen,  dass  die 
Blätter  von  Fig.  7  bei  Winnefeld  auf  die  botanische  Species  Tamus 
cretica  zurückgehen,  viel  eher  halte  ich  sie  als  eine  rein  stilistische 
Fortbildung  der  ,.Epheublätter".  Fig.  9  ebendaselljst  zeigt  allerdings 
deutlich  Weinblätter  und  Trauben:  wir  gelangen  damit  eben  in  die 
naturalisirende  Dekorationskunst,  wie  sie  hauptsächlich  die  Diadochen- 
zeit  charakterisirt,  aber  schon  seit  dem  peloponnesischen  Kriege,  seit 
dem  Aufkommen  des  Akanthus,  sich  in  stets  zunehmendem  Maasse  be- 
merkbar gemacht  hat.  Gleichwohl  ging  auch  dann  noch  daneben 
immer  eine  stilisirende  Richtung  einher,  die  das  Weinlaub  z.  B.  fünf- 
zackig bildete  ^^)  —  eine  Richtung  die  in  spätrömischer  Zeit  im  Orient 
wieder  entschieden  die  Oberhand  gewann,  und  sie  daselbst  wahrschein- 
lich auch  in  der  Zwischenzeit  niemals  völlig  eingebüsst  hatte. 

Böhlau's  frühattische  Vasen  im  Arch.  Jahrb.  1887  (S.  33  ff.,  Taf.  3—5) 
stehen  in  Bezug  auf  die  Entwicklung  des  Pflanzenomaments  noch  hinter 
den  melischen  Vasen.  Der  Typus  der  Palmette  ist  hier  noch  keines- 
wegs so  abgeschlossen,  wie  wir  ihn  auf  melischem  Gebiete  (S.  155)  ge- 
troffen haben.     Die  Vase  auf  Taf.  3  bei  Böhlau  zeigt  an  den  Palmetten 


3^)  Z.  B.  auf  einem  etruskischen  Spiegel,  Athen.  Mitth.  1888.  365. 

Riegl,  Stilfrageu.  12 


Il}^  B.    Das  Ptian/.enornameiit  in  der  g-riochischeii  Kunst. 

zwar  einen  lo^en,  cius  kolbenartigen  Blättern  zusammengesetzten  Fächer, 
aber  nicht  die  spiraligen  Voluten:  Tat".  4  dagegen  die  genannten  Vo- 
luten, aber  in  Verbindung  mit  einem  dicht  geschlossenen  Fächer  von 
kugelförmigen  Blättern.  Auch  die  umschriebenen  Palmetten  auf  Taf.  5 
stehen  hinter  denen  an  unserer  Fig.  ('>(">  zurück.  Die  Ilydria  bei  Bölilau 
S.  53  zeigt  knospenartige  Motive  auf  einen  geknickten  Bogenfries  gereiht, 
angeblich  ein  verkümmertes  Lotusblumen-Knospen-Band;  jedenfalls  ist 
dasselbe  für  die  Entwicklung  bedeutungslos.  Fig.  -^a  bei  Böhlau  zeigt 
dagegen  zwei  Doppelspiralen,  deren  Jede  in  Form  eines  arabischen 
Achters  verschlungen  ist  und  in  l'almetten  von  ziendich  typisch-grie- 
chischer Form  ausläuft,  während  die  Zwickel  dazwisclien  mit  Palmetten- 
fächern gefüllt  sind.  Das  wäre  nun  etwas,  das  sogar  über  die  Freiheit 
der  Kankenführung  in  der  rhodischen  Kunst  hinausginge,  wenn  es 
nicht  —  wie  auch  Böhlau  bemerkt  —  in  der  ganzen  Klasse  vereinzelt 
dastünde.  Das  Motiv  ist  der  Entwicklung  nach  nicht  früher  anzusetzen 
cils  die  gleichfalls  von  einer  altattischen  Vase  stammende  Fig.  83,  mit 
welcher  —  wie  wir  sehen  werden  —  eine  ganz  eigenartige  Weiterent- 
wicklung des  Pflanzenrankenornaments  einsetzt. 

6.   Das  KaiikeiigeschliDge. 

Das  Material,  aufCirund  dessen  wir  heutzutage  die  l'hitwickltings- 
geschichte  des  Pflanzenornaments  in  dei-  älteren  griechischen  Zeit  zu 
entwerfen  im  Stande  sind,  ist  in  der  Hauptsache  auf  Gefässe  beschränkt. 
Unter  diesen  sind  es  wiederum  die  Thongefässe,  Avelche  an  Zahl  weitaus 
im  Vordergründe  stehen,  in  zweiier  Linie  ersi  die  Metallgefässe.  Der 
Unterschied  im  Material  iiai  zwar,  wie  ]v\\  zu  betonen  inelit  müde 
werde,  nichts  Wesentliches  zu  besagen.  Der  Lotus  oder  das  Fleehtli.nid 
war  gegeben:  auf  den  Thon  wurden  sie  gemalt,  in  das  ^Fetall  gravin. 
Ein  wesentlicheres  Hemmniss,  um  die  Entwicklung  \r.llig  klar  zu  er- 
blicken, könnte  darin  gelegen  >ein,  dass  es  eben  hanplsäelilieli  nur 
Getasse  sind,  dii-  uns  zni*  rntei-suehnng  xdiiicgcn.  I'.s  niachl  sieh 
nändich  in  der  Verzierung  <\ry  (iefässe  sclmn  in  archaischer  Zrii  das 
Bestreben  geltend,  die  rein  ornamentalen,  l>lt)ss  scinnüekend<'n.  gegen- 
ständlich nichtssagenden  Motive  einzuschränken  und  an  ihre  Stelle 
Hgürliche  Darstellungen,  deren  lidialt  der  li«'r<>isehen  und  der  (nUtersago 
entlehnt   wurde,  treten  zu  lassen ''j. 

9»)  Woher  diese  trciltende  Tendenz  in  die  griechische  Kunst  gekoiunieu 
i.st,    wird    man    heute    scliwerlich    entscheiden    können.     In    der  niykenischen 


6.   Das  Rankeng-eschlinge.  179 

Bei  der  reinen  Streifendekoration  konnte  man  da  kaum  stehen 
bleiben.  Es  lag-  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  tig-ürlichen  Dar- 
stellungen immer  mehr  Raum  für  sich  in  Anspruch  nahmen,  die  Thier- 
friese  dagegen  und  vollends  die  geometrischen  und  vegetabilischen 
Zierformen  auf  ein  zunehmend  geringes  Maass  beschränkt  wurden. 
Wenn  wir  nun  an  den  rhodischen  Vasen  deutlich  das  Bestreben  des 
Rankenornaments  nach  Ausbreitung  wahrzunehmen  glaubten,  so  trat 
diesem  Bestreben  jenes  andere  nach  Ausbreitung  der  tigürlichen  Scenen 
hindernd  entgegen.  Die  Ranken  konnten  sich  auf  den  Vasen  nicht  frei 
über  grössere  Flächen  entfalten,  weil  ihnen  der  Raum  hierfür  von  den 
figürlichen  Vasenbildern  bestritten  wurde.  Wie  war  es  aber  auf  anderen 
Gebieten  ? 

Was  uns  da  sonst  noch  vorliegt,  z.  B.  kleine  Schmuckstücke  aus 
Edelmetall,  das  läuft  in  der  ornamentalen  Entwicklung  ganz  parallel 
mit  den  Erscheinungen  auf  den  Vasen.  Wäre  uns  z.  B.  etwas  von 
Wandmalereien  der  betreffenden  Zeiten  erhalten,  so  würde  sich  vielleicht 
eine  weit  freiere  Pflanzenrankenornamentik,  etwa  wie  sie  die  helle- 
nistische Zeit  kennzeichnet,  schon  für  eine  gewisse  Zeit  vor  den  Perser- 
kriegen feststellen  lassen.  Dieser  Schluss  erscheint  nicht  zu  gewagt, 
sobald  wir  beobachten,  wie  das  Pflanzenrankenornament  selbst  an  den 
Vasen,  dort  wo  ihm  noch  eine  freiere  Entfaltung  ermöglicht  bleibt  — 
an  und  unter  den  Henkeln  —  davon  begierig  Gebrauch  macht.  Das 
uns  zur  Verfügung  stehende  Vasenmaterial  zeigt  uns  das  Pflanzenranken- 
ornament hauptsächlich  in  bordürenartige  Längsstreifen  gezwängt.  Von 
diesen  letzteren,  als  den  einfacheren  gegenüber  den  endlosen  Flächen, 
hat  aber  auch  sicher  die  folgende  Entwicklung  ihren  Ausgang  ge- 
nommen. 

Da  begegnet  uns  nun  zunächst  die  lehrreiche  Erscheinung,  dass  das 
fortlaufende  und  das  intermittirende  Wellenranken-Schema 
nach  mykenischem  Muster  in  seiner  einfachsten  Form  dem 
nach  Entfaltung  drängenden  dekorativen  Sinn  nicht  mehr  ge- 
nügte.    Fig.  83  stammt  von  einer  Schüssel  aus  Aegina^^),  die  auf  alt- 

Kunst,  der  wir  nach  dem  sattsam  Gesagten  so  viele  fruchtbare  und  g-rund- 
legende  Keime  des  späteren  Hellenismus  verdanken,  war  sie  zweifellos  schon 
vorhanden  gewesen  (S.  147).  Aber  auch  die  Dipylonvasen  zeigen  häufig- 
figürliche  Darstellung-en:  ob  unter  mykenischem  Einrtuss?  Und  selbst  die 
Orientalen  haben  die  figürliche  Composition  von  den  Werken  des  „Kunst- 
gewerbes" nicht  gTvmdsätzlich  ausgeschlossen:  man  denke  nur  an  die  Metall- 
schalen ! 

9^)  Arch.  Zeitschr.  1882,  Taf.  X. 

12* 


180 


B.   Das  Pflauzeuornament  in  der  a'viechischen  Kunst. 


attischen  Ursprung  ziu'ückgefübrt  Avird :  geiuiu  dasselbe  Muster  findet 
sich  übrigens  an  einer  in  Athen  gefundenen  Amphora,  die  auf  S.  46 
des  Textes  zu  den  Antillen  Denlvinälern  Bd.  I  abgebildet  ist.  Das 
Ornament  als  Ganzes  setzt  sich  zusammen  aus  Bliithenmotiven  und  aus 
Rankenlinien:  betrachten  wir  zunächst  die  ersteren  gesondert  für  sich. 
Wir  unterscheiden  da  zweierlei  Motive:  Lotusblüthen,  gekenn- 
zeichnet durch  die  Aveitausladenden  Seitenblättcr,  und  Palmetten  oder 
besser  gesagt  blosse  Palmettenfächer.  Das  grössere,  wichtigere  IMotiv 
sind  augenscheinlich  die  Lotusblüthen;  dagegen  treten  die  Palmetten 
sowohl  in  der  Grösse,  als  wegen  des  anscheinenden  Mangels  des  zur  selb- 
ständigen Palmette  unentbehrlichen  Volutenkelchs  zurück.  Die  Lotus- 
blüthen sind  min  ebenso  wie  die  Palnicttcn  mit   der  Krone  abwechselnd 


l-ig.  83. 
Gemaltes  Kankcngusclilingc  von  einer  ScliUssel  aus  Aogiiia. 

von  unten  nach  oljcn  und  von  oben  nacli  nuten  gekehrt,  worin  wir  das 
intermittirende  Wellenrankenschema  bereits  ahnen.  Um  dieses  letztere 
vollends  sicherzustellen,  bedarf  es  aber  des  Nachweises  einer  entspre- 
chenden Verbindung. 

Diese  letztere  ersclicini  licrgestellt  durch  die  schl  ingeiHTirniig 
verlaufenden  1\  .nik  cn  1  in  ieii.  An  der  iStelle  nämlich,  wo  zwei 
Schlingen  ineinander  greifen ,  sitzt  innner  auf  der  einen  Seite  eine 
Lotusblüthe,  auf  der  anderen  eine  Palmette.  Die  zwei  Schlingen  ver- 
treten auf  solche  AVeise  die  Stelle  von  zwei  Spiraleinrollungen  eines 
Volutenkelchs,  indem  sie  für  eine  darüber  sich  erhebende  Blüthe  den 
Kelch  bilden.  Man  lösche  jenen  Theil  der  Rankenlinien,  der  sich  dnrch 
die  Lotusblüthen  liindm-eh  sclilingt  und  dieselben  lialliirt,  l'eiMier  die  bloss 
raumfüllenden  S]>iralen,  die  sich  beiderseits  an  die  l'ahnetten  ansetzen, 
so  gewiinit  man  das  nackte  Schema  der  intennittirenden  AVellenranke, 
an  deren  Berg-  nnd  'rh.ilpuidsten  Lotuslilütlien  ansetzen.    Dic^  l'ahnetten 


().    Das  Raukeug-eschling-e.  131 

sind  blosse  accessorische  Zwickeltullungen  der   von   der  Ranke   gebil- 
deten Kelche. 

Die  Stichhaltigkeit  der  gegebenen  Erklärung  des  Motivs  springt 
noch  mehr  in  die  Augen  an  Fig.  84,  das  von  einem  Bronzetäfelchen 
im  Berliner  Antiquarium^'')  entlehnt  ist.  Hier  haben  wir  in  der  That 
das  nackte  intermittirende  Schema:  die  Lotusblüthen  setzen  einmal 
oben  und  dann  unten  ganz  einfach ,  ohne  alle  Vermittlung  durch 
Spiralvoluten  oder  Schiingenkelche,  an  die  zwei  von  rechts  und  links 
zusammentreffenden  Stengel  an;  die  Schlingen,  welche  letztere  vor 
ihrem  Absetzen  an  der  Lotusblüthe  bilden,  sind  eine  Bereicherung  des 
Motivs  und  stellen  den  Zweck,  den  man  mit  dem  ganzen  Motiv  ver- 
folgte, erst  recht  deutlich  in's  Licht.  Hier  beirren  uns  auch  nicht  mehr 
die  Bänder,  von  denen  die  Lotusblüthen  durchzogen  und  halbirt  sind, 


Fig.  Si. 
Verziertes  Bronzetäfelchen  im  Berliner  Antiquarium. 

da  sie  hier  nicht  so  wie  an  Fig.  83  die  intermittirende  Wellenlinie 
durchkreuzen,  sondern  an  beiden  Seiten  für  sich  getrennt  verlaufen. 
Die  Palmetten  endlich  geben  sich  hier  vollends  unverkennbar  als  blosse 
Zwickelfüllungen. 

Zweierlei  haben  wir  an  dem  solchergestalt  in  seinem  Wesen  fest- 
gestellten Motiv  besonders  vermerkt:  erstens  die  in  der  Richtung 
alternirende  Paarung  A'on  Lotusblüthen  und  füllenden  Pal- 
mettenfächern, zweitens  die  Bereicherung  der  verbindenden 
Wellenrankenlinien  durch  Schlingen,  wozu  noch  die  völlig  als 
dekorative  Superfötation  angehängten  Bänder  kommen.  Die  Paarung 
von  Lotusblüthen  und  Palmetten  in  alternirender  Richtung ,  also  das 
Motiv,  das  in  der  herrschenden  Kunstterminologie  als  gegenständige  Loüis- 
hlüthen  und  Palmetten  bezeichnet  wird,  ist  uns  im  Wesen  nicht  mehr  neu. 
Sie  findet  sich  schon  auf  dem  melischen  Beispiel  Fig.  53;  nur  ist  hier 
anstatt   des   Palmettenfächers    ein   blosser    Zapfen    zur  Zwickelfüllung 


^)  Arch.  Anz.  1891,  S.  12.5,  Fio-.  12e. 


132  ß-    ^^^  Prianzenornanient  in  der  o-riechischcn  Kunst. 

verwendet,  avcIS  an  der  wesentlichen  Uebereinstinuniinji'  des  Grnndmotivs 
nichts  ändert. 

Zum  leichteren  Verständuiss  des  Sachverhaltes  ji'elx'  ich  in  Fly-.  85 
das  Ornament  eines  gleichfalls  in  Berlin  verwahrten  und  in  Thelien 
g"etiindenen  Bronzeplättchens-''),  das  zwischen  dem  melischen  (Fig  53) 
und  dem  t'rühattischen  (Fig.  83.  84)  Beispiel  die  Mitte  hält^*).  :Man  vgl. 
ferner  1)ei  Brtmn-Lau.  Die  griechischen  Vasen,  Tat".  VIII.  das  Halsorna- 
ment von  Xo.  1  mit  Xo.  ö  derselben  Tafel,  dann  ebenda  Taf.  XI  6,  7, 
Avelche  schon  der  Aveiteren  Entwickhing  angehören.  Der  Schliisspunkt 
dieser  Entwicklung  war  so  wie  derjenige  der  attischen  Ornamentik  gegen 
das  5.  Jahrh.  hin  überhaupt  die  Lossagung  vom  Schwulste  der  schmuck- 
freudigen  archaischen  Zeit,  die  Beschränkung  auf  Avenige  und  verein- 
fachte Motive  von  rein  ornamentaler  "Wesenheit,  freilich  unter  freiester 


I 

mmsasnssmmnz 


l-Mg.  8.',. 
Verziertes  IJronzctäfeldien  im  Ucrliner  Antiiinariiini.     Aus  Theben. 

Belierrschung  der  Darstellungsmittel  und  vollendeter  Ausgestaltung  im 
Sinne  des  Formalscliönen.  Als  Beis})iel  einer  intermittirenden  "Wellen- 
ranke mit  (jegemtäinVifjen  Lotusblüthen  und  Palmetten,  ohne  alle  Spiral- 
Avindungen,  Verschlingungcn  und  \'(ilut(nkclclie.  möge  Fig.  8<)  \vm'\\ 
Bntnn-Lau  XJ.  8  dienen,  das  noch  nicht  dem  freiestcn  Stile  angehört. 
Kehren  wir  nochmals  zu  Fig.  83  zurück.  Xcu  ist  daran.  Avir  wir 
gesehen  habm.  eigentlich  bloss  die  Verschleifung  der  inieniiiiiireiiden 
"Wellenlinie  in  ein  ohne  Unterbrechung  fortlaufendes  Band;  dies  \\u\\ 
ermöglicht  dui'cii  <lii'  i'ihlung  a'ou  Schleifen,  deren  Je  ZAvei  im  Zusanunen- 
stossen   innner  den    Ki  leji   für  die  anzusetzenden  BlüthenmotiA-c  bilden. 

")  Anli.  Aiiz.  isld.  S.  121,  Fig.  12a. 

'*)  Die  Augen,  luii  die  .sich  in  Fig.  8ö  die  Uelchliildendeu  Wellenrankeu- 
Hnieii  an  jedem  Lotusansatz  lierunnvinden,  gelten  aucii  Ausi^unft  über  die 
Kreise,  in  die  sicli  in  Fig.  fj.'i  die  meisten  Uelclihihlenden  Vohiten  miigcAvandelt 
haben. 


().    Das  Rankengeschling-e.  133 

"Wir  haben  das  Aufkommen  dieses  ^lotivs  aus  einem  Bestreben  nacli 
reicherer  Ausgestaltung  des  bordürenartigen  Rankenstreifens  zu  erklären 
gesucht,  und  zwar  auf  Grund  der  geraden  Entwicklung  aus  dem  ge- 
gebenen Vorbilde  der  intermittirenden  "Wellenranke,  wofür  Fig.  84  wohl 
jede  weitere  Beweisführung  überflüssig  macht.  Es  ist  dies  aber  nicht 
der  erste  Erklärungsversuch,  den  man  für  dieses  Motiv  aufgestellt  hat. 
Dasselbe  hat  nämlicli  schon  um  seines  augenfälligen  Zusammenhanges 
mit  dem  gegenständigen  Palmetten-Lotus-Band  die  Aufmerksamkeit  einiger 
Forscher  erregt.  Am  bündigsten  und  entschiedensten  hat  sich  Holwerda 
im  Arch.  Jahrb.  1890,  S.  239  f.  darüber  ausgesprochen. 

Es  ist  fast  selbstverständlich,  dass  Holwerda's  Erklärung  an  irgend 
eine  Technik  anknüpfen  musste.    Diesmal  fiel  die  Wahl  auf  eine  Metall- 


1  iö-  ft"'. 

(lemaltc  Rankenverzierung.     Griechisch. 


technik.  ..Die  durchsetzenden  Schlingen  waren  die  genaue  Nachahmung 
von  Metalldrahtgeflechten,  deren  Muster  sich  noch  mit  voller  Sicherheit 
erkennen  lassen.  Es  war  dieses  ganze,  sehr  künstlich"  (in  der  That!) 
„erfundene  Geflecht  aus  einem  einzigen  Metalldraht  hergestellt,  dessen 
beide  Enden,  wenn  das  Ornament  um  einen  Gegenstand  herum  gelegt 
wurde,  an  einem  Punkte  zusammentraten,  Av^elches  aber  durch  seine 
"Windungen  alle  Elemente  des  Ornaments  aufzunehmen  geeignet  war." 
Die  Blüthenmotive  denkt  er  sich  dann  aus  Metallblech  ausgeschnitten 
und  an  den  Draht  angelöthet.  Ich  will  nun  gar  nicht  in  Abrede  stellen, 
dass  einmal  ein  ostmittelländischer  Goldschmied  in  jenen  Jahrhunderten 
die  Lotusblüthen  und  Palmetten  etwa  aus  Metall  getrieben  und  die 
Schlingranken  in  Filigran  darauf  gelöthet  haben  mochte.  Aber  der 
sonderbare  technische  Vorgang,  Avie  ihn  Holwerda  schildert,  müsste  erst 
monumental  erwiesen  werden,  und  vollends  die  Entstehung  eines  be- 
stimmten Ornamentmotivs    aus    solcher   Wurzel    wird    selbst    derjenige 


1S4  B-    Das  Pfiauzenornament  iu  der  gTiechisclieu  Kunst. 

kaum    ernst  nehmen   können,    der  von   der  techniscli -materiellen   Ent- 
stehting  der  Urmotive  im  Allgemeinen  vollständig  ül)erzeugt  ist. 

Ich  habe  dieses  Beispiel  ans  zahllosen  anderen,  wo  der  ]\Ietall-, 
Textil-,  Stein-Stil  n.  s.  av.  zur  Erklärnng  älterer  griechischer  Ornament- 
tbrmen  herhalten  mitsste,  deshalb  gewählt,  weil  es  besonders  geeignet 
ist  zu  zeigen,  in  Avelch  abstruse  Folgerungen  sich  Forscher,  deren  hohe 
Verdienste  um  die  Wissenschaft  der  klassischen  Archäologie  im  Uebrigen 
völlig  unbestritten  sein  sollen,  verlieren,  sobald  sie  sich  auf  den  gefähr- 
lichen Weg  der  Spürsuche  nach  Techniken  begeben.  Es  würde  die 
Grenzen  dieses  Buches  in's  Unabsehbare  erweitern,  wenn    ich  hinsieht- 


Fig.  87. 
ScLuürclienstickerei.     Aus  Ragusa. 

lieh  eines  jeden  Motivs,  das  hier  zu  Sprache  gebracht  wird,  auf  die 
bereits  von  anderer  Seite  versuchten  ,,technischen"  Erklärungen  Kück- 
sicht  nehmen  würde.  Nachdem  ich  mich  aber  nun  einnuü  hinsichtlich 
des  obigen  Falles  in  eine  eingehendere  Enirtening  eingelassen  habe, 
so  sei  es  mir  gestattet  dabei  noch  etwas  zu  verweilen  niid  eine  ,in(h'i-e 
„technische"  Parallele  dazu  vorzubringen,  die  sicli  den  Anhängern  der 
technisch-materiellen  Ableitungstheorie,  zu  denen  ich  selbst  allerdings 
nicht  zähle,  vielleicht  besser  eiuiifehjen  möchte  als  die  \(iii  Ilolwcfda 
versuchte. 

P^ig.  87  zeigt  ein<'n  Zwickel  von  <ler  Weste  <'iiie  Kieiiil>ürgers  aus 
einer  süddalmatinisehen  Stadt.  Der  Stolf  ist  blaues  Tuch,  die  Stickerei 
ist   in   aufgelegten  Gold-   und  Silhei-schniii-elien    ausgeführt.      Was    dem 


6.    Das  Raukengeschlinge.  Ig5 

Auge  des  Archäologen  sofort  in's  Auge  springen  wird,  ist  das  Orna- 
ment, das  sieh  in  der  oberen  Hälfte  gegen  das  schmale  Ende  hinzieht. 
Es  ist  nämlich  das  leibhaftige  „gegenständige-'  Palmetten-Lotus-Band: 
selbst  das  Band,  das  sich  undulirend  dazwischen  schlingt,  erinnert  an 
Fig.  83.  Die  technische  Ausführung,  die  diesem  gestickten  Ornament 
zu  Grunde  liegt,  ist  in  der  That  diejenige,  die  Holwerda  seinen  Schling- 
drähten zu  Grunde  legt.  Es  handelt  sich  darum  mit  fortlaufendem 
Faden  ein  bestimmtes  Ornament  auf  die  Fläche  hin  zu  zeichnen.  Der 
geübte  Sticker  wird  die  Fäden  so  legen,  dass  er  niemals  hinsichtlich 
der  Verbindung  mit  dem  benachbarten  Ornament  in  Verlegenheit 
kommt.  Das  in  Fig.  87  vorliegende  Stück  zählt  ausnahmsweise  nicht 
zu  den  gelungensten:  die  meisten  unter  diesen  Schnürchenstickereien 
von  der  Balkanhalbinsel  sind  nämlich  vollendet  in  der  Zeichnung  und 
meisterhaft  in  der  Mache.  Der  Verbreitungsbezirk  geht  aber  über  die 
Balkanhalbinsel  hinaus  und  umfasst  auch  die  griechischen  Inseln  und 
zum  Theil  Kleinasien  bis  nach  Syrien.  Die  Ornamente  sind  beschränkt 
an  Zahl  und  eigenartig:  an  denjenigen  von  der  Balkanhalbinsel  tritt 
die  specifische  saracenische  Tünche  zurück  und  das  Autochthon-Byzan- 
tinische,  oder  sagen  wir  gleich,  das  Antike  unverkennbar  hervor.  Ich 
hege  daher  auch  keinen  Anstand  in  Fig.  87  einen  Epigonen  des  archai- 
schen gegenständigen  Palmetten-Lotus-Bandes  zu  erblicken.  Das  ver- 
breitetste  Saumornament  am  Balkan  ist  daneben  die  fortlaufende  Spirale, 
die  sich  kreisförmig  ein-  und  vom  Mittelpunkte  wieder  ausrollt,  völlig 
nach  mykenischer  Weise  (Fig.  59).  Historisch  betrachtet,  kann  das 
Ornament  am  Balkan  nicht  überraschen;  in  der  Schnürchenstickerei 
hatte  man  besondere  Veranlassung  strenge  daran  festzuhalten,  da  be- 
greiflichermaassen  kaum  ein  anderes  über  die  blosse  Wellenlinie  hinaus- 
gehendes Muster  sich  für  Saummuster  aus  aufgelegten  Schnürchen  so 
vortrefflich  eignete.  Immerhin  wäre  das  Eindringen  des  auch  ander- 
wärts in  Gebrauch  gebliebenen  oder  wieder  gekommenen  einfachen 
Spiralmotivs  von  aussen  her  nicht  undenkbar.  Das  Motiv  von  Fig.  87  ist 
aber  ein  höchst  eigenartiges,  das  in  solcher  Stilisirung  und  individuellem 
Charakter  seit  archaischer  Zeit  niemals  mehr  in  der  internationalen  Kunst, 
auch  nicht  in  der  römischen  zur  Darstellung  gebracht  worden  ist.  Die 
italienische  Eenaissance,  die  ja  auf  dem  Wege  über  Venedig  die  Balkan- 
küsten nachweislich  stark  beeinflusst  hat,  kannte  das  Motiv  nicht;  auch 
im  Empire,  das  ja  zuerst  wieder  archaisch-griechischen  Formen  Gefallen 
abgewann,  ist  es  nicht  nachzuweisen.  Xur  in  einer  Volkskunst  konnte  es 
sich   durch  die  Jahrtausende  so  imverändert  erhalten  haben,   und  dies 


Igß  B.    Das  Pflanzeiiornament  in  der  g-riccliisclicn  Kunst. 

ist  in  Epiros  am  allerwenigsten  nnwalirsclieinlicli.  Uel)rig'ens  spielt 
ja  auch  in  den  Silberinkrustationen  in  Holz,  die  z.  B.  in  Bosnien  bis 
auf  den  heutigen  Tag  erzeugt  -wenlen,  die  ausgemachte  griechische 
Palmette  und  die -strenge  Eankent'ührung  die  Hauptrolle. 

Was  könnte  sich  daraus  für  unser  altattisches  Muster  Fig.  8.'!  er- 
geben? Da  haben  wir  ein  nächstverwandtes  Muster,  ausgeführt  zwar 
nicht  in  einer  ..Mctalltechnik".  alter  doch  in  einer  ..textilen  Technik". 
"Während  Holwerda"s  Metalldraht-  und  Hlech-Lüthung  völlig  in  der  Luft 
hängt,  haben  wii*  hier  einen  monumentalen  Beweis  dafür,  dass  die  lie- 
treft'ende  Technik  das  Schlingmuster  mit  „gegenständigen"  Blüthen 
Avenigstens  in  neueren  Zeiten  gebraucht  hat.  Wäre  es  etwas  Ungeheuer- 
liches, den  alten  Griechen  die  Schnürchenstickeroi  zu  vindicirenV  Wie 
sind  denn  die  laufenden  Hunde  zu  erklären,  die  an  den  Säumen  der 
gemalten  Himatien  und  Chitons  liinlaufen?  Gewiss  sind  die  Streumustcr 
und  Thieiiiguren  etc.  auf  diesen  (icAvändern  gemäss  den  antik-eg\  j»- 
tischen  und  taurischen  Funden  überwiegend  als  gewirkt  anzunehmen : 
warum  soll  aber  der  laufende  Hund  am  Saum  nicht  in  Schnürclicn- 
stickerei  ausgeführt  gCAvesen  sein,  genau  so  Avie  noch  hente  die  Spiral- 
säume albanesischer  AVesten  V  Es  Aväre  Avenigstens  ein  lialbAvegs  palpables 
ZAvischenglied  A'orhanden,  das  sich  zwischen  das  fertige  Ornament  und 
dif  supponirte   Technik   einschieben   Hesse. 

Und  doch  Avürde  ich  auch  einen  solchen  Schluss  noch  für  viel  zu  ge- 
Avagt  halten,  ja  ich  halte  ihn  geradezu  für  falsch  und  verfehlt.  Audi  dem 
in  Schnürchenstickerei  ausgeführten  l\luster  liegt  eine  künstlerische  Con- 
ception  des  ausführenden  Menschen  zu  (!runde.  A^on  selbst  hat  sich 
die  Linie  nicht  zu  Schlingen  zusammengeschoben.  Gerade  so  Avie  Avir 
heute  für  jeden  kunstgeAverblichen  EntAvurf,  in  jedem  Material,  seilest 
für  die  plastische  Ausführung,  eine  Zeichnung  schafl'en,  uns  in  linearen 
Unu'issen  das  Bild  des  fertig  zu  stellenden  (iegenstandes  vor  Augen 
führen,  ebenso  und  niclit  anders  verfuhr  der  archaische  Künstler. 

Die  (irundlage  seiner  schöpferischen  Tliätigkeit  nniss  ebenfalls 
eine  zeichnerisclie  gcAvesen  sein:  xdh  diesem  Gesichtspunkte  beirachtel. 
Avar  es  ihm  aber  gcAviss  natürlicher  das  (lesclilinge  aus  den  ihm  bei-eits 
•  lurch  die  nationale  Tradition  oder  durch  erAvorbene  fremde  Gegenstände 
bekainit  und  MTlraut  geAVordenen  K'anken  mit  dem  i'insel  .'lur  Thon 
zu  malen  oder  mit  dem  Stift  zu  graviren,  als  aus  J)i-ath  zusanimenzn- 
lOtheii  oder  aus  Schnürchen  auf  eiiu-n  (JeAvandstotT  hinzulegen.  AVenn 
wii"  dann  schon  durchaus  \-oii  einer  'i'e(dinik  i'eden  sollen,  so  wäre  es 
diejenige  dei-  Alalerei,  (Nt  Zei(duning  mit   <lem    l'in^el.    der  K'itzung  mit 


G.    Das  Rauken2'CSchlino-e. 


187 


dem  Griffel  u.  s.  ^y.  Aber  weder  Pinsel  noch  Grift'el  scliaffen  automatisch, 
sondern  werden  geführt  von  der  menschlichen  Hand,  und  diese  von 
der  künstlerischen  Eing-elmng',  die  Anerworbenes  und  geistig  Erschautes 
zusammenbringt  und  daraus  in  unwiderstehlichem  Drange  ein  Neues 
gestaltet. 

Man  ist  aber  mit  dem  IMotiv  von  verschlungenen  Rankenbändern 
mit  zwiekelfüllenden  Blüthen  über  die  fortlaufende  Längsstreifenform 
hinausgegangen  und  hat  dasselbe  dazu  benutzt,  um  abgeschlossene 
Compositionen  daraus  zu  gestalten.   Als  Beispiel  gebe  ich  in  Fig.  88^''), 


Fi^'.  88. 
Sog.  cbalkidische  Vase. 


eine  sogen,  chalkidische  Vase,  für  welche  Klasse  das  Motiv  besonders 
charakteristisch  ist.  Die  Rankenbänder  gehen  hier  von  einem  festen 
Mittelpunkt  aus,  verschlingen  sich  unter  theilweiser  Anwendung  von 
Klammern,  divergiren  nach  oben  und  unten;  im  oberen  Streifen  endigen 
sie  in  sogen.  Epheublätter,  im  unteren  intermittiren  sie  in  solchen 
Blättern  und  laufen  in  einen  Spiralkelch  aus,  auf  dessen  zwickel- 
füllendem Palmettenfächer  ein  Vogel  sitzt. 

"Wir  haben   also   in   der   That   eine  Yerschl  ingung  von  regel- 


ä^)  Masner,  Die  Sammlung  antiker  Vasen  und  Terracotten  im  k.  k.  österr. 
Museum  No.  219,  Taf.  III. 


188  B.    Das  Pflanzeuoruament  in  tlev  griechischen  Kunst. 

massig-  undulirenden  Eaiikeu  vor  uns,  in  deren  Zwiclvel  füllende 
Palmettentacher  eingestellt  sind.  Die  Verwandtschaft  mit  Fig.  83  springt 
somit  in  die  Augen ;  der  Unterschied  liegt  bloss  darin,  dass  es  in  Fig.  83 
galt  eine  struktiv  einfassende,  fortlaufende  Bordüre  zu  schaffen,  während 
Fig.  88  eine  selbständige  Füllung  darstellen  sollte,  die  in  sich  abge- 
schlossen werden  musste.  Im  Epheublatt  an  den  Intermittirungspunkten 
drückt  sich  am  deutlichsten  die  Brücke  aus,  die  von  Fig.  83  zu 
Fig.  88  führt. 

TVas  die  Bcurtlicilung  dieses  Motivs  bisher  über  Gebühr  beein- 
flusst  hat,  sind  die  zu  beiden  Seiten  desselben  in  symmetrischer  Gegen- 
überstellung angeordneten  Thierfiguren.  In  Fig.  88  sehen  Avir  oben  zAvei 
afit'rontirte  Löwen,  unten  Löwe  und  Pantlier  adossirt,  die  erwähnten 
Vögel  aber  wieder  aftrontirt,  durchweg  mit  unigewandten  Köpfen,  was 
ein  reiches  Spiel  des  Rhythmus  hervorbringt.  Es  ist  das  Schema  des 
„AVappenstils" ,  das  wir  vor  uns  haben.  Was  nun  den  vermeintlich 
textilen  Charakter  desselben  anbelangt,  verweise  ich  auf  das  im  2.  Ca- 
pitel  über  diesen  Gegenstand  Gesagte.  Ausserdem  hat  man  al)er  das 
ganze  Schema  als  aus  dem  Orient  herübergebracht  erklärt,  im  Gefolge 
der  berüchtigten  persisch -orientalischen  Textilkunst.  Es  ist  lum  ohne 
"Weiteres  zuzugeben,  dass  die  Tliierfiguren  entschieden  orientalisches 
Gepräge  aufweisen:  insbesondere  die  Thierspecies  selbst,  sowie  das 
Auflegen  der  Tatze  auf  die  Palmette.  Das  Schema  war  aber  auf  grie- 
chischem Kunstboden  schon  bekannt  vor  der  Entstehung  der  chalki- 
dischen  und  verwandten  Vasen.  Die  melischen  Vasen  (Fig.  6ß)  zeigen 
es  auf  Hals  und  Bauch,  und  zwar  ohne  orientalische  Bestien  und  mit 
einem  Spiralrankenmuster  von  dem  auch  HolAverda'™)  zugicbt,  dass  es 
nicht  assyrisch  ist.  Lässt  sich  aber  das  Rankciigeschlinge  auf  Fig.  88 
nicht  mit  orientalischen  Vorltildcni   in  A'ci-liiiKlung  setzen? 

Man  hat  diesbezüglich  ^lelirfachcs  herangezogen.  Einmal  Assy- 
risches, Avas  schon  der  Thiertiguren  halber  näher  liegt.  Hier  ist  es  der 
„heilige  Baum",  in  dem  man  den  Ausgangspunkt  erkennen  AA-ollte.  Der 
heilige  Baum  trägt  auch  Palmetten  an  der  J'ciiphdic  iiiid  seine  Zweige 
sind  oft  durch  Klammern  zusammengcliallen.  Damit  ist  al)er  die;  Ana- 
logie auch  schon  erscliöpft.  Der  heilig«;  Baum  entfaltet  sich  von  unten 
aus,  eben  Avie  ein  I>aum  aus  einer  AN'nrzel;  «las  ehalkidisehe  K'ankenge- 
schlinge  krystallisirt  sich  um  einen  eenir.ilen  l'unkl.  Der  Jieilige  Baum 
ist  ein  ^fittelding  ZAvischen  Baum  und  Mühel,  das  ciiaikidische  Kanken- 

\    ;i.  O.  23H. 


6.    Das  Rankeng-eschling-e.  189 

geschlinge  hat  nichts  von  lieiden,  sondern  ist  eine  nach  rein  dekorativen 
Grundsätzen  erfolgte  Verschlingung  von  gefällig  geschAvnngenen  Linien. 
Die  assyrischen  Palmetten  sind  überdies,  wie  wir  gesehen  hal3en,  nicht 
bloss  anders  im  Detail  gestaltet,  sondern  am  heiligen  Baum  auch  selb- 
ständige Ansätze,  etwa  gleich  Früchten,  an  Fig.  88  dagegen  grössten- 
theils  offenbare  Zwickelfüllungen.  Noch  weniger  lässt  sich  der  phöni- 
kische  Palmettenbaum  in  Parallele  setzen,  der  eine  Ineinanderschachte- 
lung  von  Kelchen  in  der  vertikalen  Eichtung  des  Baumwuchses  dar- 
stellt, wogegen  an  Fig.  88  jede  Betonung  einer  bestimmten  Richtung 
vermieden  ist. 

Eher  Hessen  sich  Analogien  für  das  C4eschlinge  auf  egyptischem 
Boden  finden.  Es  sind  dies  die  bei  Prisse  d'Avennes  abgebildeten  Plafonds 
(Fig.  27) ;  das  grundlegende  Muster  bilden  schmale  Bänder  und  Schnüre, 
die  sich  zumeist  spü'alig  einrollen,  aber  auch  vielfach  verschlingen. 
Daneben  spielt  das  zwickelfüllende  Lotusblumenornament  die  ent- 
scheidende Rolle.  Unmittelbare  Parallelen  zu  dem  chalkidischen 
Muster  sind  zwar  keinesAvegs  nachzuweisen:  die  Möglichkeit  will  ich 
übrigens  nicht  schlankweg  bestreiten,  dass  diese  egyptischen  Plafond- 
malereien im  Allgemeinen  auf  die  Schaffung  des  chalkidischen  Musters 
von  Einfluss  gewesen  sein  könnten*).  Der  Geist  aber,  in  dem  es 
durchgeführt  erscheint,  ist  griechisch,  die  Ranke  ist  griechisch,  die 
Blüthenmotive  sind  gräcisirt. 

Das  in  Rede  stehende  Muster  wurde  bisher  stets  als  chaJkidisch 
bezeichnet;  in  der  That  hat  es  über  diese  Yasenklasse  hinausgegriffen. 
Fig.  88  bezeichnet  nur  den  Typus;  das  Muster  wurde  aber  vielfach 
variirt.  Ja  man  hat  es  sogar  mittels  Reihung  zur  Musterung  von  Bordüre- 
streifen herangezogen,  wie  z.  B.  an  dem  „protokorinthischen"'  Salbgefäss 
Arch.  Zeit.  1883  Taf.  X.  I,  allerdings  in  weniger  glücklicher  Weise.  Es 
war  eben  eine  lebhaft  aufstrebende  Zeit,  die  sich  in  den  verschieden- 
sten Combinationen  versuchte. 

Die  geschichtliche  Bedeutung  des  chalkidischen  Ranken- 
geschlinges beruht  darin,  dass  hier  die  Ranke  zum  ersten  Male 
verwendet  erscheint,  um  der  Füllung  einer  neutralen  Fläche 
zum  Grundmuster  zu  dienen.  Im  mykenischen  Stil  geschah  dies  bloss 
mit  der  Spirale;  die  Ranken  waren  beschränkt  auf  Bordüre  streifen. 
Die  Vorstufen    des  Gebrauches  von  Fig.  88   begegneten  uns  auf  meli- 


')  Dies   könnte   auch  von  den  durchgeschhing-enen   Bändern    in  Fig*.  83 
und  84  gelten,  da  dieselben  nicht  zum  intermittirenden  Grundschema  gehören. 


190  B-    Das  Pflanzenornamenr  in  dor  u'riechisclK'u  Kiiiis-t. 

sehen  Vasen-).  3Iit  Kankenzwri<:-fii  wurde  .iul'Ii  schon  Aehnlielu's 
versucht:  im  Khodisehen  (Fig.  70),  im  Böotisehen  (^Fig-.  81).  Die  vor- 
geschrittenste unter  den  bisher  boobaehtcten  Lrisungen  war  die  elial- 
kidische,  und  an  diese  hat  auch,  wie  wir  sehen  werden,  die  weitere 
Entwicklung  angeknüpft. 

Zwar  die  Stelle,  die  wir  es  an  den  chalkidischen  Vasen  ein- 
nehmen sehen .  konnte  es  nicht  behaupten.  Das  chalkidische  Ranken- 
geschlinge als  Füllung  luitte,  wie  wir  gesehen  haben,  seinen  eigent- 
lichen Platz  als  31ittel  zAvischen  Hankirenden  Thierfriesen.  In  dem 
Maasse  als  der  künstlerische  Zug  der  Zeit  zur  Einführung  von 
figürlichen  Compositionen  in  die  Gefässverzierung  hindrängte,  traten 
die  Thierfriese  zurücdv  und  wurde  aueli  das  K'aid-ceiigeschlinge  über- 
flüssig. Aber  eine  Stelle  gab  es  iloch  an  der  Vase,  wohin  die  figür- 
lichen Scenen  sich  nicht  erstreckten  und  wo  somit  das  reine  Ornament 
Zuflucht  flnden  konnte.  Es  ist  dies  die  (iegend  um  und  unter  dem 
Henkel,  und  an  dieser  Stelle  hat  sich  auch  in  der  That  das  Kanken- 
ornament  wenigstens  an  den  Vasen  —  leider  unserem  einzigen  Unter- 
suchungsmaterial —  weiter  entAvickelt,  und  zwar,  wie  wir  sehen  werden, 
unter  deutlicher  Anknüpfung  an  das  centrale  K*ankengeschlinge,  ab(U' 
unter  zunelimender  Verfeinerung  der  K'anken  und  Emanicipirung  dei- 
Blüthen,  die  aus  blossen  Z^vickelfüllungen  zu  sell)ständigen  Oelulden 
"werden. 

Bei  den  kleinen  symmetriseh(m  Rankenornamenten,  die  hiiutig 
anstatt  des  complicirteren  chalkidischen  Schemas  die  Trennung  in  der 
Mitte  zwischen  den  aff'rontirten  Thieren  bewerkstelligen -'j  und  die 
sämratlich  auf  das  symmetrische  Zusannnentreten  zweier  kurzer  ge- 
scliwungener  Ranken,  nn't  ZAvickellullung  durch  Lotus  oder  Palmette 
/'auch  gegenständig)  zurückgehen,  will  ich  mich  nicht  aufhalten,  da  sie 
entwicklungsgeschichtlich  kaum  lir)her  zu  stellen  sind  als  etwa  die 
rhodische  Füllranke  Fig.  70. 

Bevor  Avir  uns  aber  zur  Betrachtung  des  l'rocesses  wenden,  der 
zur  vollständigen  Befreiung  der  Ranke  von  dem  geonu'lrisclien  Spiral- 
bandcharakier  ^^cfiilnM  hat.  wodurch  sie  erst  liefüliigi  wurde,  lielieliige 
Flächen  in  nnlM'engtem,  das  Maass  bloss  in  sich  selbst  suchendem 
Schwünge  zu  ül)ei-zieli(;ii.  AvolJen  wir  vorerst  die  Entwicklung  Ix'trachlen, 
die  dieselbe  in  dem  gehundeiien  Sireifeii<(dienia  der  fiirtlaureiiden 
Bordüre  genommen   hat. 


'■')  Fig.  06,  vgl.  das  eben  vorhin  dariih(M"  Gesagte, 
■•j  Z.  B.  Brunn-Lau  VIII.  (J. 


7.    Die  Ausbildims'  der  Ranken-Bordüre. 


191 


7.  Die  AusbilduDg  der  Rankeu-Bordüre  (des  Ranken -Frieses). 

Die  älteste,  seit  der  egyptiselien  Tliutmessidenzeit  nachweisbare 
Art  der  Verbindung  von  vegetabilisclien  Ziermotiven  —  der  Bogen- 
fries  —  ist  auch  in  der  griechischen  Kunst  fortdauernd  in  Gebraucli 
geblieben.  Es  ist  sozusagen  eine  der  ewigen  Formen,  zu  denen  die 
dekorative  Kunst  immer  Avieder  wird  zimlckkehren  müssen.  Fig.  89 
zeigt  eine  sogen,  kyrenische  Schale,  in  deren  Mitte  von  Henkel  zu  Henkel 
sich  ein  Bogenfries  zieht.  Die  nach  egyptischer  Weise  alternirenden 
Einzelmotive  sind  birnförmige  Blüthen  mit  dreispaltiger  Krone,  und 
einfache  Knospen.    Das  Schema  erinnert  in  seiner  Gesamniterscheinung 


Fig.  89. 
Kvrenische  .Schale. 


an  die  egyptischen  (und  überhaupt  altorientalisehen)  Beispiele;  im 
Einzelnen  sind  aber  mehrfache  Abweichungen  erkenntlich.  Die  dicken 
Stengel  der  altorientalischen  Vorbilder  (Fig.  -2'},  3.3j,  die  sich  auch  noch 
auf  rhodischen  Vasen  (Fig.  73)  finden,  haben  feinen  elastisch  geschwun- 
genen Rankenlinien  Platz  gemacht,  was  wir  wohl  unbedenklich  auf 
Rechnung  griechischen  Dekorationsgeistes  setzen  dürfen.  Die  Heftel 
kannten  zwar  auch  schon  die  Vorbilder,  und  die  raumfüllenden  Punkte 
in  den  Bogenfeldern  sind  nur  analog  den  an  gleicher  Stelle  und  zu 
gleichem  Zw^ecke  verwendeten  Rosetten  in  der  egyptischen  Kunst 
(Fig.  22,  in  welcher  Reproduktion  aber  die  Rosetten  und  anderes  Füllsel 
der  Deutlichkeit  des  Grundschemas  zuliebe  weggelassen  wurde)  auf- 
zufassen. Wesentliche  Veränderungen  bemerken  wii*  aber  auch  an  den 
vegetabilischen  Einzelformen,  insbesondere  an  den  Blüthen. 


192  ^-   Das  Pflanzenovnameut  in  der  griechischen  Kmist. 

Es  ist  hier  der  Phitz.  niu  über  die  Fort1)i  Idimii'  der  altorien- 
t^lllschen,  g'enaner  gesagt,  der  egyptischeu  Blüthenuiot i ve  in 
der  griechischen  Kunst  iiherh;uipt  einige  Worte  einzuschalten.  An 
der  Knospe  Avar  allerdings  nicht  viel  zu  iiiulern:  die  Palmette  erfordert, 
als  eine  ganz  specielle  Projeetionstbrm.  eine  gesonderte  Betrachtung, 
die  sie  weiter  unten  an  geeigneter  Stelle  finden  wird.  Hier  soll  niu* 
von  dem  Motiv  der  Lotusblüthe  selbst  die  Rede  sein.  Wenn  man 
nicht  annehmen  will,  dass  alle  kunstübenden  Mittelmeervülkcr  im 
Alterthum  spontan  das  dreiblättrige  Profil  zur  Darstellung  von  Blüthen 
in  der  Seitenansicht  erfunden  und  gewählt  haben,  so  muss  man  noth- 
gedrungenermaassen  alle  diese  Formen  —  direkt  oder  indirekt  —  auf 
egyptischen  Ursprung  zurückführen,  da,  wie  wir  gesehen  lial>en,  die 
Egypter,  soAveit  die  Denkmäler  zurückreichen,  weitaus  die  Ersten  ge- 
wesen sind,  die  den  dreil)lättrigen  Kelch  (mit  eingeschalteter  viel- 
blättriger Krone)   für  das  Lotusprofil  geschaffen  und  verwendet  haben. 

Inwiefern  nun  die  Mittelmeervölker,  die  das  Motiv  der  dreiblätt- 
rigen Profilblüthe  übernahmen,  sich  dabei  auch  der  Bedeutung  des 
Lotus  bewusst  gewesen  sind  und  dieselbe  mit  ihren  Imitationen  des 
^Motivs  verknüpft  haben,  ist  heute  nicht  mehr  zu  entscheiden.  Von 
den  Griechen  etAva  des  6.  Jahrhunderts  aber  wird  man  es  bestimmt 
verneinen  können:  ihnen  war  die  Lotusblüthe  gewiss  kein  hieratisches 
Symbol,  sondeni  rin  l)Iosses  Dekorativ,  da  wir  in  crstcrcni  Falle  dut'li 
gewiss  irgendwelche  schriftliche  Anhaltspunkte  dafür  erhalten  hätten. 
Die  Stilisirung  der  Lotusblüthen  konnte  somit  zu  dieser  Zeit  wohl 
nur  mehr  unter  künstlerischen  Gesichtspunkten  erfolgen.  Solcher 
künstlerischer  Gesichtspunkte  sind  in  der  Tliat  viele  denkbar,  und 
nachdem  einmal  die  Tradition  durchbrochen  Avar,  man  vor  einer  Modi- 
tikation  der  überlieferten  Form  nicht  mehr  zurückscheute,  war  für  die 
Neubildungen  eigentlich  gar  keine  Grenze  mehr  gegeben.  Wir  müssen 
uns  vielmehr  Avundern,  dass  die  Griechen  lui  iln'en  rnil>ihliing<'n 
Avenigstens  zunächst  noch  so  viel  Maass  bewahrt  haben. 

Eine  dieser  Umbildungen  liegt  vor  in  den  Blüthen  des  iiogen- 
frieses  A^on  Fig.  8!t.  Die  (h-eispältige  Bliithe  ist  unverl<ennbar  uml 
darin  beruht  eigentlich  in  der  Hauptsache  die  VerAA'andtschal't  mit  dem 
egyptihcheii  Lotnspi'ofil.  Der  kyrenische  Lotus  ist  nacli  oben  stark 
eingezogen;  dies  kninint  zwar  auch  an  egyj)tisclien  Peispielen  vor 
(Fig.  Z~),  aber  diese  letzteren  laden  dann  doch  oben  wieder  in  eine 
au.sgesprocliene  Kelchform  aus,  Avälirend  die  kyrenische  Hlüthe  sich 
birnförmig  zu  einem  engen  Halse  schliesst   und  dann  erst   die  krönen- 


7.    Die  Ausbildung-  der  Ranken-Bordüre.  193 

den  drei  Blätter  strahlenförmig  entsendet.  Halten  Avii-  nun  damit  Lotus- 
blüthen  zusammen  wie  in  Fig.  83,  85.  Man  möchte  auf  den  ersten 
Blick  kaum  geneigt  sein,  darin  das  gleiche  Grundmotiv  zu  erkennen, 
wie  in  Fig.  89.  Und  doch  liegt  dasselbe  auch  den  Figg.  So  und  8.")  zu 
Grunde.  Das  mittlere  von  den  drei  Blättern  ist  eben  an  den  letzteren 
nicht  deutlich  als  Kelchblatt  hervorgehoben,  sondern  mit  den  die  Krone 
bildenden  Blättern  vereinigt;  die  ausladenden  seitlichen  Kelchblätter 
stehen  Aviederum  dem  egyptischen  Typus  ganz  besonders  nahe. 

Die  untere  Partie  ist  ferner  ebenfalls  beiderseits  ganz  verschieden 
gebildet:  an  Fig.  89  in  tropfenförmiger  Rundung,  an  Fig.  83  und  85 
doppelbogig  ausgeschnitten.  Letzterer  Umstand  hängt  aber  mit  dem 
Voluten-  (oder  Schlingen-jKelch  zusammen,  auf  welchen  die  Blüthe 
gestellt  ist,  Avährend  an  Fig.  8!»  kein  Kelch  vorkommt.  Der  Yoluten- 
kelch  ist  nun  keine  nothwendige  Beigabe  der  Lotusblütlie:  Avir  treffen 
ihn  erst  verschämt  an  assyrischen  Beispielen  (Fig.  34),  namentlich  aber 
an  griechischen,  infolge  der  Verquickung  mit  der  Spiralrankenoriia- 
mentik.  Wo  das  griechische  Lotusprofil,  auf  einen  Kelch  aufgesetzt, 
vorkommt,  dort  ist  dasselbe  auch  in  seinem  unteren  Theile  ent- 
sprechend gestaltet^ i;  wo  der  Kelch  hinwegfällt,  ist  auch  der  untere 
Theil  der  Blüthe  rund,  ja  mitunter  sogar  in  ,convexen  Doppelbogen 
ausladend  (Fig.  104—106). 

EntAvicklungsgeschichtlich  hängen  alle  diese  vielgestaltigen 
Variationen  des  Profillotus  auf's  Engste  unter  einander  zusammen. 
Damit  soll  nicht  gerade  gesagt  sein,  dass  sich  die  Griechen  nicht  ganz 
konkrete  Species  von  Blumen  darunter  gedacht  haben:  doch  wird  die 
Entscheidung  hierüber  heute  gerade  so  schwierig,  wo  nicht  unmöglich 
sein,  wie  hinsichtlich  der  neueren  persischen  Dekorationstiora.  Wenn 
also  Dümmler  in  einer  Variante  der  dreispaltigen  Blüthe'')  eine  Eose 
erblicken  will,  so  mag  er  vielleicht  Recht  haben:  viel  zweifelloser 
dürfte  aber  das  Recht  des  Kunsthistorikers  sein,  die  betreffende  Blüthe 
als  Lotus  in  Seitenansicht  zu  bezeichnen,  womit  zwar  nicht  die  Bedeutung 
des  Motivs  bei  den  darstellenden  Griechen,  wohl  aber  seine  kunstgeschicht- 
liche Stellung  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  zum  richtigen  Ausdrucke 
gebracht  erscheint. 

Nach  dieser  allgemeinen  Bemerkung  über  die  freie  Behandlung- 
der  Lotusblüthe  in  der  orriecliischen  Kunst  kehren  v^iv  zur  Betrachtuno- 


•*)  Z.  B.  an  den  attischen  Simen,  Ant.  Denkm.  1.  Taf.  50.  —  Vgl.  uns.  Fig.  98. 
^)  Römische  Mitth.  1888.  Taf.  VI.  S.  161. 

Riegl,  Stilfragen.  1" 


194 


B.    Das  Pflanzenornaiiu'ut  in  der  uriochischeii  Kunst. 


der  vegetabilischen  Bordüventbrmen  zurück  und  verweilen  noch  bei 
der  ersten,  bisher  g'enannten:  beim  Bogenfries.  Eine  leliendigere  Varin- 
tion  desselben,  die  auch  die  assyrische  Kunst  (S.  97),  dann  die  kypri- 
sche  (^S.  löOi  kannte,  wurde  erzielt,  sobald  man  ZAvei  Bogenfriese 
einander  überschneiden  Hess.  Eine  Beigabe  in  s}tecitisch  griechischem 
Geiste  waren  ferner  die  Bogenlinien.  die  man  —  namentlich  an  blossen 


Fi-.  90.  FiK.  i'l- 

Gemalte  griecliisehe  Vasüiiornaineuto. 

Knosiienfriesen  (Fig.  DO)'')  —  von  Spitze  zu  Spitze  lauten  licss,  so  dass 
sie  der  entgegen  gesetzten  Bogenreihe  des  Frieses  die  Wage  hielten  und 
die  einseitige  K'ielituiig  (Icssclbcn  ;inf]iol)cii. 

Ein  zweite  Art  vnn  st i-cifeu förmiger  Verbindung  vegetal)ilisclier 
.Alotive  geht  aus  vom  Fleelnl)an(l  (Fig.  91)").  Das  Schema  tritt  uns 
fV-rtig  schon  an  den   Sarkopliagcn   von  Klazomenä  cntgt-gcn  (,Fig.  92)^); 


Fig.  ;»2. 

Von  einem  klazonienischen   Sarkoi)hag. 

i)i    ii't/.ti-rcui    i-'alli-     ist     aber    (his    Mcclitli.iiid    die    li.iupts.iclic,    dir  r,il 
niettenfächer  lilosse  accessorische  Zwickell'iilluiigen.     In   I'"ig.  IM    ist   (bis 
Flcchtband  auf  ein  sehr  Tlcringes  zusammen  g('scln"nin|iri :  dif  iiiiiilicn- 

•')  Es  ist  aber  auch  inii^i-iicli,  dass  die  l'ün/cleleniente  als  l'.lütlicn  gc- 
daclit  sind,  deren  scitliclic  Krfinonl)lättcr  nnniittf'n)ar  in  die  v('rl)infli'nd('n 
I»ogen  übergehen- 

';  Dieses  P»eisiiiel    ist  ancli   lelnrcich   liir    div   N'arürung    des  Lolusia-olils. 

'j  Ant.  Denkni.  I.  Taf.  1.". 


7.    Die  Ausbildung-  der  Ranken-Bordüre.  |95 

motive  sind  die  Hauptsache  geworden  und  sollen  nicht  mehr  Zwickel- 
füllungen  sein,  was  sich  schon  darin  deutlich  ausspricht,  dass  nicht 
jeder  äussere  Z^vickel  des  Flechtbandes,  sondern  nur  jeder  zweite 
durch  eine  Blüthe  gefüllt  erscheint.  Das  Aufsetzen  eines  Lotus  oder 
eines  Palmettenfächers  auf  zwei  Schlingen,  anstatt  auf  einen  Voluten- 
kelch war  ja  auch  sonst  gebräuchlich,  Avofür  bloss  auf  die  Fig.  83,  84 
zurück  gewiesen  zu  Averden  braucht. 


Fig.  93. 
Gemaltes  griechisches  Vaseuornament. 

Ein  drittes  JMedium  zu  friesartiger  Aufreihung  vegetal)iliscliei' 
Einzelmotive  bildete  die  einfache  gerade  Linie:  also  der  Blätter ziveif]. 
In  älterer  Zeit  Avaren  es  gewöhnlich  ,,Epheublätter",  späterhin,  in  der 
naturalisirenden  Periode,  Lorbeerblätter,  womit  man  den  Zweig  be- 
setzte. Specifisch  griechisch  ist  die  häutig  vorkommende  Schwingung 
der  Blattstengel  (Fig.  93). 

Die  vierte  Art  bildet  die  Wellenranke,,  und  zwar  in  der 
schwarztigurigen  Zeit   vornehmlich  die  intermittirende  Wellenranke. 


Fig.  y4.  •      Fig.  95. 

Verzierungen  einer  etruslcischen   Elfenbeinsitula  aus  Chiusi. 

Die  Kelche  an  den  Intermissionsstellen  fallen  häutig  hinweg,  so  dass 
die  ^lotive  genau  so  unvermittelt  an  die  Rankenstengel  ansetzen  wie  zu 
Mykenä  (Fig.  52).  Einer  Verkümmerung  der  Blüthenformen  (Fig.  94)-') 
begegnen  wir  an  der  bekannten  Elfenbeinsitula  aus  Chiusi:  dass  in 
diesem  Falle  thatsächlich  das  intermittirende  Schema  zu  Grunde  liegt, 
beweist  Fig.  95,  wo  die  zur  Intermission  verwendeten  Blüthen  deutlich 
mit  dem  dreispaltigen  Prolil  charakterisirt  erscheinen.  Das  Stück  ist 
übrigens  so  merkwürdig,  dass  es  von  ornamentgeschichtlicliem  Stand- 
punkt eine  besondere  Besprechung  verdiente. 


3j  Mon.  ined.  X.  39  a. 

13^ 


196 


B.    Das  Prtanzononiament  in  der  aTiechischen  Kunst. 


Ich  seliliesse  daran  sofort  eine  Skizze  der  Fortentwicklung* 
der  Bluraenrankenfriese  in  der  rotlii'igurigcn  Zeit.  söAveit 
daran  uiclit  schon  eine  ausgesproclien  naturalisirende  Tendenz  zu 
Tage  tritt.  Diese  Tendenz  wird  am  nachdrückliclisten  markirt  durcii 
das  Aufkommen  des  Akanthus,  das  wir  etAva  um  430 — 450  w  Clu-.  an- 
setzen können.  Doch  haben  sich  die  strengeren  stilisirten  Formen 
noch  viel  länger  gehalten,  insbesondere  in  den  besäumenden  l^ordürcn, 


Fig.  96. 
Gemaltes  i^riechisches  Vasonoinamonf. 


deren    knappe  Enge    einer    freieren  Beliamllung    von  vornherein   nicht 
günstig  war. 

An  den  rutlitigurigen  Vasen,  für  deren  Beurtlieiinng  wir  allo-- 
dings  fast  ausschliesslich  auf  das  attische  Troduktionsgebiet  angewiesen 
sind,  begegnen  Avir  einer  zunehmend  spielenden  Beliandlung,  nicht 
bloss  der  ül)erkommenen  Motive,  sondei-n  aueli  ihrer  Verltindungen. 
Dabei  sind  die  Tyi)en  selbst  eigentlieii  ;iuf  wenige  Ix'sclu'änkt.  Die 
fortlaufende  AVellenranke  kommt    A\ie(hT    in    umfassenderen  (4el»raueli: 


Fig.  97. 
Gemaltes  griechisches  Vascinirnamcnt. 


ihre  AN'iiiduiigen  sind  liöchst  elegant,  die  angesetzten  r.i]iiieii<ii  folgen 
densellte-n  in  einer  sclirägen  Projektion  (Fig.  HC»),  die  nni-  durch  JeA\ci- 
lige  entsprechende  Anpassung  der  Eiuzelbhitter  eiv.ielt  Axerihii  kann. 
Dieselbe  auf  lehendigere  Bewegung  gericliiete  'l'cndeiiz  ausser)  sich 
an  der  intcnnittirenden  AVellenranke  (Fig.  It?) :  die  Palmetten  sind 
nicJit  starr  und  steif  nach  (jben  und  unten  gekehrt,  scnkreciit  zur  UMeh- 
tung  des  Frieses,  wie  seit  dem  melischen  Beispiele  Fig.  53  allezeit,  soli- 
dem scljräg  wie  sclmn  in   .Mykenii  (Fig.  52). 


8.    Die  Ausbildimo"  der  Eankon-Fülluns-. 


197 


Daneben  kommen  komplieirtere  Formen  vor,  die  aber  sämmtlieli 
aus  spielenden  Kombinationen  der  überlieferten  Formen  erklärt  werden 
können'^).  So  g'eht  z.  B.  Fig.  98  auf  das  einseitige  Lotus -Palmetteu- 
Band  zurück,  unter  spielender  Vereinigung-  des  Bogenfrieses  mit  den 
Schllngenkelchen  und  der  Palmetten-Umschreibung. 


Fig.  98. 
Gemaltes  trriechisches  Vasenornameut. 


8.    Die  Ausbildung  der  Eanken-Füllung. 

Solange  die  Pflanzenranke  sieh  bloss  in  der  Längenrichtung,  in 
Streifen-  oder  Friesform,  entwickeln  konnte,  blieb  ihr  die  volle  Freiheit 
der  Bewegung  versagt.  Diese  Avurde  ihr  erst  dort  gegeben,  wo  sie 
sich  nicht  bloss  nach  der  Länge,  sondern  auch  nach  der  Breite  ent- 
falten konnte.  An  den  Thongefässen,  die  hiefür  leider  so  ziemlich 
unser  einziges  Untersuchungsmaterial  bilden,  ist  dies  —  wie  schon 
früher  erwähnt  wurd*-  —  im  Wesentlichen  bloss  an  und  unter  den 
Henkeln  geschehen.  Immerhin  lässt  sich  daran  mit  genügender  Deut- 
lichkeit der  Weg  verfolgen,  welchen  die  Pflanzenranke  genommen  hat, 
um  beliebig  begi-enzte  Flächen  mit  vollkommener  Freiheit  und  dennoch 
unter  Beobachtung  der  dekorativen  Grundgesetze  von  Rhytlimus  und 
Symmetrie  zu  überziehen.  Damit  ist  zugleich  gesagt,  dass  wir  dem 
End-  und  Zielpunkte  der  ganzen  Entwicklung  zueilen. 

Bevor  war  aber  auf  den  Schlussprocess  selbst  eingehen,  muss  noch 
einer  eigenthümlichen  Dekorationsweise  gedacht  werden,  welche  an- 
scheinend mit  dem  vorgeschrittenen  Stadium  der  Entwicklung,  dem 
wir  uns  nun  nähern,  wenig  zu  thun  hat.  Es  ist  dies  die  Art 
der  Grundmusterung  auf  den  korinthischen  Vasen.  Diese  Vasen  sind 
gTösstentheils  mit  figürlichen  Darstellungen  verziert.  Zwischen  den 
Figuren    bleibt    viel    Grund  frei  und  da   diese   Vasengattung  der  Zeit 


'")  Es  ist  dies  wenig-er  in  der  attischen  Kunst  als  in  der  italischen  g-e- 
schehen,  vgl.  z.  B.  die  pränestinischen  Cisten,  Mon.  iucd.  VIII.  Tat'.  7,  29,  30. 


198  ^-    Das  PHaiiy-ononiament  in  der  g-riecliischen  Kunst. 

inul  Technik  nach  ziemlich  arc-haischcn  Charakters  ist,  so  kcinn  es  uns 
nicht  überrascheu,  zur  Ausfüllung"  des  Grundes  Streumuster  verwendet 
zu  sehen,  Avie  sie  der  Dipyloustil  in  die  Kunst  auf  griechischem  Bod(Ui 
gebracht  hat,  und  in  der  Folg'c  auch  der  melische,  rhodische,  frühattische 
u.  s.  w.  Stil  besessen  haben.  Man  wird  inlblg'e  dessen  mit  vollem  Kin-ht 
fragen  dürfen,  aus  welcher  \'eranlassung  der  korinthische  Dekorations- 
stil nicht  in  einem  früheren  Kapitel  behandi-lt  worden  ist?  Die  Säumniss 
war  aber  eine  absichtliche  und  ist  aus  dem  (irunde  erfolgt,  weil  das 
korinthische  Streumuster  in  überaus  lehrreicher  und  interessanter  "Weise 
die  Tendenz  zeigt,  den  Weg-  zu  einem  zusammenhängenden  Fli'u-hen- 
muster  zu  linden. 

Das  Element  des  korinthischen  Streumnsters  ist  die  Rosette, 
ebenso  wie  an  assyrischen  Kunstwerken").  Möglicherweise  ist  atich 
eine  Beeinflussung  vom  Oriente  her  dahinter  zu  vermuthen.  "Wa.s  aber 
gcAviss  nicht  orientalisch  ist,  das  ist  die  eigentliümliche  \'(.'rwendiing, 
die  der  korinthische  Stil  mit  der  Rosette  vorgenonmien  hat.  Die 
Rosetten  sind  da  nämlich  nicht  bloss  gemäss  dem  jeweilig  auszufüllenden 
Räume  gi'össer  oder  kleiner  gebildet  —  das  ist  in  gewissem  IMaasse 
auch  an  den  assyrischen  Denkmälern  der  Fall  —  somlern  ihre  Kon- 
turen schmiegen  sich  auch  vielfach  den  Umrissen  der  menschlichen 
Figuren,  (Jeräthe  u.  s.  w.  an,  denen  sie  unmittelbar  benachbart  sind. 
Bei  fortgesetzter  Vervojlkummnung  dieses  Processes  konnte  es  schliesslich 
nicht  ausbleiben,  dass  der  Habitus  einer  Rosette  an  den  Fidlmotiven 
vollständig  verloren  ging  und  ganz  eigenartig  verzogene  Kontigura- 
tionen  entstanden,  dii-  wir  vergebens  versuchen  würden  in  dem  vor- 
handenen (inuimentalen  l-'(irnienschatze  uniei'/ultriiigeii.  Es  ist  dies 
aber  auch  gar  nicht  nothig,  weil  die  Ornamente  ihre  Gestalt  sozusagen 
von  den  tigüriichen  Darstellungen,  zwischen  denen  sie  eingespannt  sind, 
erhalten   haben'-). 

.Man  nehme  als  Beispiel  die  Schale  mit  dem  Reigentanz  Fig.  '.>'.>. 
Das  Streumuster  erscheint  hier  auf  die  eben  lieschi'iebene  Weise  dazu 
venvendet,  um  eine  beliebige  gegebene  l'Mäclie.  nuter  \'ei'nieidnug 
fh'i-  im  I)i]iylon  üblicli  gewesemn  langweiligen  geonieirix'hcn  Liiiieii- 
f-.mbiuationen ,  möglichst  vollständig  auszufüllen.  Darin  liegt  der  Be- 
nilirnng>i>nukt  mit  dei-  Aufgabe,  welche  dem  Raid<enornanH'Ute  gestellt 
wai-   und    «leren   Lösung   wir   im    Begritte  stehen    xu    verf<ilg<n.     Ilin/.ii- 

"j  Z.  B.  Lavar«!   1.    l.il.  IM. 

'*)  Masner,  die  Saunniung  antiker  Vasen  und  Trnacitteii  im  k.  k.  iistcrr. 
Museum,  S.  9,  Fig.  <^l;  hicuacli  unsere  Fii,^  J>9. 


8.    Die  Ausbildung'  der  lianlcen-Füllun";. 


199 


j2:efügt  darf  noch  werden ,  dass  die  korinthische  Vasengattung  eine 
derjenigen  ist,  auf  denen  sich  am  allerfrühesten  eine  entschiedene 
Neigung  kundgieht,  überwiegend  figürlichen,  gegenständlichen  Schmuck 
anzubringen.  In  diesem  Lichte  begreift  sich  auch,  warum  die  korinthi- 
schen Vasenmaler  nicht  bei  der  Rosette  als  blossem  Streumuster  nach 
assyrischer  Weise  stehen  geblieben  sind'^). 

Nun  Avenden  wir  uns  dem  Pflanzenrankcnornament  selbst  zu  und 
untersuchen,  in  welcher  Weise  dasselbe  in  der  Umgebung  der  Vasen- 
henkel sich  entfaltet  hat. 

Auf  die  Verwendung  der  Ranke  unterliall»  des  Henkels  kann  die 
Stilisirung  der   Henkelattaclie   in  Form   <'incr  Palnictte   von  E^inÜuss 


Fig.  ay. 

Korinthische  Sfliale. 


gewesen  sein:  aber  diesen  Einfluss  als  so  sicher  liinzustellcn  Avie  es 
gewöhnlich  zu  geschehen  pflegt,  halte  ich  nicht  für  gerechtfertigt. 
Zweifellos  liegt  der  Palmette,  avo  sie  als  Henkelattache  vorkommt,  die 
gleiche  Empfindung,  das  gleiche  Postulat  zu  Grunde,  Avie  den  unter- 
schiedlichen lotusmässig  stilisirten  Angriffspunkten  an  egyptischen 
(S.  65)  und  assyrischen  (S.  99  Amn.  62)  Geräthen  u.  s.  av.  Sie  findet  sich 
auch  frühzeitig  auf  griechischen  Vasen  (aber  nicht  auf  der  mykenischen 
Kriegervase)  in  der  Gegend  der  Henkel  aufgemalt,  aber  seltsamermaassen 
nicht  als  Umfassung,  Markirung  des  Ansatzpunktes  der  Henkel,  sondern  in 


'^)  Eine  ähnliche  Tendenz  nach  Ausfüllung  des  Grundes  ZAvischen  den 
Ornament-Ranken  befolgten  die  attischen  Vasenmaler  vom  Ende  des  5.  Jahrb.: 
die  Stelle  der  Rosette  vertrat  hier  aber  die  tropfenförmige  ZAvickelfüllung, 
die  dann  oft  nach  Bedarf  kleksartig  verbreitert  erscheint. 


'JQO  B.    Das  Pflaiizeiiovnamont  in  der  g-riechischen  Kunst. 

dt-r  Mitte  z-*\-iseh('n  bt'idcn  Ansatzpunkten:  so  aufBöhlnirs  ..trüliattisclicr" 
Vaso.  Arch.  Jahrb.  1887,  Taf.  4.  Allerding-s  fehlt  es  aus  scliAvarzfigurio-er 
( und  rothtiiatrig'«'!' I  Zeit  auch  nicht  an  Beispielen,  avo  die  Pahnett(>  tliat- 
sächlich  als  ornanicntalc  Verklcidunii'  der  Ansatzpunkte  des  Henkels 
iirltt-n  darf'*).  An  der  ..kyn-nischen"'  Schah»  Fig-.  8'.)  sind  die  Pal- 
nn-tten  von  den  Henkeln  horizontal  seitwärts  g-erichtet.  Sei  dem  aber 
wie  immer:  das  Entscheidende  für  uns  ist,  dass  man  bei  der  isolirten 
Palmette  nicht  stehen  grebliel^en  ist,  sondern  die  l'flanzeni'auke  dazu  in 
^'erwendung-  g:ezog'en  hat. 

Hierfür  Avar  bereits  ein  geeignetes  ]Motiv  vorgeVüldet.  das  nicht  in 
gestreckter  Längenrichtung  zu  verlaufen  brauchte,  sondern  in  centralem 
Sinne  für  sich  abgeschlossen  werden  konnte.  Es  Avar  dies  das  Ranken- 
geschlinge, das  wir  auf  S.  187  f.  an  der  Hand  des  ehalkidischen  Beispiels 


rig.  100. 

Ilenkcl-Ornainent  von  einer  korinthischen  Schale. 

Fig.  88  diskutirt  Jiaben.  I'iid  in  der  That  hat  dieses  !\Ioti^•  in  seiner 
♦'Trundconiposition  den  Ausgangspunkt  Avenigstens  für  (Mne,  allerdings 
sehr  verbreitete  und  maassgebende  Art  der  Rankenverzierung  gebildet, 
wie  sie  sich  unter  und  über  den  Vasenhenkeln  in  schwarzfiguriger  Zeit 
entfaltet  und  in  rothfiguriger  Zeit  die  freieste  Ausbildung  erlangt  hat. 

Fig.  100  ist  entlehnt  von  einer  korinthischen  Schale  im  (^esterrei- 
chischen  Museum  CKat.  No.  107).  Das  Rankengesehliugc  ist  hiei-  unter 
dem  Heid<el  auf  eine  sein-  einfache  Form  reducirt.  Es  ist  eine  l\aid<e 
mit  ..gegenständigem"  Lotus  und  Palmette,  der  Lotus  durchzogen  vnn 
einem  zweiten  l^ankenbande,  das  sich  mit  dem  ersten  verschlingt;  die 
Enflen  der  Ranken  sind  spiralig  eingerollt. 

ScliAvarzfigurig  ist  auch  No.  227  im  Oesterr.  Museum,  wovon  Fig.  l(i] 
entleinit  ist.  Deutlieh  tritt  noch  die  centrale  Anordnung  her\  or,  streng 
nach   symmetrischer   \eitlieilung,    xüllig   im    leiste    des    ehalkidischen 

")  Die  Sammlung  antiker  V^asen  etc.  im  k.  k.  iistcrr.  Museum  Xo.  -JIT, 
Taf.  II  an  <li  n    llori/fintallicnUeln  anstatt  der  l'alnicttcn   IJosotten. 


8.    Die  Ausbilduno-  der  Ranken-Fülh\n2,-, 


201 


Fig.  101. 

Henkel-Ornament  von  einer 

griechischen  Amphora. 


Fig.  102. 
Henkel-Ornament  von  einer  Amphora. 


Fig.  103. 
Henkel-Ornament  von  einer  Amphora. 


202 


B.    Das  PHan/.eiiornanKMit  in  der  üTiochischeu  Kunst. 


Rankeiigeschlinges  Fig.  88,  aber  unter  weit  feinerer  und  eleganterer 
Behandlung  der  Details,  sowohl  tler  subtil  gezeichneten  Blütlien.  als 
der  langen  dünnen  Kanken. 

Fig.  10-2  staniuit  von  einer  Vase'-'),  an  welcher  seliwar/.liguriger 
(am  Halse)  und  rothtiguriger  (am  Bauche)  Stil  sieh  vermengen.  Das 
Geschlinge  trägt  noch  deutlich  den  Typus  von  Fig.   100  zur  Schau. 

Dagegen  tritt  uns  mit  dem  noch  von  einer  spät-schAvarzhgurigen 
Vase  (der  Nikosthenes- Gruppe)"^)  stannnendeh  Beispiel  Fig.  103.  ein 
wesentlich   Neues  entgegen.     Der  centrale  Bezug   ist    unti'rdriiekt.    die 


Fig.  104. 
nenkel-Ornamcnt  von  einem  Sfauinos. 

Symmetrie  keineswegs  i)einlich  beobachtet.  Eine  einzige  Ranke  ist  es, 
die  hin  und  herläuft  und  .jedesmal  drei  KinrollungcMi  aufweist:  (hnon 
zweigen  zwei  Spiralrankcii  nnd  drei  Lotusblüthen  ali,  diese  letztei-en 
an  reich  geschwungenen  Stengeln.  AVo  zwischen  den  lieiden  ;iussei-ste)i 
Kinrollnngen  links  etwas  melir  fii'iiiid  frei  l)lieli.  crsrlicini  ein  llicuiiidci- 
Vog(d  eingesetzt. 

Das  ist  viel  des  Neuen  ;inf  fiiim.'d   und   \ri-dieiit   näher  betr,ieliii't 
zn   wei'den.     Das  Autlalligste  ist  das  Ileraussitri  ngen  ;ius  derSyni- 


'^)  Masner,  Sarimihm;,'-  ant.  Vasen  etc.  im  österr.  .Mus.  Nn.  319,    (Dikc  ini<i 
Aflikia). 

••■;  K)).-nfla  No.  2:51. 


8.    Die  Ausbilduiio-  der  Ranken-Fülluno-. 


20^ 


metrie.  Dies  bat  man  sicherlich  —  niclit  liloss  zu  Xikostliciies'  Zeit, 
sondern  auch  später  —  als  Durchbrechung-  der  künstlerischen  Schranken 
angesehen,  denn  eine  Nachfolge  in  so  entschiedener  Richtung  lässt  sich 
selbst  in  vorgeschrittener  rothfiguriger  Zeit  nur  vereinzelt  beobachten. 
Aber  bezeichnend  ist  der  Versuch  immerhin  für  die  Tendenz,  die  zu  Jener 
Zeit  geherrscht  hat,  —  die  Tendenz,  die  ererliten  Fesseln  zu  sprengen, 
das  Rankenornament  frei  zu  entfalten.  Nur 
ist  der  Vasenmaler  von  Fig.  103  darin  für 
seine  Zeit  entschieden  zu  weit  gegangen. 
Das  Resultat,  wie  es  in  Fig.  103  vor- 
liegt, ist  auch  kein  sonderlich  l)efriedigen- 
des.  Besser  haben  die  Aufga1)e  die  roth- 
ligurigen  Vasenmaler  gelöst,  die  den  Ran- 
kenzweig kranzartig  um  den  Henkel  her- 
umgelegt haben  (Fig.  104)  '").  Selbst  die 
sogen,  nolanischen  Vasen  mit  den  einzelnen 
Zweigen  unter  jedem  Henkel  nehmen  mehr 
Rücksicht  auf  die  Symmetrie.  In  einem 
Falle '^)  fassen  die  beiden  Zweige  —  je  einer 
unter  jedem  Henkel  —  das  Vasenbild  in 
der  Mitte  ein,  so  dass  im  Allgemeinen  eine 
Symmetrie  wenigstens  zwischen  den  beiden 
Zweigen  unter  einander  herrscht.  In  einem 
a)ideren  Falle  (Fig.  105)'-')  spaltet  sich  der 
Zweig  oben  in  zwei  Ranken,  die  wiederum 
den  zwischen  ihnen  liegenden  Henkel  sym- 
metrisch flankiren.  Im  Uebrigen  stehen 
diese  nolanischen  Vasen  in  der  Tliat  in 
ihrer  asymmetrischen  Erscheinung  dem 
Schema  von  Fig.  103  sehr  nahe ,  bilden 
zusammen  mit  diesem  und  mit  den  min- 
der seltenen  Beispielen  gleich  Fig.  104  eine  Ausnalnne,  und  lassen 
sich  ebenfalls  als  eine  —  vom  Standpunkte  griechischer  Kunstempfin- 
dung —  zu  weitgehende  Befreiung  von  den  Fesseln  der  dekorativen 
Komposition  erklären.     Dass  uns  übrigens  Fig.  103  an   einer  Vase  aus 


LJiiMPJ^^ 


Fig.  105. 

][enkel-Orn;unent  von  einer 

nolaiiischeu  Vase. 


")  Masner,   Die  Sammlung-  antiker  Vasen  etc.  im  österr.  Mus.  No.  339. 
'«)  Brunn-Lau  XXV.  2,  2a. 
'9)  Ebenda  No.  3. 


204 


B.    Das  Priauzonornament  in  der  a-viochischon  Knust. 


drill  Kreise  des  Xikostlii-ncs  cntgvg-cntritt.  kann  lii-radc  hei  diesem  nielir 
AVnnder  iielimen,  wo  wir  ja  gewohnt  sind,  mitunter  den  seltsamsten 
Kumbinatioiieii  von  Motiven  zu  begegiKm.  Kleinere,  minder  anflfällige 
Durchbrechungen  der  strengen  Symmetrie  im  Henkel-Eankenornament 
sind  aber  in  rothfiguriger  Zeit  sehr  häutig  gewesen  (z.  B.  Fig.  lOG) '-'"). 
Der  an  Fig.  93  beobachtete  Yersucli  lag  also  sozusagen  in  der  T.nft: 
in  der  outrirten  Fassung,  die  ihm  der  Xikosthenes-Kreis  gegebin.  reizte 
er  nicht  zur  Xaeliahmung,  aber  in  maassvollerer  Anwendung  wurde  er 
offenbar  als  jiikant   und  gefallsam  empiunden. 


]'lg.  lOG. 
IleakelOrnainent   vnn  eiuer  :ittisclien   \'ase. 


P^ntsprach  schon  das  gelegentliche  Verlassen  der  streng  synnne- 
ti-iselien  Anordnung  einer  Forderung  der  Zeit,  so  Avar  dies  nueli  uniso- 
melir  (lr|-  I-\-d]  liinsichtlieli  der  überwundenen  eentrabn  Anoril- 
nung.  Das  Oi-nament  ent\viej-;e|i  sieh  \oii  iinn  au  zwar  \nii  einem  be- 
stimmten Pnnkte  .-ins,  (h  r  ahiT  keinesAVegs  den  I\litti'liinid<t  zn  liildeii 
l.r.inrhi.  /n   dem  alles   reliri^c  in  konceiitrisclier  Bt'ziehnng  steht.     Die 


■"/  Im  kaiserl.  Münz-  und  Antikeii-Cabinct  in  Wien,  bn.-No.  GOS.  Die 
Blütlie,  Avelche  unten  die  S.vmnietrie  dui-eliluicht ,  ist  auch  benierkensworth 
we;^en  der  Vcrbindun;^'  fies  l-ntusinetils  mit  dem  gescidossenen  rahnetten- 
taclier,  die  uns  daran  entgegciitiitt :  also  ein  cgyiitischer  l'lconnsiniis.  alier 
unter  g-nechischer  Foringebun;r. 


8.    Die  Ausbildung  der  Ranken-Füllung-.  205 

Rankeil  entfalten  sich  vielmehr  symmetriscti  rechts  und  links  von  dem 
erwähnten  Punkte  in  freier  Weise ,  auf-  oder  absteigend,  wie  es  eben 
der  zur  Verfügung*  stehende,  mit  Ornamenten  auszufüllende  Raum  er- 
heischte. Fig.  106  bietet  ein  Beispiel  hiefür;  die  strenge  Symmetrie 
erscheint  gleich  in  diesem  Falle  unten  kapriciöser  Weise  durchbrochen 
durch  eine  abzweigende  Blüthe-'}. 

Das  dritte  Neue,  das  uns  an  Fig.  103  üljerraschend  entgegentritt, 
ist  der  eingestreute  fliegende  Vogel.  Die  Thierwelt  war  zwar  der 
archaischen  Dekoration  keineswegs  fremd ,  weder  Vierfüssler  noch 
Vögel.  Aber  die  spielende  Einstreuung  eines  Vogels  in  das  Rankeii- 
gezweig  Avar  ein  neuer  überaus  fruchtbarer  Gedanke,  der  bekanntlieh 
in  der  Folgezeit  in  der  dekorativen  Kunst  die  grösste  Verlireitung  ge- 
funden hat.  Völlig  neu  kann  man  gieicliAvolil  die  Verbindung  des  vege- 
tabilischen Ornaments  mit  Thierfiguren  in  der  Zeit  des  Nikosthcnes  auch 
nicht  nennen.  Es  findet  sich  schon  in  der  archaischen  Zeit:  auf  me- 
lischen^^)^  früliattischen-^)  und  chalkidischen'^*)  Vasen.  In  beiden 
letzteren  Fällen  tritt  es  aber  in  dem  steifen  „orientalischen"  Schema 
der  absolut  symmetrischen  Gegenüberstellung  (Wappenstil)  auf;  auf  der 
melischen  Vase  steht  der  Vogel  auf  der  Zwickelfüllung  eines  einzelnen 
Rankenzweigs.  Gefällig  und  wahrhaft  fruchtbar  wurde  die  Vereinigung 
erst,  sobald  die  Thierfiguren  in  eine  grössere  Komposition  des  Ranken- 
ornaments   eingesetzt  wurden.     Vielleicht  eines  der  frühesten  Beispiele 


-')  Für  die  Entwicklung  der  Palmettenranken  unter  den  Henkeln  der 
attischen  Schalen  hat  F.  Winter  kürzlich  im  Jahrbuch  des  kaiserl.  deutsch, 
ai-chäol.  Instituts  VII.  2  (Die  Henkelpalmette  auf  attischen  Schalen,  S.  105  bis 
117)  eine  Reihe  aufgestellt,  die  nicht  vom  centralen  Geschlinge,  sondern  von 
den  zwei  losen  Palmettenzweigen  der  sogen.  Kleinmeister -Schalen  ausgeht, 
deren  je  einer  sich  an  jedem  Henkelansatz  befindet.  Diese  zwei  getrennten 
Palmetten  werden  dann  in  der  Folge  mittels  einer  Ranke  untereinander  ver- 
bunden. Mit  fortlaufender  Entwicklung  Avird  die  Rankenver))indung'  eine 
immer  reichere,  freiere,  schwungvollere,  völlig  gemäss  dem  Processe,  den  Avir 
an  unserer  Entwicklungsreihe  (Fig.  100—108)  beobachten  konnten.  —  Leider 
kam  die  erwähnte  Arbeit  von  F.  Winter  zu  spät,  um  noch  eine  eingehendere 
Berücksichtigung  in  diesem  Kapitel  erfahi'en  zu  können.  Sie  behandelt  das 
Palmettenranken-Ornament  auf  räumlich  und  zeitlich  sehr  beschränktem  Ge- 
biet und  zeigt  deutlich  die  wesentlichen  Vortheile,  die  eine  sorgfältige  und 
genaue  Beachtung  des  rein  ornamentalen  Beiwerks  auch  für  Bestimmung  und 
Datirung  der  Vasen  im  Gefolge  haben  kann. 

22)  Conze  Taf.  IV. 

23)  Arch.  Jahrb.  1887,  Taf.  3. 
2^)  Fig.  88. 


2n6 


B.    Das  PHaiizenornamrnt  in  der  a-riochischi'u  Knnst. 


hii'tilr-^)  bietet  Fig'.  107,  ciitlcliiit  mii  einer  \';ise  liei  Brmin-Lau  XI.  1. 
Schon  die  Komjtosition  des  Rankenornanicnts  ist  hier  benierkeiiswcrth 
lind  für  sclnvarzhgurig:e  Zeit  überraselicnd:  allerdiuiis  entfaltet  es  sich 
nicht  anf  (b-ni  besehränkten  Kannir  nnter  den  Henkebi.  sondern  am 
Halse  ciniT  Amphora.  In  das  vegetabilische  Ornament  sind  nun  gleich- 
sam  zwickelfüllend  zwei  Hasen  eingestreut,  die  überdies  einander  nicht 
einmal  völlig  s\  nnuetrist-h  entspi-ei'hen. 

Das  Einstreuen  anima  lise  her  Wesen  in  das  K'a  nkenorna - 
ment  hat  dann  in  rothtigiiriger  Zeit  entschiedene  und  bedeutsame  Xach- 
folg:e  g-efunden.  Fig.  108,  nach  ArcliäoL  Zeitung  ISSO  Taf.  XI.  zeigt 
das    Scliultei'dni.iiueiii    einer    nocii    dem  5.   .lalii'liuiuleri    aiiü'eli("irenden 


Fig.  107. 
Griochiselies  Vascnornument. 


attischen  Lek\th(is:  ein  li.inkenzweig  irnift  herum  und  wird  \  on  einem 
schAveliendi-n  Kröten  mit  d<n  n;in(hii  g'efasst,  der  in  s])ielen(h'r  ^Veise 
in  die  Ranke  hineingesetzt  erscheint.  Zu  voller  l-aitfaltung  und  um- 
fassender Anwendung  gelangte  das  M<ni\  erst  in  hellenistisehei'  Zeit 
(z.  B.  am  Ilildesheimer  Silberkrater).  Die  ei'sien  Ansätze  dazu  waren 
wir  aber  im   Stande,  iioeh   l)is  in  die  .irehaische  Zeit   znnickzu\'erfnlgen 

und      alicll      die      liewee-endell     'i'endell/en       k  l;i  T/U  h '<iCI  1  ,      welche    .lUreille 


-■')  Was  ziigcni  liisst,  das  Beispiel  ohne  Weilci-es  in  die  Keiiie  an  iler 
iliiii  durch  die  Technik  anii-ewicseiicn  Sttdh-  aulV.unelinien.  sind  (He  mcln-lachen 
daran  zu  Tage  tretenden  Singularitäten,  worül)er  aucdi  brunn  im  Text  S.  21 
sicli  geäussert  liat.  Die  von  Letzterem  geg'cbenc  Erklärung  für  die  Durch- 
brechung der  Symmetrie  durch  die  Hasen  glaube  ich  durch  diejenige  ersetzen 
zu  sollen,  clie  sich  aus  dem  fledankengauge  »ler  obigen  Untersuchung  von 
selbst  ergiebt. 


8.    Die  Aiisbildimg-  der  Ranken-Fülluno". 


207 


solche  Entwicklung  hinarbeiteten,  —  Tendenzen,  die  im  Wesen  der 
griechischen  Dekorationskimst  seit  my kenischer  Zeit  begründet  lagen. 
Soweit  das  einseitige  Material ,  das  uns  zur  Beurtheilung  des 
Ganges  der  älteren  griechischen  Ornamentik  zur  Verfügung  steht,  einen 
allgemeineren  Seliluss  zulässt ,  Avar  man  in  der  Beherrschung  des 
Ptianzenrankenornaments  etwa  in  der  1.  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts  an 
das  erstrebte  Ziel  gekommen:  man  war  im  Stande,  eine  jede  gegebene 
Fläche  mit  dem  Rankenornament  in  gefälliger  Weise  zu  überziehen, 
Avobei    die    einzige   Schranke    in    der  Beobachtung    der  Symmetrie  im 


Fig.  108. 
Schulterornament  von  einer  attischen  I>ekythos. 


Allgemeinen  bestand.  Daneben  waren  kleine  AbAveichungen  \-on  der 
strengen  Symmetrie  nicht  bloss  gestattet,  sondern  sogar  gern  angelu-acht, 
Aveil  sie  den  Reiz  erhöhten,  das  Gefühl  der  LangeAveile  nicht  aufkommen 
Hessen,  und  dennoch  den  harmonischen  dekorativen  Gesammteftekt, 
der  eben  die  Symmetrie  im  Allgemeinen  forderte,  nicht  l^eeinträchtigten. 
Immerhin  blieb  der  Raum,  auf  dem  sich  das  Rankenornament  in  voller 
Freiheit  hätte  entfalten  können,  nocli  ein  sehr  beschränkter.  An  den 
Vasen  war  es,  Avie  wir  gesehen  haben,  die  Umgebung  der  Henkel,  um 
die  sich  das  Rankenwerk  herumschlängelte.  Die  grossen  Flächen  blieben 
noch  immer  den  figürlichen  Darstellungen  vorbehalten.  So  lange  der 
Process    der    aufsteio-enden    EntAviekluno-    insbesondere    in    der   Plastik 


208  ß-    Das  Ptianzenornamont  iu  der  gTiochischeu  Kxiiist. 

nicht  Yolleudet  war,  so  lange  man  noch  nicht  zu  Typen  gelangt  war, 
Avelche  den  Zeitgenossen  als  unübertrefflicher  Ausdruck  für  die  Gestalten 
der  heroischen  und  der  Göttersage  erschienen,  musste  das  blosse  Orna- 
ment nothgedrungeiiormaassen  in  der  Beaclitnui;-  zuriii-kstclicii .  auf 
untergeordnete  Stellen,  auf  Säume,  auf  Henkel.  Füsse  u.  dgl.  l)rseliräukt 
bleiben.  Auf  die  verhältnissmässig  geringe  Anfnierksandveit.  welche 
Phidias  dem  Ornament  zugcAvendet  liat .  wurde  ja  schon  öfter  hinge- 
AAiesen.  Als  aber  die  Höhe  erreicht  war.  da  drängte  sich  Aviederum  die 
Schmuckfreudigkeit  hervor,  um  nun  auch  zu  ihrem  Rechte  zu  gelangen. 
Es  äusserte  sich  dies  erstens  in  der  VerAvendung  der  geschattenen  tigilr- 
liehen  Typen  zu  rein  dekorativen  Zwecken,  wie  es  für  die  p(nnp(?.ja- 
nische  Dekoration  vor  Allem  charakteristisch  erscheint,  ferner  in  der 
Verwendung  blosser  Ornamente,  höchstens  tinter  spielender  Einstreuung 
tigürlichen  Beiwerks,  zur  Verzierung  ausgedehnter  Flächen,  was  in  der 
Zeit  Aor  und  bis  auf  Phidias  als  zu  nichtssagend  befunden  Avorden 
Aväre.  Dies  war  der  Moment,  da  die  Pflanzenranke  zur  vollen  Entfal- 
tung der  ihr  inneAvohnenden  Qualitäten  gelangen  konnte.  Dass  sie  die 
Befähigung  dazu  schon  aus  der  Zeit  vor  dem  4.  Jahrliundert  \-.  ('lii\ 
mitgebracht  liatte,  glaube  ieli  im  \'i)rstelienden  genügend  1)e\\iesen  zu 
liaben. 

Die  Ptianzeiwaiike  tritt  vuii  nun  an  in  iiu'er  \(')llig  freien  \'erwen- 
dung  auf  in  Begleitung  von  ^lutiven.  die  dei-  griechischen  Dekorations- 
kunst, soAveit  Avir  sie  bis  Jetzt  betrachtet  h;il)en,  ansi-heinend  fremd  ge- 
Aveseii  sind.  Es  Avurde  nun  ZA\,ir  schdu  w  ieihThoit  erklärt,  dass  es 
imu-rlialb  der  vorliegenden,  (hr  Entfaltung  des  lMi;tnzenranl;enonKinient>- 
im  Allgemeinen  gewidnu-ten  Untersuchung  zu  Aveit  führen  Avünle,  Aveiin 
Avir  zugleich  auch  die;  EntAvicklungsgeschichte  jedes  einzebieu  vegeta- 
bilischen Motivs  der  antiken  Ornamentik  An-rfolgen  Avollieu.  im  vor- 
liegenden Falle  handelt  es  sich  aber  um  d.is  Aufkommen  eines  Motivs, 
das  in  der  Geschichte  der  Pflanzenorn.inientik  hi  Jedi-r  B<-ziehuu:4-  als 
epochemachend  bezeichnet  AVerden  muss,  und  der  Process,  der  d.izu  ge- 
fühlt hat,  läuft  S(j  ]»ar;dlel  deuijenigen,  der  die  freie  f'.nl  f.ill  iing  der 
Hanken  zur  endlichen  Folge  gehabt  hat,  dass  wir  der  Entslehungsge- 
-chichte  dieses  Af.itivs  ,.in  besonderes  Kapitel  zu  widmen  bemüssigt  sind. 

'•>.    Das  AiitUoimiieii  des  AUaiithiis-Ornaineuts. 

Die  dreisjiältige  J^utushlülhe  in  l'rolil  und  die  P.dmeite  sind  >" 
ziemlich  die  einzigen  veg('ta])ilischen  Motive  gcAvesen.  mit  denen  die 
Giiechen  der  ;ii-ehMiselien  Zeit    und   l>i>  lieml»   zu   den    i'ersei-kiMegen   im 


9.    Das  Auftommen  des  Akanthus-Ornaments.  209 

Wesentlichen  ihre  Dekoration  bestritten  Iiaben.  Eine  untergeordnete 
Kolle  haben  daneben  einige  weitere  —  gleichfalls  im  antiken  Orient 
nachweisbare  —  Motive  gespielt,  die  wir  als  Lotusknospe,  Epheublatt 
und  Granatapfel  zu  bezeichnen  pflegen.  Natürlich  bedingte  dieses  Ver- 
harren bei  einer  kleinen  Auswahl  von  Motiven  nicht  auch  ein  starres 
Stillehalten  bei  bestimmten  Typen  im  Einzelnen.  Jedes  der  genannten 
Motive  hat  in  der  Zeit  vom  7.  bis  zum  5.  Jahrh.  v.  Ch.  seine  eigene 
Geschichte  gehabt,  und  Avenn  das  Material,  das  uns  heute  vorliegt,  nicht 
ausreichend  sein  sollte,  um  diese  Geschichte  in  allen  Einzelheiten  auf- 
zuhellen und  sicher  zu  stellen,  so  würde  es  doch  meines  Erachtens  ge- 
nügen, um  einen  diesbezüglichen  Versuch  zu  rechtfertigen.  Im  Rahmen 
dieser  der  Pflanzenranke  gCAvidmeten  Untersuchung  muss  ich  mich 
darauf  beschränken ,  mit  allgemeinen  Worten  die  Tendenz  zu  kenn- 
zeichnen, welche  die  Fortbildung  der  Lotus-  und  Palmetten-Typen  in 
älterer  griechischer  Zeit  augenscheinlich  geleitet  hat.  Wir  vermögen 
als  das  Treibende,  Gestaltende  lediglich  die  auf  das  Form-Schöne  ge- 
richtete Absicht  zu  erkennen.  Die  zwei  Grundformeln  —  der  dreispal- 
tige, spitzblättrige  Kelch  und  der  Fächer  über  dem  Volutenkelch  — 
waren  gegeben,  ihre  Ausgestaltung  erfolgte  in  derjenigen  Weise  wie  sie 
dem  Künstler  jeweilig  als  die  gefälligste  dünkte.  In  dieser  Tendenz  war 
ein  leise  naturalisireuder  Zug  bereits  eingeschlossen,  da  dieselbe  die 
steife  geometrische  Zeichnung  der  Vorbilder  nicht  Avohl  vertrug  und 
nach  einer  schwungvolleren  Belebung  verlangte. 

Das  weitaus  wichtigste  dekorative  Blütlu^nmotiv  wurde  im  Laufe 
der  Zeit  die  Palmette.  In  der  rothfigurig<m  Vasenklasse  hat  sie  die 
übrigen  aus  älterer  Zeit  stammenden  Motive  nahezu  verdrängt.  Die 
Geschiclite  der  griecliischen  Palmette  würde  allein  ein  Buch  füllen. 
Einzehn-n  ihrer  Entwicklungsphasen  haben  bisher  Furtwängler-'^)  und 
Brückner-')  ausführlichere  Erörterungen  gewidmet.  Die  einzelnen  Be- 
standtheile,  aus  denen  sich  die  griechische  Palmette  zusammensetzt,  sind 
bis  in  das  5.  Jahrhundert  die  gleichen  geblieben,  die  wir  schon  als  Kom- 
ponenten der  altegyptischen  Palmette  kennen  gelernt  haben:  der  Vo- 
lutenkelch, der  zwickelfüllende  Zapfen  und  der  krönende  Fächer.  In 
der  Behandlung  der  einzelnen  Theile  und  in  ihrem  Verhältnisse  zu  ein- 
ander hat  freilich  die  griechische  Kunst  einschneidende  Veränderungen 
vorgenommen.     In  der  zweiten  Hälfte  des  .5.  .Jahrh.  nun  niaciit  sich  die 


26)  Samml.  Sabouroff,  Ein!,  zu  den  Skulpt.  S.  6  ff". 

-^  Ornament  und  Form  der  attischen  Gi-abstelen  S.  4  ff. 

Riegl,  Stilfragen.  14 


ojQ  B.    Das  l'lianzenornaincnt  in  der  griechischen  Kunst. 

naturalisireude  Tendenz,  welche  die  freie  Entfaltung"  der  Pllanzenrauke 
so  mächtig-  gefördert  hat,  auch  an  den  vegetabilischen  Einzelmotiven 
geltend.  Es  drückt  sich  dies  aus  erstens  in  gewissen  Uml»ildungen  der 
Palniette.  die  als  solche  von  Niemandem  verkannt  werden  können  und 
auch  —  soweit  mir  bekannt  —  allseits  als  solche  aufgefasst  worden  sind: 
zweitens  in  dem  Aufkommen  eines  ornamentalen  Typus  von  ausge- 
sprochen vegetabilischem  Habitus,  den  man  als  unmittelbare  Nachbildung* 
einer  leibhaftigen  botanischen  Species,  des  Akanthus  (Bärenklau)  zu  be- 
trachten sich  längst  allgemein  gewöhnt  hat. 

Die  Umbildungen  der  Palniette  in  der  2.  Hallte  des  .">.  .lalirli. 
betreflTen  sowohl  den  bekrönenden  Fächer,  als  auch  die  unteren  Theile: 
Volutenkt'leh  und  Zapfen.  Diese  letzteren  beiden  werden  nänilieli  ent- 
weder unmittelbar  akanthisirend  gegliedert,  (Fig.  110),  oder  sie  treten 
in  Verbindung  mit  dem  Akantlius,  weshalb  sie  iiire  Besprechtmg  besser 
im  Zusammenhange  mit  der  Erörterung  des  Akanthus  selbst  linden 
werden.  Der  Fächer  ti<M'  Palmette  liingegen  behält  im  Allgemeinen 
die  Selbständigkeit  der  einzelnen  langen  und  selnnalen  Blätter,  aus 
denen  er  sich  zusammensetzt,  bei:  aber  die  Kichtung  dieser  Blätter 
die  an  den  egyi»tischen  Vorbildern  eine  streng  radiant-eentraje  igh-ieh 
dem  Ausschnitt  einer  Rosette)  gewesen  Avar,  Avurde  mm  nllmälig  eine 
schwungvollere.  Die  Blattspitzen  starren  nicht  melir  streng  radiaiit  in 
die  Höhe,  sondern  wiegen  sich  in  leiser  Wellenlinie  empur  und  neigen 
die  Spitzen  sanft  seitwärts,  die  <'inen  nach  reelits,  die  amleren  nach 
links  von  dem  senkrechten  Mittelhlatte  'Fig.  109^-);  wir  wollen  diese 
l')ildung  die  überfallende  Palmefte  nennen.  Xoeh  charakteristischer  für  die 
zu  (Irunde  liegende  Tendenz,  weil  nicht  sn  in  der  n.itiirlichen  Eni- 
Avieklungslinie  liegend,  ist  die  f/esprerigte  Palmette  (Fig.  110--'),  an  welcher 
die  Blätter  der  Fächers  in  wellenförmigem  Schwünge  mit  den  Spitzen 
gegen  die  Mitte  des  Fächers  gekehrt  sind. 

Diese  zAveite  Fonn,  die  mit  ihrer  gescliweiften  Spitze  (hi-  Ansgangs- 
punkt  für  spätere  bed<'Utnngsvolle  Fortl>iklungen  im  ()sten  des  Mittel- 
meeres gcAvorden  ist,  scheint  erst  im  4.  Jaiirhnndert    zn   häutigerei'  An- 

■')  Von  der  Iiiiinlciste  dos  Partlienon-Giobels.  Die  Anfänge  dieser  Ge- 
staltung des  Blattf'äcliers  gehen  aber  bis  in  die  Zeit  vor  den  Perserkriegen 
zurück.    Vergl.  u.  a.  Ant.  Denkm.  I.  Taf.  88,  A  2. 

•"^)  Bekrönung  einc^r  Grabstelo,  nach  Quast  Krechtheion  II.  17.  3.  Unter 
Hinweglassung  des  grossen  unteren  Akanthuskeichs.  —  Das  Beispiel  zählt 
nidit  zu  flcn  frühesten  und  soll  nur  ii;i/,u  ibencn .  ilas  reife,  Produkt  zu 
vcranscliauliclieii. 


9.    Das  Aufkommen  des  Akauthiis-Oniaments. 


211 


Wendung-  gelangt  zu  sein.  Sie  stellt  sieh  im  Grunde  g-enommen  dar 
als  eine  Zerlegung'  der  orientalischen  Palmette  in  zwei  Halbpalmetten. 
Die  Zusammensetzung  der  Palmette  nach  dem  herkömmlichen,  im  Orient 
geschaflFenen  Typus  liatte  etwas  an  sich,  das  den  geometrischen  sche- 
matischen Charakter  niemals  ganz  verwinden  konnte.  Der  eingerollte 
Volutenkelch  blieb  immer  eine  Doppelspirale,  in  deren  Zwickel  der 
Zapfen  mit  dem  Fächer  bloss  äusserlich  eingriff.  Die  gesprengte  Pal- 
mette hebt  sowohl  den  Volutenkelch  als  den  geschlossenen  Fächer  auf 
und  bringt  zugleich  beide  in  organische  Verbindung  zu  einander.  Die 
gesprengte  Palmette  zerfällt  nicht  mehr  in  ein  Oben  und  Unten  (Fächer 
und   Kelch),    sondern    in    ein  Rechts  und  Links  (zAvei  Halbpalmetten). 


Fig.  109. 

Ueberfallende  Palmette 

vom  Parthenon. 


Fig.  HO. 
Gesprengte  Palmette, 
von  einer  attischen  Grabstele. 


Beiderseits  bemerken  wir  eine  Art  Gabelranke:  von  unten  steigen 
zwei  Stengel  (als  solche  meist  vegetabilisch  charakterisirt)  auf,  gabeln 
sich  jeder  alsbald  in  zwei  Ranken,  wovon  die  äussere  seitwärts  spiralig 
sich  einrollt,  die  innere  in  Wellenschwingung  aufwärts  strebt  und  liiebei 
die  Form  der  den  Fächer  zusammensetzenden  langen  und  schmalen 
Blätter  annimmt.  Aehnlich  geschwungene,  gegen  unten  entsprechend 
kleiner  Averdende  Blätter  bilden  so  zu  sagen  die  Zwickelfüllung  zwischen 
beiden  Ausläufern  der  Gabelranke.  Mit  ihrem  symmetrischen  Gegen- 
über bildet  nun  die  Gabelranke  die  gesprengte  Palmette. 

Es  soll  ZAvar  nicht  behauptet  werden,  dass  der  Process,  der  zu 
der  Schaffung  dieses  Motivs  geführt  hat,  in  der  That  in  bewusster 
Weise  und  in  direkter  Linie  gemäss  der  eben  gegebenen  Erklärung 
sich  vollzogen  hat;  aber  dass  das  Motiv  der  Rankengabelung  den  ent- 

14* 


25^2  B-    Das  Pflanzenornaiiu'nt  in  der  o-nechischen  Kunst. 

scheidendeu  Einfluss  dabei  g'eüln  haben  (Uirt'tc,  wird  man  kanni  be- 
streiten können  anü'esielits  der  grnndb-ii'enden  Bedeutunii',  die  gerade 
die  Gabelung"  innerlialb  der  grieehiselien  l^ankenornamentik  geliabt 
bcit.  Diu'ch  die  Gabelung  charakterisirt  sicli  ja  schon  die  niykenische 
fortlaufende  Wellenranke  (Fig.  50)  eben  als  Ranke  und  niclit  mehr  als 
egyptisirende  geometrische  Spirale 3°). 

Noch  Aveit  Avichtiger  aber  als  die  bisher  geschilderten  l'mbil- 
dnngen  der  Palmette  Avar  das  Aufkommen  des  Akanthns.  Insbe- 
sondere Avenn  man  gemäss  der  allgemein  herrschenden  INIeinung  die 
Entstehung  des  Akanthusomaments  in  der  That  auf  die  bewusste  Nach- 
ahmung eines  natürlichen  PflanzenA'orbildes  zurückführt,  wird  man  sich 
gezAvungen  sehen,  den  Moment,  in  AA'elchem  der  Akanthus  zum  ersten 
^lale  aufgetreten  ist,  seiner  Bedeutung  nach  unmittelbar  neben  den- 
jenigen zu  stellen,  in  AA'elchem  die  Lotustypen  der  altegyptischen  Kunst 
geschaften  AA'orden  sind.  Und  selbst  Avenn  AA'ir  —  das  Resultat  der  nach- 
folgenden Untersuchung  A'orAA'egnehmend  —  den  Akanthus  nicht  als 
ein  auf  Grund  der  Naturnachahmung  neu  geschaffenes  Dekorations- 
motiA^  sondern  als  Produkt  eines  ornamentgeschichtlichen  Fortbildnngs- 
processes  ansehen,  werden  AA-ir  den  ^Foment  nicht  geringschätzen  AVdllen. 
in  AA'elchem  das  seiihii-  ;ilh/<it  weitaus  zur  grössten  Bedeutung  gelangte 
A'egetabilische  M<)ti\-  in  die  AVeli   geknuinien  ist. 

Tn  der  Ueberlieferung  der  Alten  ist  ^\^■y  Akanthus  auf's  Engste 
A'erknüpft  mit  der  Kntstehting  des  korinthischen  Kapitals.  Dies 
geht  Avenigstens  aus  der  Erzählung  herA-or,  AA'orin  uns  \'itruA'  (I^'.  Is,  lo) 
schildert,  Avie  sich  seine  Zeitgenossen  die  Entstehung  des  korinthischen 
Kapitals  dachten.  Hienach  soll  die  zufällige  Kombination  eines  Korbes 
und  einer  unter  demselben  dem  Boden  entsprossenen  Akanthusptlanze 
und  die  AVahriKlimung  des  zierlichen  l'tfrkts  dieser  Kond)inatioii  iliirch 
den  Bildhauer  Kallimachos  in  Kurinth  die  \'eranlassnng  zur  Sehatlüug 
des  korinthischen  Kapitals  gegeben  haben.  Die  begleitenden  Umstände 
der  Erzählung  sind  so  bekannt,  dass  ich  sie  mir  eliciiso  Avie  die  ("iti- 
rung  der  ganzen  Sieljc  in  extenso  ersparen  kann.  l)<'r  ganzen  Er- 
zählung   i.st  der  .Steni|iel   des  KaV»ulir<'ns  —  eines,   Avie  man  zugestehen 

•"■"y  Audi  im  VasciKirnanient  des  1.  Jahrli.,  das  im  Wesontiiclieii  bei  der 
ursprüngliclKMi  orieiitaiisirendeu  Form  der  Palmctte,  mit  mehr  oder  mindtM- 
überfallenden  Biattfächern,  stehen  geblieben  ist,  äussert  sich  eine  un\('i- 
kennbare  \cigun;r.  'üe  im  IlankeuAverk  vorstrcuton  rahriotton  in  Halli- 
paimetten  zu  •/erlegen. 


9.    Das  Aufkommen  des  Akanthus-Ornaments. 


21^ 


kann,  ül^rigens  nicht  der  Grazie  entbehrenden  Fabulirens  —  in  völlig 
unverkennbarer  Weise  aufgedrückt,  und  ich  glaube  kaum,  dass  es 
irgend  ein  Forscher  in  neuerer  Zeit  unternommen  haben  möchte,  ihre 
Stichhaltigkeit  ernsthaft  zu  vertreten.  Furtwängler  hat  auch  schon 
(a.  a.  0.  S.  9)  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  dass  das  erste  Auf- 
treten des  Akanthus  nachweislich   au  Palmetten-Akroterien   erfolgt  ist, 


Fig.  lU. 
Korinthisches  Kapital  vom  Lysikrates-Deiikmal.     Nach  Jacobsthal. 


ZU  einer  Zeit,  da  ein  korinthisches  Kapital  bisher  noch  nicht  nach- 
gewiesen werden  konnte.  Brückner  scheint  der  gleichen  Meinung  zu 
sein,  da  er  (a.  a.  0.  82)  sogar  die  Gründe  nennen  zu  können  glaubt, 
welche  dazu  geführt  hätten ,  den  Akanthus  an  den  Akroterien  der 
Grabstelen  anzubringen.  Dass  aber  das  eigentliümliche  ausgezackte 
vegetabilische  Motiv,  das  ein  so  charakteristisches  Merkmal  des  korin- 
thischen Kapitals  ist,  in  der  That  gemäss  Vitruv's  Berichte  auf  eine 
unmittelbare  Nachahmung  der  Acanthus  spinosa  zurückgeht,  daran  hat 


in4 


B.    Das  PHanzenornaniont  in  der  o-viechischen  Kunst. 


—  so  viel  ich  weiss  —  bis  heute  noch  Niemand  2')  zu  zweifeln  gewagt. 
Die  leidige  Folge  davon  ist,  dass  über  die  keineswegs  so  sonnenklare 
früheste  Entwicklungsgeschichte  des  Akanthus  es  vollständig  an  Vor- 
arbeiten gebricht.  Es  liegt  mir  natürlich  fern,  dieses  Kapitel  hier  in 
erschöpfender  "Weise  erörtern  zu  wollen,  schon  um  der  aitsserhalb  meiner 
Berufssphäre  liegenden  philologischen  Untersuchung  Avillen,  die  parallel 
mit  derjenigen  der  Denkmäler  einhergehen  müsste.  Ich  kann  und 
will   mich   auf  den  Gegenstand    nur   insoweit   einlassen,   als   es  für  den 


Fig.  112. 
JÜatt  (kr  -Acantlius  spinosa.     Nach  Owen  Jones. 

allgemeinen  Gang  unserer  Untersuchungen  ül)er  das  antike  l'tlanzen- 
ranken- Ornament  nothwendig  ist.  "Was  sich  daraus  zweifellos  er- 
gelM-n  wird,  das  ist  die  dringende  Notliwendigkeit.  das  Ka])itel  von 
der  P^ntstehung  des  Ak;intiius«.rn;inienls  einni;il  einei-  gi-iin<lliein'n  i'e- 
arl>eitung  zu  tmterzielieii.  b-h  hoffe  aber  auch  wenigstens  einen  'I'IhmI 
<l"-r  F^eli'/e Motten    d;iliiii    /ji    iil)erzcu<ren ,    dass   dei"  Aknnthus   nicht   im 


^';  Audi  Boetticlier  (Tektonik  ilcr  Hellenen  H44)  niclit,  tref/  der  Skepsis 
die  (;r  der  Anekdote  Vitru\s  sonst  ent.ye<ienl)rini:t.  ^■on  einer  Stackelberg 
hctreffenden  Aiisualniie  wird  weiter  unten  die   Hede  sein. 


9.    Das  Aiifkomuien  des  Akanthus-Ornainents. 


215 


Wege  der  unmittelbaren  Nachbildung  eines  Naturvorbildes,  sondern  in- 
folge eines  völlig  künstlerischen,  ornamentgeschichtlichen  Entwicklungs- 
processes  entstanden  ist. 

Der  Akanthus  als  plastisches  Ornament,  wie  er  sich  z.  B.  am 
Lysikrates-Monument  (Fig.  111)  und  auch  schon  an  Grabstelen- Akro- 
terien  früherer  Decennien  des  4.  Jahrb.  darstellt,  zeigt  eine  unläugbare 
Aehnlichkeit  mit  dem  Blatte  der  Acanthus  spinosa  (Fig.  112).  Charak- 
teristisch für  beide  ist  die  Gliederung  in  einzelne  Vorsprünge,  deren 
jeder  seinerseits  in  eine  Anzahl  scharfer  ausspringender  Zacken  ge- 
gliedert ist;   zwischen  je   zwei  Vorsprüngen  ist  immer  eine  tiefe  rund- 


Fig.  113. 
Halsverzierung  eines  Kapitals  von  der  nördlichen  Vorhalle  des  Erechtheion. 


liehe  Einziehung  (die  „Pfeifen''  des  plastischen  Akantlius).  Gerade 
diese  Gliederung  vermissen  wir  aber  an  den  frühesten  Bei- 
spielen von  Akanthusornamenten. 

Betrachten  wir  Fig.  113  von  einem  Kapital  des  Erechtheions"-). 
Die  einzelnen  Rippen,  in  welche  sich  hier  das  stets  im  Profil  gesehene 
Akanthusblatt  gliedert,  liegen  gleichwerthig  nebeneinander  wie  die 
radianten  Blätter  einer  Palmette.  Als  Stelen-Bekrönung  aufLekythen 
aufgemalt,  also  in  flacher  Projektion  (Fig.  114),  erscheint  das  Blatt  aus- 
geschnitten und  mit  spitzen  Zacken  besetzt,  etwa  wie  ein  Cactus-  oder 


^-)  Nach   Qviast  I.   7,  2.      Auf  Grund  des  Vergleiches  mit  Gipsabg-üssen 
erschien  mir  die  alte  Quast'sche  Reproduktion  völlig  genaii  und  zutreffend. 


■216 


B.    Das  Pflanzenornament  in  der  s'viecliischen  Kunst. 


Aloeblatt.  Avie  es  eben  durch  die  zeichnerische  Projektion  bedingt  ist. 
In  keinem  Falle  aber  gewahren  wii*  eine  Gliedemug'  der  Konturen, 
Avie  sie  der  Acantlius  spinosa  entsprechen  Avürde.  Und  Avährend  die 
vorspringenden  Glieder  des  Akanthusblattes  längs  einer  Mittelrii>pe 
alternirend  abzAveigen  (Fig.  11'2),  gehen  dieselben  an  Fig.  113  sämnitlioh 
von  einer  gemeinsamen  unteren  Basis  aus,  sind  also  parallel  koordinirt 
mit  dem  Mittelblatte,  ZAveigen  nicht  von  dem  letzteren  ab. 


Fig.  114. 
Gemälde  von  einer  attischen  Lekytliop,  nacli   l'.enndorf  Tal'.  W 


Dies  sind  zwei  wesentliche  ("  iit  c r schiede  ZAvi sehen  dem  Ha- 
bitus derAcanthus  spinosa  iiiid  der  ty]>ischen  Stilisirung  des 
Akanthusornauients,  wie  e>  ini>  an  den  ;iltcst<'n  eiii.dtciicii  l)rnk- 
mäleni  dieser  Art  entgegentritt.  Es  wird  sich  noch  reidilich  (ielegen- 
heit  geben,  die  Abweichungen  im  Einzelnen  zu  err>rtern.  Es  genüge 
vorläufig,  dieselben  festgestellt  zu  haben.  Die  Schlusstblgerungen,  die 
wir  daraus  ziehen  können,  sind  zweierhi  An.  I'jii weder  Avir  halten  an 
der  Identität  des  Akanthnsornannnt-.  mii   d.-i-  Acantlius  s]>inosa  fest,  und 


9.    Das  Aufkommen  des  Akanthus-Oniaments.  217 

erklären  uns  das  von  der  Natur  aliweichende  ^Vussehen  der  ältesten 
Beispiele  durch  Unbehilfliehkeit,  weitgehende  Stilisirung  o.  dgl.,  oder 
wir  geben  die  Vorbildlichkeit  der  Acanthus  spinosa  preis  und  suchen 
nach  einer  anderen  Entstehungsursache,  einem  anderen  Ausgangspunkte 
für  die  Ausbildung  des  Akanthusornaments. 

Fassen  wir  zuerst  kurz  die  erstere  Möglichkeit  in's  Auge.  Wem 
der  Buchstabe  der  Ueberlieferung  über  Alles  gilt,  dem  wird  es  viel- 
leicht nicht  sehr  schwer  fallen,  einen  solchen  Erklärungsgrund  für  die 
in  zwei  wesentlichen  Punkten  von  der  Natur  abweichende  Stilisirung 
des  Akanthusornaments  gelten  zu  lassen.  Der  Künstler  müsste  hienacli 
sozusagen  ein  abbreviirtes  Akanthusblatt  geschaffen  haben,  bei  dem 
nicht  bloss  die  einzelnen  vorspringenden  Glieder  in  Wegfall  gekommen 
sind,  sondern  auch  die  scharf  ausgezackten  Konturen  unterdrückt 
wurden.  Denn  diese  scharf  ausgezackten  Konturen  wie  sie  z.  B.  an 
Fig.  114  zu  bemerken  sind,  Avaren  an  den  frühesten  plastischen  Akan- 
thus- Darstellungen,  wie  wir  noch  im  Besonderen  sehen  werden,  gar 
nicht  vorhanden,  und  machen  sich  bloss  an  den  Abbildungen  geltend, 
was  mit  der  zeichnerischen  Projektion  zusammenhängt.  Der  gemalte 
Akanthus  der  attischen  Lekythen  (Fig.  114)  zeigt  daher  die  spitzen 
Zacken  am  schärfsten  ausgeprägt;  man  vergleiche  damit  den  plastischen 
Akanthus,  Fig.  113,  wo  die  spitzen  Zacken  als  solche  gar  niclit  her- 
vortreten, die  einzelnen  Glieder  "oder  „Rippen"  rundlicli  endigen,  und 
nur  durch  die  eingekerbten  Furchen  zwisclien  je  zwei  Rippen  in  der 
Perspektive  des  Beschauers  eine  Spitze  im  Kontur  des  Blattes  entsteht. 
Die  Kelchblätter  der  Lotusblüthe  links  in  Fig.  113  machen  dies  an- 
schaulich^^). Unten  endigen  sie  in  halbrunden  Konturen,  oben  da- 
gegen, wo  sie  sich  überschlagen,  zeigen  sie  in  der  Perspektive  spitze 
Zacken,  wie  die  seitlichen  Blätter  an  Fig.  114. 

Die  Stilisirung  der  AkanthuspÜanze  wäre  hienach  mindestens  in 
einer  eigenthünilichen,  von  den  naturalisirenden  Neigungen  jener  Zeit 
wenig  berührten  Weise  dm'chgeführt  worden.  Erst  allmälich  wäre  man 
auf  die  Wahrnehmung  der  charakteristischen  Eigenschaften  der  Acan- 
thus spinosa  gelangt  und  hätte  dieselben  im  bezüglichen  Ornament  zum 
Ausdrucke  gebracht.  Zuerst  hätten  die  „Rippen"  ihre  plastische  Gestalt 
verloren,  wären  zu  Hohlkehlen  geworden,  zwischen  denen  die  trennen- 
den Grate  (nicht  mehr  Furchen)  in  spitzen  Zacken  vorsprangen.  Dann 
wäre   man   vollends   daran  gegangen,  diese  einzelnen  spitzen  Zacken 


"^)  Noch  besser  der  perspektivische  Blattkelch  in  Fig.  IKi. 


2lS  B-    Das  Pflanzenornament  in  der  g'riechischen  Kuiisr. 

zu  vielzackigen  A'orsprüugen  auszug'ostalton ,  womit  man  endlich  der 
natürlichen  Erscheinung  der  Acanthus  spinosa  nahegekommen  ^väre. 
Das  treibende  Moment  in  diesem  ganzen  Processe  könnte  man  in  der 
Avachsenden  Tendenz  anf  Xatnralismns  erblicken.  In  dem  angedenteten 
Entwicklungsgänge  läge  auch  durchaus  nichts  Unwahrseheinlielies;  das 
Bedenkliche  daran  bleibt  immer  der  Ausgangspunkt.  Bevor  man  sieh 
daher  einer  sagenliaften  Tradition  zuliebe  zu  einer  solchen  Annahme 
entschliesst,  wird  es  geboten  sein,  alle  übrigen  begh'it enden  Um- 
stände Avohl  zu  erwägen,  und  nach  etwaigen  anderen  Erklärungs- 
gründen Umscliau  zu  halten. 

AVas  erstlich  diese  beghntenden  Umstände  der  Tradition  \on  der 
Xachahmung  des  natürlichen  Akanthus  in  der  griechischen  Kunst  des 
5.  Jahrhunderts  betrifft,  so  wäre  eine  Untersuchung  dersell)en  zum 
grösseren  Theile  Sache  der  philologisch-historischen  Forschung.  Eine 
erschöpfende  Erörterung  dieser  Umstände  wäre  ich  ausser  Stande  zu 
liefern  und  will  mich  daher  darauf  beschränken,  meine  diesbezüglichen 
Bedenken  in  kurzen  "Worten  am  Schlüsse  des  ganzen  Kapitels  voi'zu- 
bringen. 

Dagegen  will  ich  ungesäumt  daran  gehen  ,  meine  Ansehauung 
darüber  zu  entwickeln,  Avie  das  Akantlmsornament  —  Aveitab  von  jeg- 
licher unmittelbarer  Xaturnaehaliinnng  —  aus  rein  ornamentalen  Mo- 
tiven heraus,  Avenn  auch  unter  dein  l-jutiusse  naturalisirender  Tendenz 
-     entstand«'!!  sein   (lin'tie. 

Das  Akant  lüisdi'üanient  ist  meines  Erachtens  urspi-fing- 
lich  nichts  anderes  als  eine  in's  ])lastiselie  Rund  werk  liiie!'- 
tragene  Palmette,  luziehungsAA-eise  Halbpalmetle:  in  Fig.  ll.'l  und 
114  sind  es  durclnveg  llalbpalmetten.  Die  einzelnen  Blatte!-,  die  den 
Fächer  l)ilden,  entAAÜckeln  sich  in  Fig.  11.".  iiiclii  längs  einei'  !\Iittel!'i|ipe. 
Avie  an  der  Acanthus  spinosa,  sondern  von  eiiiei-  geuieiiisainen  nntei-eii 
Basis  Avie  an  der  Palmette;  sie  siml  an  der  A\'nr/el  selmial  und  ycv- 
l)i'<'iteiMi  sieii  gegen  das  JMide,  avo  sie  rnnillicli  aliselijiessen :  alles  w  ie 
am  PaliiK-ttentäclie!".  AVas  an  dem  Akanthusblall  gegeniil)er  deni  llaclien 
Palmeltenfächer  eigeiitliiimlicli  erscheint,  ist  <ler  elasliselie  ScliAvung  der 
nach  ausAA'ärts  gekrüniniien  Spitze.  Dies  ist  eben  an  der  llach  proji- 
cirten  l'almette  niclit  \v«ihl  möglich:  inAviefei-ne  es  denndi'li  weiiigsleiis 
Andeutung  gefunden  hat.  wei'den  wir  weiter  unten  l)ei  Betraehtung 
<h-s  Kankenornaments  in  heHenislischer  Zeit  sehen.  Uebrigcms  erscheint 
auch  die  iierkiijiindiclii-  geradlii;ittri;;<'  ralnieiic  ieU\a  nach  dem  l'ai-- 
tlieiionschema;   an  (irabsteh-n    mit   illiei'liängenilei-  Spiize  nach   \'iiai  ge- 


9.    Das  Aufkommen  des  Akanthus-Ornaments.  219 

krümmt,  weil  es  in  soleliem  Falle  die  plastische  Ausführung-  ermöglichte, 
und  die  allgemeine  Kunsttendenz  es  erforderte.  Dieselbe  Xeigung  zur 
schwungvollen  Ausbiegung  der  Spitzen  liegt  übrigens  auch  der  ge- 
sprengten Palmette  zu  Grunde,  und  hiemit  haben  wir  meines  Erachtens 
der  Berührungspunkte  genug,  die  das  Gekrümmtsein  des  Akanthus- 
ornaments  bei  der  versuchten  Ableitung  von  der  Palmette  erklären. 

Parallel  mit  Vollpalmetten  und  Halbpalmetten  lassen  sich  Akan- 
thusvollblätter  und  Akanthushalbblätter  unterscheiden.  In 
Fig.  113  haben  wir  es  bloss  mit  letzteren  zu  thun.  Sind  dieselben 
nichts  Anderes  als  plastisch-vegetabilische  Umbildungen  von  Halbpal- 
metten, so  werden  wir  sie  auch  an  der  gleichen  Stelle,  in  der  gleichen 
Function  innerhalb  des  Eankenornaments  angebracht  erwarten  müssen. 
Und  dies  ist  in  der  That  der  Fall.  Man  fasse  einmal  in  Fig.  113  die 
Eanke  in's  Auge  die  links  von  der  grossen  Palmette  sich  wellenförmig 
in  die  Höhe  windet.  Ueberall  wo  eine  Gabelung  statthat  —  und  nur 
dort  —  erscheint  ein  Akanthushalbblatt  eingezeichnet.  Xur  befindet  es 
sich  nicht  gleich  dem  Halbpalmettenfächer  in  dem  Zwickel  zwischen  den 
beiden  sich  gabelnden  Ranken,  sondern  noch  unmittelbar  vor  der  Gabe- 
lung um  den  Eankenstengel  herum  geschlagen.  Es  handelte  sich  eben 
um  eine  Umsetzung  des  Palmettenfächers  in  ein  plastisch-vegetabilisches 
Gebilde.  Die  lebendig  spriessende  Pllanzennatur  kennt  aber  kein  Postulat 
der  Zwickelfülluug.  Man  muste  daher  darauf  bedacht  sein,  den  im 
Flachornament  zwickelfüllenden  Fächer  nunmehr  bei  der  Umsetzung 
in's  Plastisch-Vegetabilische  auf  eine  andere,  dem  Pflanzenhabitus  natür- 
lichere Weise  anzubringen,  als  im  ^Vege  einer  Einschiebung  zwischen 
die  beiden  Ranken.  Und  in  der  That  kann  man  sich  kaum  eine  bessere 
und  glücklichere  Lösung  denken,  als  die  Verhülsung,  wodurch  sowohl 
ein  durch  die  künstlerische  Tradition  gleichsam  kanonisch  gewordenes 
Ornamentmotiv  beibehalten,  als  aucli  eine  gefällige  Gliederung  der 
Ranke  selbst  herbeigeführt  erscheint.  Schon  am  Erechtheion  wurde  dann 
diese  Verhülsung  mittels  Akanthushalbblattes  an  Stellen  übertragen,  wo 
eine  ausgesprochene  Rankengabelung  nicht  statthatte:  so  unten  an  den 
S-Spiralen  sowie  an  den  Kelchblättern  der  Lotusblütlie  in  Fig.  113. 

Zum  Wesen  einer  Palmette  gehört  nebst  dem  Fächer  auch  der 
Zapfen  und  vor  Allem  der  Volutenkelch.  Ist  der  Akanthus  in  der 
That  ein  Derivat  von  der  Palmette,  so  werden  Avir  auch  nach  diesen 
beiden  Theilen  zu  fragen  haben.  Wie  wurden  dieselben  in's  Plastische 
übertragen?  Für  den  Volutenkelch  weise  ich  hin  auf  die  hülsenartige 
Anschwelluno-  der  Rankenstengel  an  allen  jenen  Stellen,  wo  die  Akan- 


220 


B.    Das  Ptianzonoi-nament  in  dex-  üTiechisehen  Kunst. 


thusbalbblätter  in  Fig.  llo  ansetzen.  Der  Zapfen  war  lediiilicli  Zwickel- 
füllung:  diese  fiel  in  der  plastischen  Gestaltung"  des  (^nnn  nicht  mehr 
flachen)  Volutenkelches  zu  einem  kreisförmigen  (Aveil  um  den  Ranken- 
stengel umlaufenden)  Kelche  hinwi'g,  und  damit  aiu-h  die  Veranlassung 
zm'  Einfügting  eines  Zapfens,  l'nd  auch  die  Hülsen  der  Akanthus- 
blätter  sind  in  der  Folgezeit,  als  iln-e  ursprüngliche  Bedeutung  in  Ver- 
gessenheit gerathen  war,  als  unwesentlich  in  Wegfall  gekommen. 

"Wem  die  soeben  gegebene  Erklärung  für  den  "Wegfall  des  Vo- 
lutenkelches an  der  plastischen  Palmette  i'd.  i.  dem  Akanthus)  niclit 
genügt,  den  verweise  ich  auf  das  Ornament  an  der  Einfassung  der  be- 
rühmten Thür  des  Erechtheions  (Fig.  115).  Hier  erscheint  die 
plastische  Palmette  sozusagen  wiederum  inV  FlaeJic  üljcrtragcn.  Xiomand 


Fig.  ii.-i. 

Lotusblütlien-rahnetteu-Band  in  KarniesproJil,  von  uinem  UebälkstUcke  des  Kvechtheiou. 


wird  daran  zweitVhi  kruim-ii.  (l.iss  uns  hier  ein  Lotus-Palmetten-Baiul 
vorliegt.  An  der  Basis  liegen  S- Spiralen,  die  im  Aneinanderstosscn 
Kf'lche  bilden:  in  diese  Kelche  sind  alternirend  dreispaltige  Profil-Lotus- 
blüthen  und  Palmetten  als  Füllungen  eingesetzt.  Al)er  nur  am  An- 
sätze der  Lotusblütlien  bilden  die  erwähnten  Öpiralrankcn  wirkliclic 
Kelche:  gerade  an  den  Palmetten,  für  die  der  Volutenkclch  ger.idczu 
als  wesentlich  gilt,  sind  ihre  Enden  niclit  kelehartig  umgesehlagen, 
sondern  verlaufen  unmittelbar  in  dif  ."Miiicli-jiipc  der  l'aliucUe.  Di«; 
Erklärung  dafür  liefert  eine  nähere  Betrachtung  der  Stilisiiung,  welche 
die  Palmette  in  diesem  Falle  erfahren  hat.  Die  eoncaviui  Eiuliuehtungen 
an  der  j'rriphei-ie  belelirm  uns,  das  wir  es  da  mit  einem  Akanthus- 
vollblatt  zu  thun  hal)eu:  nur  wurde  dasselbe  hier  sozusagen  wiedi-r 
ins  Flache  zurück  übersetzt,  genau  wie  es  auf  den  Lekythen  fFig.  114) 
gemalt  vorkommt.  An  diese  malerische  Art  (hr  Stili-iimig  lial  —  wie 
sehon    angedeut'i    wnrrle  —  die    weitere   Enlw  ieklnng   voriirhudich   an- 


9.    Das  Aufkommen  des  Akantluis-Ornaments.  221 

geknüpft,  wie  es  den  zunehmend  malerischen  Tendenzen  der  griechi- 
schen Skulptur  der  nachpcrikleischen  Zeit  vollkommen  entspricht.  Wii- 
brauchten  die  Palmetten  in  Fig.  115  nur  vom  Grunde  loszulösen  und 
frei  sich  krümmen  zu  lassen:  dann  müssten  Avir  sie  schlankweg  als 
Akanthus  bezeichnen.  Im  vorliegenden  Falle  sind  sie  aber  Palmetten, 
wie  ihre  Alternirung  mit  dem  Lotus  schlagend  beweist.  Und  noch  auf 
eine  lehrreiche  Analogie  sei  bei  dieser  Gelegenheit  hingewiesen.  Die 
damalige  griechische  Kunst  hatte  bereits  ein  Beispiel  zu  verzeichnen 
für  die  Uebertragung  eines  —  übrigens  nächstverwandten  —  Hachen 
Blumenornaments  in  die  Plastik:  nämlich  den  Eierstab  als  Reproduk- 
tion des  Lotusblüthen- Knospen -Bandes.  Nun  sehen  wir  Aehnliches, 
wenngleich  auf  Umwegen,  sich  vollziehen  mit  dem  Lotus -Palmetten- 
Bande. 

Ich  habe  die  Palmetten  in  Fig.  115  als  Uebertragung  des  Akanthus 
in"s  Flache  bezeichnet.  Es  muss  aber  hinzugefügt  werden,  dass  die 
Palmetten  in  das  Karniesprofll  des  Thürrahmens  zu  liegen  kamen  und 
daher  nicht  in  einer  Ebene  liegen,  sondern  einer  geschwungenen,  echt 
akanthusmässigen  Fläche  sich  anschmiegen.  In  dem  erörterten  Bande 
waren  es  zum  Unterschiede  von  Fig.  113,  wo  wir  es  bloss  mit  halben 
Akanthus -Palmetten  zu  thun  hatten,  ganze  Palmetten  (Akanthusvoll- 
blätter).  Dieselbe  Thür  des  Erechtheions  zeigt  übrigens  am  krönenden 
Gebälke  auch  halbe  Akanthus-Palmetten  fAkanthushalbblätter)  in  der 
gleichen  Stilisirung. 

Ist  diese  Stilisirung  in  der  That,  wie  es  allen  Anschein  hat  und 
wie  u.  a.  die  gemalten  Lekythen  beweisen,  eine  Rückübertragung  der 
plastischen  Palmette  in's  Flache  unter  malerisch-perspektivischen  Ge- 
sichtspunkten, so  ist  sie  jedenfalls  später  erfolgt,  als  das  Aufkommen 
des  Akanthus,  d.  h.  der  plastischen  Palmette  selbst.  Deshalb  braucht 
die  Thür  des  Erechtlieions  noch  niclit  jünger  zu  sein,  als  die  nördliche 
Säulenhalle,  von  welcher  Fig.  118  stammt,  da  ja  beide  Arten  eine  Zeit- 
lang neben  einander  hergehen  konnten.  Es  ist  überhaupt  bezeichnend 
für  die  Rührigkeit  und  die  Schaffensfreudigkeit  der  griechischen  Künstler 
jener  ganz  einzigen  Zeit,  dass  sie  mit  denselben  Motiven  die  in  ihrer 
ursprünglichen  Heimat  durch  Jahrtausende  hindurch  fast  in  einer  un- 
veränderten typischen  Gestaltung  belassen  worden  sind,  in  verhältniss- 
mässig  kurzer  Zeit  so  Vieles,  Verschiedenes  und  doch  Bedeutungsvolles, 
anzufangen  gewusst  hal)en.  Diese  Bewegungslust,  die  Neigung  zum 
freien  Schalten  und  Gestalten  mit  dem  Ueberlieferten  und  Anerworbenen, 
ist  auch  seither  ein  Erbtheil  der  Avestlichen  Angehörigen  der  INüttelmeer- 


22'2  B.    Das  Prtanzenoniament  in  der  g-riochischen  Kunst. 

kultur  geblieben,  während  die  orientalisclien  Völker  trotz  der  iiTünd- 
lichen  Durchsetzung  mit  dem  Hellenisniiis  im  "Wesenlliehcn  konservativ 
geblieben  sind,  auch  in  ihrer  Ornamentik. 

In  Fig.  115  erscheint  der  Akanthus  vullkduiiuni  glcichwcrtliig  mit 
der  Palmette,  als  Palmette  selbst  verbraucht.  Es  ist  dies  eine  Ausnahme 
in  unserem  Denkmälervorrathe  aus  der  frühesten  Zeit  des  Akantlius.  da 
demselben  fast  in  allen  übrigen  Fällen  eine  ganz  bestimmte  Funktion 
als  Akanthuslialbblatt  zugewiesen  ersclicint.  In  Fig.  li;;  sind  die  IT.iupt- 
motive  abwechselnd  Lotusblütlien  und  llaciie  Palmetten''):  der  Akan- 
thus ist  auf  untergeordnete  Stellen  verAviesen,  und  bildet  einerseits  die 
Füllung  der  Gabelranken,  wovon  schon  früher  die  Rede  war,  andererseits 
den  Kelch  der  Lotusblüthen.  Diejenigen,  die  irot/  allem  Itislier  Vor- 
gebrachten an  <ler  Vorbildliehkeit  der  Acanthus  spiiiosa  lest  hallen. 
werden  kaum  in  der  Lage  sein,  irgend  einen  l^eweggrund  zu  nennen, 
der  die  griechischen  Künstler  veranlasst  liaben  konnte,  gerade  den 
Hanken-  und  Blüthen-Kelchen  die  Form  des  Akanthus  zu  geben.  "Wir 
haben  Avenigstens  für  die  Kankenki'lclie  eine  Erklärung  in  der  Ana- 
logie mit  den  zwickelfüllenden  I[alb|i;ihiietten  des  Üaclieii  Rankenorna- 
ments  der  Vasen  geboten.  Für  die  akantliisiremle  Bildung  des  Kelches 
der  Lotusblüthen  hält  es  sclnverer  einen  unmittelbaren  A"ernnlassungs- 
gTmid  namhaft  zu  machen,  da  seine  beiden  Blätter  auch  in  der  pla- 
stischen Ausführung  ebenso  gut  glatt  l)elassen  Averden  konnten.  Die 
geschAA'ungene  Linie  der  Kelchblätter  eignete  sich  aber  ganz  besonders 
für  eine  akanthisirende  Proülirung,  Aveit  mehr  als  die  steife  volle  Pal- 
mette. Dies  Avird  auch  der  (rrund  sein,  Avariim  volle  l'alnietien  in 
akanthisirender  Stilisirung  uns  in  den  ersten  Stadien  der  JMitAvieklung 
so  selten  begegnen.  Als  Akrotcn-itm  der  Grabstelen  sind  sie  ZAvar  mit 
dem  oberen  Rande  etAvas  vorgeneigt;  dieser  ScIiAvung  Avar  aber  offen- 
bar ein  viel  zu  sanfter,  Avesliall)  man  selbst  in  vorgeschrittener  Zeit 
(4.  Jahrh.)  die  Akroterien-Palmetten  in  der  Regel  in  der  llaelieii  l'r"- 
jektion  beliess,  und  lediglich  durch  die  gesprengte  l-'onn  tlcrsellien  ileni 
naturalisirenden  Zuge  der  Zeit  Rechnung  trug.  Ich  lialte  es  daher  in 
di'r  'i'liat  \'nv  ;^-anz  gut  mri;^lieli.  dass  die  ;ikaiit  hisireiide  r.ildiinu-  der 
plastischen   Palmette  niclit  an  einer  vollen    l'alniette,   snndern    an  eiin^r 

■")  Der  Zapfen  tliescr  letzteren  ist  plastisch  nach  Palnietlenlbrni  geglie- 
dert, mid  die  einzelnen  Blätter  des  Fächers  (jlien  etwas  ausladend  heraus- 
gearbeitet: also  gleichfalls  der  strikte  Uebergang  von  der  Pahnette  zum 
Akanthus,  bedinp't  durch  die  ]ilastisclip  Form,  was  .incli  in  der  Ahhildunc: 
P'ig.  113  zum  Ausdrucke  kommt. 


9.    Das  Aufkommen  des  Akanthiis-Ornaments. 


22^ 


halben,  also  kelchförmigeii,  zuerst  versucht  worden  ist.  Es  würde  dies 
mit  den  Wahrnehmungen  Furtwängler's  stimmen,  der  das  früheste  Auf- 
treten des  Akanthus  an  Grabstelen  gleich  der  karystischen  (Sammlung 
Sabouroff,  Skulpt.  Taf.  VI)  und  der  venetianischen  (ebenda  S.  7)  beob- 
achtet haben  will,  —  in  beiden  Fällen  als  Akanthuskelch  genau  in  der 
Weise  wie  an  Fig.  113,  d.  li.  als  gerippter  Kelch  für  übersteigende  glatte 
Kelche  oder  Blätter. 

Die   Ornamentik    des  Ereclitheion    ist    allem  Anscheine  nach  für 
die  primitive  Entwicklung   des  Akanthus   von   grösster  Bedeutung  ge- 


Fig.  IIG. 
Von  einem  Pilasterkapitäl  der  östlichen  Vorhalle  des  Erechtheions. 


wesen.  Wo  dieser  letztere  auftritt,  an  den  iSäulenhälsen  am  Architrav, 
an  den  Thüreinrahmungen :  überall  zeigt  er  leise  Variirungen,  deren 
jede  eine  gesonderte  Besprechung  verdiente,  und  die  sich  sämmtlich  im 
Sinne  des  Gesagten  erklären  lassen.  Xur  eine  Variante  (Fig.  116)  ^■*) 
will  ich  hier  im  Besonderen  erwähnen,  da  dieselbe  eine  überaus  be- 
deutsame Erscheinung  bildet.  Die  Lotusblüthe  zeigt  hier  nicht  nur 
den  akanthisirenden  Profilkelch  aus  zwei  Blättern.  Avie  in  Fig.  113, 
sondern  unter  diesem  noch  einen  anderen  aus  drei  Akanthusblättern 
gebildeten  perspektivischen  Kelch.  Die  offenbar  perspektivische 
Projektion  ist  es,    die    das  Motiv    so   bemerkensAvertli  macht  in  der 


-*)  Quast,  Erechtlieion  I.  6,  1. 


224  B-    Das  Pflanzenornament  in  der  g-riechischen  Kunst. 

Zeit  seines  iiacliAveisbar  ersten  Anftretens;  die  Ertindung'  war  ül^'ig'ens 
eine  so  gefällige,  dass  sie  für  alle  Folgezeit  beibehalten  Avnrde  und  in 
allen  Renaissancen  der  Antike  eine  Rolle  gespielt  hat.  Das  mittlere 
Blatt  stellt  sich  dar  als  der  reine .  abwärts  gekehrte  Palmetten- 
fächer.  der  mit  dem  Blatte  der  Acanthns  spinosa  (Fig.  11 -2)  gar  niclits 
gemein  hat.  Die  seitlichen  Blätter  sind  dagegen  nicht  halbe  Akan- 
thus-Palmetten,  Avie  man  erwarten  möchte,  sondern  in  perspektivischer 
Verkürzung  gebildete  ganze  Akanthus-Palnietten.  Ilic^r  findet  sich  auch 
der  deutliche  Uebergang  von  Blatt  zu  Blatt  mittels  der  rundlichen 
„Pfeifen",  wie  sie  am  späteren  entAvickelteren  Akanthusblatt  (Fig.  111) 
den  Uebergang  zwischen  den  einzelnen  ausspringenden  Gliedern  ver- 
mitteln. Dass  hierauf  die  r41iederung  drr  Aeanthus  spinosa  einen  Ein- 
fluss  gehabt  haben  könnte.  Avird  man  sclnverlich  behaupten  wollen: 
der  perspektivische  Kelch  in  Fig.  IIG  trägt  docli  sonst  nichts  zur  Scliau. 
Avas  mit  der  Aeanthus  spinosa  melir  VcrAvandtschaft  zeigen  Avürde,  als 
Fig.  113 — 115,  und  darf  als  reines  Produkt  künstlerischer  Erfindung, 
allerdings  unter  Neigung  zu  grösserer  Annäherung  an  die  natürlichen 
lebendigen  Pflanzenformen  im  Allgemeinen,  bezeichnet  Averden. 

AVir  h;ilieii  lils  Jetzt  l)]oss  die  ältesten  Ak.intlius-Beispiele  vom 
Erechtheion  (und  ZAvei  (irabstelen  S.  223)  in  Erörterung  gezogen:  es 
obliegt  uns  nun.  darüber  liinausgehend  anderAveitige  Denkmäler  aus 
dem  r>.  .Jahrh.  lier.ni/uzielien  und  an  densell)en  die  Stichhaltigkeit  der 
A-ersuchTcii  Aldeitung  des  Akantliusornaments  a'ou  der  plastischen  Pal- 
mette zu  erproben.  Dies  gilt  namentlich  aou  jenem  Denkmal,  das 
bisher  fast  einstimmig  als  das  älteste  Beispiel  eines  korinthischen  Kapi- 
tals und  A'ielfach  aueli  als  Ausgangspunkt  lür  die  EntAvicklung  des 
Akanthus  angesehen  Avorden  ist:  das  Kapital  von  Pliigalia.  Dieser 
seiner  Bedeutung  hätte  es  —  möchte  es  sclieinen  -  entsprochen,  das- 
selbe anstatt  der  Beispiele  vom  Erecliiheicii  an  die  S])itze  d<'r  ganzen 
Untersuchung  zu  stellen.  Diese  Unterlassung  glaul)e  icli  altei"  niil  gutem 
Grunde  rechtfertigen  zu  können.  Das  korinthische  Kajiitäl  von  Pliigalia 
ist  keineswegs  eine  so  l)ekannie  Grösse,  dass  man  mit  ihr  so  sicher 
rechnen  k'Wmte,  wie  es  allerdings  geAvTilmlicli  zu  geselielieu  pllegt. 
Das  Original  ist  lieuK-  anscheinend  \'erschollen ,  zu  Grunde  gegangen. 
Zur  Zeit  da  es  naeliAveislieh  noch  existirle.  befand  es  sich  bereits  in 
.-••lir  zeisiörteni  Zustande.  Nicht  einmal  ein  Gipsabguss  daA'on  scheint 
bewahi't  Avorden  zu  sein.  AVir  sind  daher  für  seine  Beurtheilung  auf 
die  zeichnerischen  Reproduktionen  angcAviesen.  Da  fällt  schon  auf, 
dass  die  Abbildungen   in  den  A'erschiedcMien  Ilamlltiichern  sehr  beträcht- 


9.    Das  Aufkomiiien  des  Akantluis-Ornaments. 


225 


lieh  von  einander  abweichen.  Geht  man  aber  der  Ueberlieferung-  nach, 
so  kommt  man  zu  dem  Resultate ,  dass  alle  Abbildungen  im  letzten 
Grunde  auf  zwei  Originalaufnahmen  ztirückgehen,  die  eine  von  Dona Id- 
son  bei  Stuart  and  Revett,  anthiqu.  of  Athens,  Taf.  9,  Fig.  o  des  Tempels 
von  Bassae.  die  andere  von  Stackeiberg  in  dessen  „Apollotempel  zu 
Bassae"  S.  44  (Fig.  117). 

Die  Aufnahme  von  Donaldson  empfiehlt  sich  scheinbar  als  die 
vertrauenswürdigere,  da  sie  das  Original  in  seinem  verstümmelten  Zu- 
stande tale  quäle  wiedergiebt.  Dagegen  hat  Stackeiberg  dasselbe  augen- 
scheinlich in  integrum  restaurirt.  Die  beiden  Aufnahmen  weichen  in 
vielen  Punkten  wesentlich  von  einander  ab:  insbesondere  der  Akanthus 


Fi^.  1)7. 
Kapital  vou  Phigalia. 


ist  da  und  dort  gründlich  verschieden  gebildet.  Nähere  Betrachtung 
lehrt,  dass  die  weiche  lappige  Bildung  des  Akanthus  bei  Donaldson 
nur  auf  Rechnung  einer  flüchtigen  skizzenhaften  Zeichnung  gesetzt 
werden  kann^^).  Dagegen  erscheinen  die  einzelnen  Blätter  bei  Stackel- 
berg  (Fig.  117)  völlig  ebenso  wie  am  Erechtheion  gebildet.  Und  zwar 
sind  es  hier  Akanthusvollblätter,  die  um  die  Basis  des  Kapitals  herum 
gereiht  sind,  und  auch  die  untere  Parthie  der  aufsteigenden  Voluten- 
stengel verkleiden.  Jedes  einzelne  Akanthusblatt  zeigt  hier  den  aus 
plastisch  gewölbten  Blättchen  zusammengesetzten  Fächer.     Ich  möchte 


^^)  Daher  möchte  ich  auch  auf  den  zwickeltülleiiden  Akanthus  in  dieser 
Abbildung  kein  Gewicht  legen,  obzwar  derselbe  in  seiner  offenbaren  Gleicli- 
Averthigkeit  mit  der  zwickelfüllenden  Palmette  so  recht  besonders  geeignet 
wäre,  die  nrsprüng-liche  Identität  von  Palmettenfächer  und  Akanthtis  zu  be- 
stätigen. 

Riegl,  Stilfragen.  IfJ 


99(3  B.    Das  PHanzenornameiit  in  der  gTicchischen  Kunst. 

daher  unbedingt  dt^-r  Stackell>erg-'schen  Keiiroduktion  den  Vorzug  geben. 
zumal  sich  der  Autor  auch  im  Texte  auf  S.  lO  über  die  Form  der 
Blätter  ausspricht  und  damit  beweist,  dass  er  sieh  dieselben  genau 
angesehen  hat:  ..Die  Blätter  des  Säulcnknaufs  sind  weder  vom  Oelbaum. 
noch  Akanthus,  sondern  vielmehr  von  einer  konventionellen  Form, 
einer  Wasserpflanze  im  Steinsinn  nachgebildet".  Es  ist  über- 
raschend, wie  nahe  gerade  dieser  erste  Beobachter  und  Beurtheiler 
dieses  Kapitals  der  Erkenntniss  des  wahren  Sachverhaltes  gekonnncMi 
ist.  Selbst  mit  der  Wasserpflanze  trifft  er,  wenngleich  wahrseheinlieh 
unliewusst,  das  Richtige,  da  ja  die  Palmette  auf  den  Lotus  zurückgeht. 
Der  Zusatz  ,.im  Steinsinn"  vcrrätli  aber  deutlich,  wie  Stackell)erg  schon 
intuitiv  das  i)lastische  Moment  als  das  formbereitende  für  die  Stilisirnng 
dieser  „konventionellen  Form"  erkannt  hat'^'"'). 

Am  Kapital  von  Phigalia  lialtcn  wir  es  durchweg  mit  vollen 
Akanthus-Palmetten  zu  thun.  Der  Akanthus  kommt  aber  auf  demsellien 
Bauwerke  auch  in  Kelchform  wie  am  Erechtheion  vor,  für  die  Avir  die 
halbe  Palmette  als  zu  Grunde  liegend  erkannt  haben.  Stackelberg^') 
giebt  ein  Simastück  auf  S.  40,  einen  Stirnziegel  auf  S.  101.  Damit 
stimmen  die  Aufnahmen  von  Donaldson^^)  überein,  worin  wir  wohl 
einen  neuerlichen  Beweis  dafür  erblicken  köniien,  dass  auch  das  Ka- 
pital die  gleiche  Stilisirnng  des  Akanthus  gezeigt  haben  wird.  Beson- 
ders dciitlieh  ist  der  Stirnziegd  a.  a.  O.  Fig.  -1  auf  Taf.  5  gezeiehnol: 
hier  sieht  man  nändich  mit  vollster  Deutlichkeit,  dass  die  aussi>ringenden 
spitzen  Zacken  der  gezeichneten  Konturen  am  plastischen  Original  in 
der  That  eingekerbte,  also  zurückspringende  Furchen  bedeuten  und  dass 
das  Vorspringende  in  letzterem  Falle  die  Blattripjien  des  Fächers  sind. 

Neben  den  architektonischen  Ziergliedern  und  den  Akroterien  der 
Grabstelen  kommen  für  die  älteste  Geschichte  des  Akanthus  hanptsäch- 
licli  <lie  bemalten  attischen  Lek.\-ilien  in  Betrarht.  Es  hängt  be- 
kanntlich mit  dem  Sejmlkralchai'akter  dieser  ^'asengattung  zusammen, 
dass  gewöhnlieji  in  der  Mitte  des  —  gleichfalls  auf  Bestattung  und 
Todtenkult  bezüglichen  —  Bildes  eine  (!i-abstele  sich   lulindet.  /ii  deren 

•''';  Die  J{e|no(bditioncii  naeh  Donaldsoii  liaben  die  ursjuiingliclie  Gestalt 
des  Kapitals  nocli  inelir  verballhornt.  So  sehen  wir  z.  B.  hei  Durui,  Baukunst 
<ler  Grieclifu.  an  der  Basis  eine  dopiielte  JJi'ihe  von  Akantliushiättcrn,  die  in 
der  vollkoiiuiieii  ausge])ildeteii  Weise  des  Lysikrates-Moinnnents  stilisirt  er- 
seheinen. 

'';  Ajiollotein|iel  zu  Bassae. 

^^)  Stuart  un<l  Kevett,  Taf.  4  und  f». 


9.    Das  Aufkommen  des  Akauthus-Ornaments.  921 

Rechten  und  Linken  die  Handlung'  sich  entfaltet.  Die  (irabstelen  sind 
bekrönt  mit  Akroterien.  Da  ist  es  nun  vor  Allem  schon  merkwürdig-, 
dass  ein  einfaches  Palmettenakroterinm,  wie  an  den  erhaltenen  Origi- 
nalen in  Stein,  sich  nur  ausnahmsAveise  vortindet,  z.  B.  Benndorf,  Griech. 
und  sieil.  Yasenbilder  Taf.  14.  Es  treten  in  der  Regel  neben  Palmetten 
Akanthusblätter  auf,  und  zwar  in  einer  solchen  Vermehrung  und  An- 
ordnung, Avie  es  an  einem  Grabstelen- Akroterium  in  Stein  noch  nicht 
beobachtet  worden  ist.  Deshall)  glaubte  man  auch  dieses  Auftreten  des 
Akanthus  auf  den  gemalten  Grabstelen  als  „noch  ganz  unvermittelt 
und  ohne  organische  Verbindung'  über,  unter  oder  neben  die  nach  alter 
Weise  gebildeten  Voluten"  bezeichnen  zu  sollen  (Furtwängler  a.  a.  0. 
S.  8). 

Es  scheint  mir  aber  mindestens  frag-lich,  ob  man  für  die  Mehrzahl 
dieser  gemalten  Stelen  überhaupt  die  im  Original  erhaltenen  viereckig- 
tafelartigen  Steinstelen  mit  Palmetten-Akroterien  wird  als  vorlnldlicli 
betrachten  dürfen.  Nach  der  convex  nach  oben  ausgebauchten  Linie 
zu  schliessen,  in  welcher  die  Simse  (Fig.  114)  und  die  um  den  Scliaft 
der  Stele  herumgeschlungenen  Tänien  gezeichnet  sind,  wird  man  nicht 
mehr  an  einen  viereckigen  tafelartigen  Pfeiler,  sondern  an  eine  runde 
Säule  denken  müssen"'-').  Wo  dagegen  ein  viereckiger  (irabpfeiler  durch 
die  dreieckige  Form  des  Akroterions  als  solcher  gekennzeichnet  ist, 
sind  die  Simse  ganz  horizontal  gezeichnet-'^):  ein  deutlicher  Beweis, 
dass  sieh  der  Zeichner  in  dem  ersteren  Falle  bei  der  krummen  Führung 
der  Linie  auch  etwas  gedacht  hat,  und  dieses  Etwas  kann  nichts  an- 
deres gewesen  sein  als  die  Voraussetzung  eines  runden  Schaftes.  Diese 
Thatsache  ist  zu  greifbar  und  unumstösslich,  als  dass  man  mit  dem 
blossen  Hinweise  darauf,  dass  sich  cylindrische  Grabstelen  niclit  im 
Original  erhalten  hal)en,  einfach  darüber  hinweggehen  könnte*').  Haben 


39)  Vg-1.  z.  B.  Benndorf  a.  a.  0.  Taf.  25;  Arcli.  Zeit.  ISSÖ,  Taf.  3;  Robert, 
Thanatos  Taf.  1. 

*0)  Z.  B.  Benndorf  a.  a.  0.,  Taf.  18—20. 

■")  Halbcylindrische  Stelenschäfte  sind  übrigens  aiisdrücklieli  bezeugt ; 
vg-l.  Conze,  Attische  Grabreliefs  No.  09,  Text  S.  20.  —  In  diesem  Zusammen- 
hange darf  ich  auch  auf  die  Darstellung-  auf  einer  Lekythos  verweisen,  die 
vor  Kurzem  aus  dem  Nachlasse  weil,  des  Diplomaten  und  Orientreisenden 
Grafen  Prokeseh-r)sten  in  den  Besitz  des  k.  k.  österr.  Miiseums  in  Wien  ge- 
langt ist.  Die  Grabstele  ist  hier  zwar  viereckig  gestaltet,  mit  geraden  Simsen, 
trägt  aber  oben  einen  Stuhl  mit  einem  Korb  darunter.  Die  Stele  kann  somit 
unmöglich  tafelartig  gedacht  gewesen  sein,  sondern  es  muss  ein  Pfeiler  von 
qiiad ratischem  Grundriss  dem  Maler  vorgeschwebt  haben.     Ob  es  nun  solche 

15* 


2-2S 


B.    Das  Pfianzenoniameiit  iu  der  a,Tiecliischen  Kunst. 


vrii'  aher  einen  Sänlenschaft  vor  uns.  so  ist  seine  Bekrönunu'  niclit  mehr 
ein  einseitiges  Akroterium,  sondern  ein  kreisrunder  Kapitälknanf.  Man 
l)etrachte  unter  diesem  Hinblick  insl)Csondere  die  Stelenheknaiung" 
Fig.  118   (nacli  Tal".  3  der  Areli.  Zeit.  18851,   wo  die  fünf  beki'önenden 


Fig.  118. 
Von  einem  Gemälde  auf  einer  .ittischen  hekythos. 

Motive  scliDU  in  i\<'y  iHi-s|icktivisclien  An  dfr  Darstclliiiiü'  das  ilc'i'uin- 
gereilitsein  auf  lialhkrcisnnidi'in   <  iniiidrisse    ausser  Zweilei   gesetzt    rv- 

pfeilerartige  Stelen  in  der  Tiiat  ii-('.i;-el)('ii  liat  oder  uii'iit,  diese  Frage  koimnt 
im  vorliegencleu  Falle  gar  nicht  in  Betraelit:  in  der  \orstellnng  des 
Malers  haben  si(^  cxistirt,  diese  Pfeiler  mit  vier  Fronten;  und  das 
Gleiche  werden  wir  \<)ii  den  Stelen  in  c.vlindriseiier  Säulenfonn  annehmen 
dürfen.  —  In  K.  Masners  Katalog  der  SanniiInnL;'  antiker  Vasen  etc.  im 
k.  k.  östeiT.  Museum  hatte  die  Lekythos  nielil  ineln-  Aiifn.ilinie  linden  kiunien: 
eine  Publikation  derselben  von  seilen  des  j^enainiten  Autors  i-i  in  Kürze  zu 
erwarten,  Aveshalb  ich  darauf  verzielitete,  hier  eine  Abbildung' ilaxon  zagebeii. 


9.    Das  Aufkommen  des  Akantlms-Ornaments. 


229 


scheinen  lassen.  Dann  erklärt  sich  aber  auch  die  Vermehrung-  und  an- 
scheinend unorganische  Nebeneinandersetzung'  der  Akanthusblätter.  Diese 
Grabstelenkapitäle  mit  Akanthus  auf  den  attischen  Lekythen  Avürden  da- 
durch zunächst  herangerückt  an  das  Kapital  von  Phigalia,  und  wären  als 
unerlässliche  Hilfsglieder  zur  Feststellung  der  Anfänge  des  korinthischen 
Kapitals  überhaupt  zu  betrachten. 

Wie  so  manclies  Andere  aus  dem  Darstellungsinhalte  der  Lekythos- 
Malereien  wird  auch  dieser  Punkt  von  Seite  der  Specialforschung  erst 
noch  seine  vollständige  Aufklärung  finden  müssen.  Uns  handelt  es  sich 
aber  im  vorliegenden  Falle  bloss  um  die  Klarstellung  des  Verhältnisses 
zwischen  Palmette  und  Akanthus.  In  Fig.  114  haben  wir  nur  Akanthus- 
blätter   von   der   Seite   gesehen   (also   Akantiiushalbblätter)   und  in  der 


Fig.  119. 
Von  einem  Gemälde  auf  einer  attischen  Lekytlios. 

Mitte  eins  in  der  Vorderansicht  (Akanthusvollblatt).  Fig.  IIH  (Benndorf 
a.  a.  0.  XXII.  2)  zeigt  dagegen  zwischen  ZAvei  Akanthushalbblättern 
in  der  ]Mitte  eine  Palmette  in  der  traditionellen  Flachstilisirung.  Aber 
auch  die  seitlichen  Halbblätter  finden  sich  gelegentlich  durch  aus- 
gesprochene flache  Halbpalmetten  ausgedrückt:  vgl.  Fig.  120,  nach 
Stackeiberg,  Gräber  der  Hellenen,  XLIV.  1^'-).  Der  Schluss  hieraus 
kann  nicht  anders  lauten,  als  dass  flache  und  Akanthus-Palmetten 
als  gleichwerthig  gebraucht  erscheinen,  dass  dieselben  somit  ur- 
sprünglich gleichbedeutend  und  identisch  gewesen  sein  müssen. 
Schliesslich  verweise  ich  noch  einmal  auf  Fig.  118:  in  der  Mitte  eine 
volle  flache  Pahnette  in  der  Vorderansicht,  ihr  zu  Seiten  zwei  gleich- 
falls flache  Palmetten,  aber  perspektivisch  gedacht,  daher  nicht  mehr 
in    der   vollen  Vorder-,   aber   auch  noch  nicht  in  der  ausgesprochenen 


■*'-)  No.  2   auf  derselben   Tafel  zeigt   eine  flache  Palmette  in  einem  drei- 
blättrigen, iinbehiltlich  perspektivisch   gezeichneten  Akanthnskelche  steckend. 


230 


B.    Das  Ptlaiizeiinrnamt'nt  in  der  aTiecliisclK'u  Kunst. 


Seitenausiclit,  endlich  zu  äusserst  an  dt-n  Flanken  die  r.ilnu'ttcn  in  rciniM- 
Seitcnansii'ht,  daher  akanthisirend  gebildet. 

Auch  die  Betrachtung  des  gemalten  Akantlius  auf  LckythfU  seheint 
also  zu  bcAveisen ,  dass  derselbe  zunächst  mit  lu'soiuh'i'er  \'urlielie  in 
der  Seitenansicht,  in  der  Projektion  der  ll,illi]i;ihiiette  zur  Darstellung 
gebracht  Avurde.  i^arallel  mit  der  plastiselien   Keli'liform   an   den    ;ii-ehi- 

tektoiiiselieii  Ziergliedeni.  Dass 
die  spitzen  Si.kIicIu  der  Kontur<Mi 
bloss  diir(-h  die  luisiiektivisclie 
Xachzeichiiung  i\rv  lOinkei'bnn- 
geii  hervorgeln'aelit  sind  tmd  ur- 
s|iriiuglich  nicht  i'iin'n  s[)itz>taehe- 
ligen     Blattkontiir      reproduciren 

sollten.     l)e-\Veist    auell    Flg.    1  11  ■'^) , 

wo  die  Auszackungen  der  iibi-i- 
gens  höclist  skizzenhaft  gezeich- 
neten    IMiltelpallllette     keilU'SWCgS 

die  accentilirlen  Stachelendigun- 
gen  vom  Kontur  (h'r  SeiteiiMätti'r 
aufweisen.  !);i>  K'e>ullat  uiiseri'r 
rnter>ueliiiiig  des  geUl.ilten  Ak.lll- 
ilms  >tininii  souiii  viillig  iibcri'in 
Ulli  Demjenigen.  \\as  sich  un>  aus 
der  Px'traeiitung  der  pl;i>ti>chen 
Ak;iutliiis  -  Deiikin.-iler    der    tViihe- 

>lell    Zeit     el-gelii'U     |l.-||. 

Ich     gl;llllie     im     \'ol'>tellenilen 

den  Xaeliweis  geliefert   y.n  haben. 
^,.    ,„„  dass    es    n-anz    uiit     iiiriulich    ist. 

Flg.  120.  .-^  ^  . 

Mal.Tci  am  Hauche  einer  attischen  Lckytlios.  die    Eutstehuilg    di>    .\kanllm^    auf 

dein  AVege  der  iial  iirliehen  künst- 
leriselien  Entwickhing  alizuhiten.  ohne  dass  man  zu  der  Annahnie 
einer  plötzliclM'U  ,  in  dei-  griechischen  Kun>i  in  so  mncrmiiielici- 
"\V('is<-  bis  dahin  niehl  dagewesenen  Xaelibildiing  einer  naliirliehen 
l'tlanzenspecies  gi'ejfen  müsste.  AN'as  tlie  Kriiik  ihr  \'iirn\ianisclu'n 
Erzählung  überhaujit  betriHt,  so  nmss  —  wie  wiedeilioli  intont  wurde 
—    die     endgihi^ie    Ihit-i-heirbing    lii<Tül)er    insohoige    \-eriagi     wcr'len. 


■■';  Vgl.  Miicli   lii'mMh.rl   .1.  .'1.  n.  Taf.  2") 


9.    Das  Aufkommen  des  Akantlius-Onianients.  231 

als  nicht  auch  von  philologischer  Seite  diesbezügliche  Untersuchungen 
ge[)flogen  sein  werden.  Nur  in  allgemeinen  Umrissen  möchte  ich  an- 
deuten, dass  mir  -wenigstens  die  Glanbwürdigki'it  .jener  Ucberlieferung 
schon  äusserlich  wenig  gestützt  erscheint.  Es  sähe  den  Römern  der 
Altruvianischen  Zeit  —  nach  Analogie  auf  so  vielen  anderen  Gebieten 
—  ganz  ähnlich,  wenn  sie  sich  auch  die  Entstehung  des  Akanthus  so- 
zusagen in  rationalistischer  Weise  zurecht  gelegt  hätten.  Doch  scheint 
in  der  That  die  äusserliche  Verwandtschaft  des  ausgebildeten  Akanthus- 
ornaments  mit  der  Acanthus  spinosa  schon  von  den  Griechen  liemerkt 
Avorden  zu  sein.  Es  würde  auch  für  die  ursprüngliche  Auffassung  der 
Griechen  vom  Wesen  des  Akanthus  noch  sehr  wenig  besagen,  wenn 
Theokrit,  also  ein  Dichter  des  3.  Jahrh.  v.  Chr.,  in  der  viel  citirten  Stelle 
Jdyl.  I.  55  in  der  That  ein  Ornament  im  Auge  hätte,  was  mit  Rücksicht 
auf  seine  Bezeichnung  des  Akanthus  als  eines  feuchten  nicht  zwingend 
nöthig  erscheint.  Vor  Allem  aber  werden  wir  fragen :  welche  seh wer- 
Aviegende  Ursache  mochte  es  gewesen  sein,  die  veranlasst  hat, 
gerade  den  Akanthus  als  Ornament  in  Stein  nachzuahmen? 
Denn  so  ist  der  aufkeimende  Xaturalismus  im  griechischen  Kunstsinn 
nach  der  Zeit  der  Perserkriege  nicht  zu  verstehen,  dass  man  sich  zu 
unmittelbarer  Imitation  der  Naturwesen  gedrängt  gefühlt  haben  sollte. 
Die  überlieferten  Kunstformen  galt  es  zu  beleben,  aber  nicht  lebendige 
Xaturformen  in  lebloses  Material  umzusetzen.  Es  hätte  also  ein  äusserer 
Anstoss  vorhanden  gewesen  sein  müssen,  der  die  Einführung  der  Akan- 
thuspflanze  in  die  Zahl  der  vegetabilischen  Kunstformen  herbeigeführt 
hat,  —  ein  Anstoss  etwa  gleich  demjenigen,  der  die  Egypter  veranlasst 
hat  zur  Schaffung  ihrer  Lotustypen. 

Brückner  ist  der  Einzige,  der  in  offenbarer  Erkenntniss  der  Noth- 
Avendigkeit  eines  solchen  Nachweises  eine  bestimmte  Erklärung  dafür 
versucht  hat.  „Wie  heute  noch,  wucherte  um  Tempel  und  Gräber  der 
Akanthus;  für  die  Gräber  bezeugen  dies  die  Darstellungen  der  weiss- 
grundigen  Lekythoi  (Benndorf  II,  Griech.  und  sicil.  Vasenb.  Tat".  14). 
Wenn  also  die  Plastik  des  5.  Jahrhunderts  den  alten  Palmettenschemata 
als  belebendes  Element  den  Akanthus  hinzufügte,  so  trat  die  Stele  mit 
der  Landschaft,  die  sie  umgab,  in  engere  Beziehung;  sie  verAvuchs 
geradezu  mit  ihr^^)." 

Ob  nun  dieser  von  Brückner  angeführte  Umstand  ein  ausreichender 
Grund  gewesen  sein  mochte,  um  daraufhin  ein  völlig  neues,  künstlerisch 


■»^)  Brückner  a.  a.  Ö.  82. 


232  !'*•    ^'^'^  Pllauzenoriiament  in  der  gTiechisclien  Kunst. 

überau!>  lt^:-lU■m^^anK'^  Element  in  die  Dekoration  einzufülu'en ,  darüber 
wird  man  mindestens  verseliiedener  Ansieht  sein  können.  Aber  die 
Voranssetzunj:-.  auf  Avelclie  Brückner  seine  "N'ernuitluuiü'  aufltaut.  ist 
naeliweisslieli  eine  unzutretlende:  "Was  Brückner  als  wuchernden 
Akanthus  auf  den  Lekythosmalereien  ansieht,  ist  in  der  That  ein 
Akanthus-Ornamcn t,  das  zur  ..t('l<t(>nisehen''  llervorlK'hung'  des  unteren 
Säuleuansatzes  dient ^*').  Diese  Funktion  entspricht  dem  auf  Ö.  (35  aus- 
führlich erörterten  Postulat,  und  ist  völlig;  identisch  mit  der  Funktion  des 
Blattkelches  am  unteren  Ansatz  der  Vasenkörper ^^'').  Es  iindet  sich  näm- 
lich ausschliesslich  an  dieser  Stelle  (Fig.  118),  oberhall»  der  Basis,  und  am 
allerdeutlichsten  an  dem  von  Brückner  citirten  Beisi)ii'l  Itei  Bennderf 
a.  a.  O.  Tat".  14.  Der  Akanthus  am  unteren  Säulenschafte  ist  da  vell- 
kommen  gleichwerthig"  mit  dem  krönenden  auf  den  „Akroterien",  d.  h. 
als  blosses  Ornament,  nicht  als  Darstellung  einer  Plianze  gemeint. 
Damit  soll  nun  keineswegs  bestritten  Averden,  dass  schon  im  ,">.  Jalu'h. 
der  Akanthits  um  Tempel  und  Gräber  gewuchert  hat:  al»er  dass  das 
Vorhandensein  dieses  Unkrauts  den  Atlienern  so  sehr  aufgefallen  win-v, 
dass  sie  es  für  würdig  erachtet  hätten,  zur  Dekoration  ihrer  Grabstelen 
ausdrücklich  herangezogen  zu  werden,  das  scheint  durch  die  Lekythos- 
jMalereien  mit  Nichten  bewiesen.  Auch  in  diesem  Falle  hat  man  moderne 
Verhältnisse  auf  Vorgänge  aus  antiker  Zeit  zu  übertragen  versuelit: 
die  Suche  nach  „netten"  Ornamenten  in  der  natürlichen  Flora  ist  ein 
echtes  Produkt  modernster  Kttnstemplindung,  zum  Theil  attch  modernei' 
Kun>trathlosigkeit.  Das  ornamentale  KunstseliatTen  in  der  Antike  ging 
ganz  andere,  wesentlich  künstlei'isehere  "Wege,  als  ein  mehr  luler 
minder  geistloses  Abschreiben  der  Natur. 

Der  entwickelte  Akanthus  mit  fortgeschrittener  Blatigliedernng 
lässt  sich  also  gerade  auf  den  ältesten  Denkmälern,  die  hier  in  Betracht 
kommen,  nirgends  nachweisen.  Was  am  Akanthus-Ornament  Aeliidicli- 
keit  mit  der  Acanthus  spinosa  begründet,  ist  erst  im  Verlaui'e  dei- 
Aveiteren  EntAvicklung  dazu  gekdunneii.  l''i'eilicli  hat  sich  diese  Ent- 
Avicklitng  wie  die  Akroterien  der  Grabstelen  Ijeweisen,  verhidtnissmässig 
rasch  A'ollzogen ,  und  zwar  -  Avas  kaum  zufällig  sein  w'wd  —  in  der 
Plastik  und  incht   in  der  Malerei.     Diesen  Umstand    hat   auch  l>i-ücknei- 

"";  Flaclio  l'almetten  der  traditionellen  Fiuin  in  der  gleichen  l'unktion 
z.B.  Mon,  incd.  VIII.  10.  In  Stein  ]ilastiscli  bei  Perrot  und  Cliipic/.  III.  79, 
Fig.  28. 

*"')  Akanthus  an  einer  ^'ase  in  gleicher  Funktion  (bezeiclnicndcrniaasscn 
plastisch!)  bei  SteplL-ini,  <'oiii|ptc   reiidii  bSSO,  Tat'.  IV.  8. 


10.    Das  liellenistisclie  und  römische  PHaiizenrankenornament.        233 

bereits  g-ebührend  hervorgehoben:  „Es  ist  bezeieljneud  für  die  attische 
Ornameiitmalerei  und  lässt  sicli  ül)ereinstinnnend  an  der  Ornament- 
malerei der  attischen  Thonvasen  erweisen,  dass  die  bloss  gemalten 
Muster,  soweit  sie  erhalten  sind,  nur  äusserst  schüchtern  den  Akanthus 
angeben". 

10.   Das  hellenistische  iiud  römische  Pflaiizenrankenoruanient. 

Im  Akanthus  haben  Avir  das  wichtigste  vegetabilische  Motiv  kennen 
gelernt,  das  eine  neuaufgekommene  naturalisirende  Tendenz  in  der 
griechischen  Kunst,  allem  Anscheine  nach  nicht  vor  der  Mitte  des 
5.  Jahrhunderts,  geschaffen  hat.  Auch  mit  der  schematischen  Profil- 
blüthenform  des  Lotus  hat  man  sich  auf  die  Dauer  nicht  begnügt.  Der 
dreiblättrige  Kelch  erfuhr  Umbildungen  (z.  B.  in  Glocken-,  Dolden-, 
Birnform),  die  sich  vom  ursprünglichen  egyptischen  Typus  Aveiter  ent- 
fernten, als  es  die  übrigen  altorientalischen  Stile  sowie  der  archaiche 
griechische  jemals  gethan  haben.  Auch  anscheinend  neue  Blüthen- 
formen  kamen  auf,  die  sich  als  unverkennbare  Versuche  perspektivischer 
Projektion  darstellen.  Dass  auch  diese  Motive  auf  ornamentgeschicht- 
lichem Wege  aus  gegebenen  Elementen  heraus  entstanden  sind,  lässt 
sich  bisher  bloss  vermuthen:  einer  Entscheidung  hierüber  müsste  eine 
besondere  Untersuchung  des  Gegenstandes  vorangehen.  Das  Material, 
wofür  die  unteritalischen  Vasen  eine  Haupte juelle  bilden  dürften*^),  ist 
leider  daraufhin  noch  nicht  einmal  gesammelt  und  gesichtet,  geschweige 
denn  bearbeitet.  Das  Interesse  für  die  hellenistische  Kunst  datirt  ja  im 
Wesentlichen  erst  seit  den  Ausgrabungen  von  Pergamon.  Die  Würdi- 
gung des  Dekorativen  in  dieser  Kunst  hat  namentlich  an  Theodor 
Schreiber  einen  verständnissvollen  ttnd  eifrigen  Anwalt  gefunden.  Es 
stünde  lebhaft  zu  wünschen,  dass  die  Lücke  zwischen  der  attischen 
Vasenornamentik  des  4.  Jahrh.  itnd  der  pompejanischen  Ornamentik 
möglichst  bald  gründlich  und  systematisch  ausgefüllt  würde.  Der  Unter- 
suchung, welche  wir  angestellt  haben,  erübrigt  nur  noch  die  Aufgabe 
zu  zeigen,  wie  die  hellenistische  Kunst,  kraft  ihrer  vorwiegend  dekora- 
tiven Tendenzen,  die  griechische  Rankenornamentik  endlich  an  das  Ziel 
geführt  hat,  dem  dieselbe  seit  Jahrhunderten  beharrlich  zugestrebt  hatte. 


*'")  Die  LTebei'setzung-  von  naturalisirenden  Blumentypen  in  das  ..Flach- 
ornament", die  Schaffung-  vegetabilischer  ,,Flachmuster''.  die  man  g-ewöhnlich 
für  eine  specifische  Errmig-enschaft  der  mittelalterlichen  Orientalen  anzusehen 
IDÜeg't,  verdient  in  ihrer  Dvirchführung-  auf  den  Halsverzierung-en  der  unter- 
italisclien  Vasen  allein  schon  eine  Monog-raphie. 


224  B-    ^^^^  nianzeuoniainent  in  der  g-riechischeii  Kunst. 

Sofern  dieses  Ziel  die  Ausgestalruuü-  der  an  den  Rankenlinien 
haftenden  pflanzlichen  Einzelmotive  l.etraf,  war  dasselbe  spätestens  in 
perikleischer  Zeit  thatsächlieh  erreicht.  Der  Akanthns  bedeutet  den 
äussersten  Punkt,  bis  zu  welchem  sich  (bis  l'tianzenornament  der  Xatur 
nähern  durfte,  ohne  in  kopistenhafte  Al)li;ini;-igkeit  von  dieser  letzteren 
zu  gerathen.^'"')  Die  Veränderungen.  Fort-  und  T'mbildungen,  die  uns 
an  den  Blütlienmotiven  des  hellenistischen  und  römischen  Ranken- 
ornaments entgegentreten,  sind  nicht  als  Krönungen  des  vorangegangenen 
Werdeprocesses,  sondern  als  Keime,  Ansätze  für  darauf  folgende  funda- 
mentale Xengestaltungen  anzusehen.  Was  der  hellenistischeti  Kunst 
für  die  Vervollkommnung  des  Rankenornauieiits  uoeh  zti  leisten  übrig 
blieb,  das  l:)etraf  nicht  die  Behandlung  der  Einzelmotive,  sondern  das 
Maass,  die  Ausdelniung  des  Verwendungsgebietes,  das  man  der  Raid-ce 
überhaupt  eiu/uräiinn'U  hatte. 

Die  gleichsam  physische  Vorbedingung  zu  einer  umfassenderen 
Verwendung  —  die  freie  künstlerische  Handhabung  des  Rankenorna- 
ments —  hatte  eigentlich  schon  die  schAvarzfigurige  Vasenmalerei  er- 
füllt. Es  handelte  sich  im  Grunde  nur  mehr  darum,  dem  Ranken- 
ornamente  den  erforderlichen  Raum  ztir  vollen  Entfaltung 
seiner  Qualitäten  zur  Verfügung  zti  stellen.  Dies  geschah  in 
der  hellenistischen  Zeit.  Nicht  als  ob  es  dieser  Zeit  um  blosse  Befrie- 
digttng  des  Schnmckbedürfnisses,  und  nicht  ancli  um  <lie  Lr^sung  hoher 
künstlerischer  Probleme  zu  thun  gewesen  wäre.  Diese  Probleme  lagen 
aber  überwiegend  auf  dem  Gebiete  der  Architektur:  den  monarcliisch- 
orientalisirenden  Gedanken  der  lianlierren  der  Diadochenzeit  genügte 
das  einfach-edle  Säulenhaus  nicht  mehr.  Der  Massenbau  und  die  "Wöl- 
bung beschäftigten  die  Pliantasie  dieses  Zeitalters,  ganze  Städte  wurden 
im  Nu  gegründet,  und  Prachtbauten  gleich  dem  Sarapeion  in  Alexandrieii 
aufgeführt,  in  denen  der  Skulptur  tind  Malerei  die  l)loss  dienende  Rolle 
des  Schmuckbereitens  zukam.  Die  Ziele  der  Skulptur  und  Malerei 
mussten  daher  vorwiegend  dekorative  werden,  und  damit  Avar  für  die 
gefällige  schmiegsame  Ranke  die  richtige  Zeit  gekommen. 

Von  den   Prachtbauten    und  Dekorationen  der  Dindoehen   hat  sieh 

*'■)  In  i»omi)cJHni,scher  Zeit  liat  man  .ilierdinii-s  vei'ciuzelt  auch  Blumen  in  fast 
völli;i'  natürlicliein  Habitus  und  zwai  anseiicinend  nicht  ;ini  einer  g-egenständ- 
liclien  Bedeutung  willen,  sondern  /u  rein  dekorativen  Zwecken  an  die  Wände 
gemalt-,  aber  dies  war  aii;:ensclieinlicli  bloss  eine  vorid)ergehende  Episode:  die 
natürlidien  Blnnienabl)ilduiigen  verscliw  andeu  in  der  sj»äteren  Kaiserzeit 
wieder  aus  der  I  )eU(ii-af  inn :  I'aliin'tten  und  Akantlnis  da^'eii'cn  sind  i:-eMirbcn. 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Pfianzenrankeuoniament.        235 


Fig.  121. 
Silberne  Amphora  in  der  Eremitage. 


236  ^-    Das  Prianzenornament  in  der  griechischen  Kunst. 

leider  so  gut  wie  Nichts  erhalten.  Wir  müssen  die  einzelnen  Stücke 
niühsttm  zitsammensuchen,  aus  denen  Avir  uns  die  "S'ollenching'  des  Ent- 
wicklung'sprocesses  der  griechischen  Pflanzenranke  zu  rekonstruiren 
vermögen.  Ein  vortreffliches  Beispiel  für  die  Dekoration  des  ganzen 
Bauches  einer  Vase  mittels  des  Rankenornaments  bietet  die  Nikopol- 
Yase  in  der  Eremitage  Fig.  1-21^').  Wir  sehen  hier  nur  eine  Seite  der 
Vase:  auf  der  anderen  Seite  ist  die  Dekoration  eine  völlig  ähnliche. 
Der  Figurenfries  der  attisclien  Vasen  des  5.  Jahrli.  ist  hier  auf  ein 
schmales  Schulterband  beschränkt;  den  Avcitaus  grössten  Theil  der  Ober- 
fläche füllt  das  Kankenwerk.  Unten  gewahren  wir  einen  Kelch  von 
drei  Akanthusblättern :  einem  vollen  en  face  zwischen  zwei  lialben  in 
Profllansicht.  Aus  dem  Kelche  steigen  zwei  Rankenstengel  em}>or  und 
verbreiten  sich  in  symmetrischer  Weise,  indem  sie  in  undulirender  Be- 
Avegung  dem  oberen  Rande  zustreben.  Der  Akanthus  kommt  auch  an 
den  Ranken  Aviederholt  vor:  als  plastische  Ilalbpalmette  dient  er  da 
zur  Hülse  der  Rankengabelungen  und  zum  Kelch  der  Lotusblüthen  und 
Palmetten:  also  in  der  schon  am  Erechtheion  festgestellten  Stilisirung 
und  Funktion.  Neben  den  plastisch -perspektivischen  Halbpalmetten 
begegnen  wir  aber  auch  den  traditionellen  flach-abstrakten;  sie  sind 
geschwungen  und  zum  Theil  von  dem  gesprengten  Palmettentypus  ent- 
lehnt. Auch  die  Blüthenfonnen  sind  melirfach  die  alten  flachen  Pnl- 
metten,  zum  Theil  zeigen  sie  aber  Neigung  zu  perspektiviscluT  Bildung 
und  naturalisirenden  Zuthaten.  Dieses  Nebeneinander  von  Hach-abstrak- 
ten  und  plastisch-perspektivischen  Formen  scheint  für  die  hellenistische 
Ornamentik  besonders  charakteristisch  gewesen  zu  sein,  da  es  sich  auch 
an  den  Halsverzierungen  der  unteritalischen  Vasen  überaus  häuflg  beol)- 
achten  lässt.  —  An  der  Nikopol-Vase  Avären  ausserdem  noch  besonders 
zu  vennerken  die  eingestreuten  Vögel,  die  als  leichtsclnvebende  Lebe- 
wesen zu  solchem  Zwecke  besonders  geeignet  Avaren,  und  mit  liallient- 
falteten  Flügeln  dargestellt  erscheinen.  Die  elegante  l^eAA'egung  di-r 
Ranken  ist  anscheinend  völlig  frei;  die  trotzdem  eingehaltene  Sym- 
metrie macht  sich  dem  Auge  nicht  vordringlich  bemerkbar. 

Die  griechische  Kunst  halte  aiier  nicht  umsonst  Jalirliiiiiderte  hin- 
durch danach  gestrebt,  in  der  hric-lisleii  Aufgabe  aller  SkuliJtiir  und 
Malerei,  in  der  Darstellung  tlrv  nienschlichen  Figur,  das  Vollkommenste 
zu  leisten.  I)ie  menschliche  Figur  avuixIc  schliesslich  .null  in  die  De- 
koration eingefiilirt.     Es  A\^ar  eine  der  lielieiiistisclieii  Künstler  Avünlige 

*')  Nach   Slej.liaui   ('oiii]ptc   iciidii    isill.   'J";il.  1. 


10.   Das  hellenistische  und  römische  Ptlanzenrankenornament. 


Aufgabe,  die  menschliche  Figur  mit  dem  Eankenornament  in 
geeignete  Verbindung  zu  bringen.  Einen  Vorläufer  hiefür  aus 
der  attischen  Kunst  des  5.  Jahrh.  hatten  wir  schon  in  Fig.  108  kennen 
gelernt.  Verhältnissmässig  einfach  war  die  Lösung,  sobald  es  sich  um 
bordürenartige  Streifen,  um  eine  Friesform  handelte.  Ein  vortreffliches 
Beispiel  für  hellenistische  Behandlung  einer  solchen  Aufgabe  bietet  das 


Fig.  122. 
(iolddiailein  aus  Eläa. 


Diadem  aus  Eläa  Fig.  122^^).  Die  zu  beiden  Seiten  der  Mittelpal- 
mette sitzenden  Jünglingsfiguren  sind  als  geflügelte  Eroten  gestaltet: 
die  Dekorationsflora  steht  in  der  stilistischen  Behandlung  völlig  nahe 
der  Nikopol-Vase.  Lehrreich  ist  auch  der  Vergleich  der  das  Diadem 
umziehenden  fortlaufenden  Wellenranke  mit  Hallipalmettenfächer-Fül- 
lungen,  mit  dem  Saume  von  einem  klazomenischen  Sarkophag  Fig.  7(j: 


Fig.  123. 
Golddiailem  aus  Abydos. 


einerseits  Identität  des  Grundschemas,  anderseits  Wandlung  in  der 
Stilisirung  der  füllenden  Halbpalmetten-Fächer  infolge  der  inzwischen 
zum  Durchbruch  gelangten  Tendenz  nach  lebhafterer  Bewegung. 

Reichere  Verwendung  von  menschlichen  Figuren    findet    sich    an 
dem  Diadem  aus  Abydos  Fig.  123^^1:  in  der  Mitte  auf  einem  Doppel- 


^^)  Nach  Archäol.  Zeit.  1884,  Taf.  VII.  1. 

«)  Nach  Blätter  f.  Kunstg-ew.  V.  4,  vg-l.  auch  Arch.  Zeit.  1884,  Sp.  93,  94. 


238  ß-    Das  Prtanzenornainent  in  der  gTiechiseheu  Kunst. 

kelch  aus  Akaiithus,  Dionysos  und  Ariadne,  beiderseits  auf  den  Ranken- 
Aviudung"en  sitzend  musicirende  Figuren.  Das  Motiv,  in  welches  die 
Ranken  an  beiden  Enden  auslaufen,  hat  in  der  hellenistischen  und  später 
in  der  orientalischen  Kunst  eine  grosse  Rolle  gespielt.  Es  ist  wohl  das- 
selbe, das  JacobsthaP^)  mit  einer  in  Griechenland  liciniisclien  Pflanze, 
dem  Dracnnculus  vulgaris,  identiticirt  hat.  Abgesehen  von  principiellen 
Bedenken  scheint  mir  die  Verbreitung  des  ^lotivs,  namentlich  über 
orientalischen  Kunstboden,  gegen  jene  ZuAveisung  zu  sprechen.  Aehn- 
liche  Motive,  augenscheinlich  als  Palmen  gedacht,  finden  sich  schon  in 
der  egyptischen  Kunst  der  Pharaonenzeit  dargestellt.  Ich  gebe  als  Bei- 
spiel Fig.  1-24:  nach  Lepsius  III.  09,  vgl.  ebenda  III.  95.  An  Fig.  123  giebt 
sich  das  Mutiv  als  gleichsam  zwickcltüllender  Abschluss  der  Ranke.  Man 
sieht,  dass  in  der  Friesform  eine  Combination  von  Figui'en  und  Ranken- 
windungen   verhältnissmässig    leicht    gefunden    Avar.     Das  (ileiche    gilt 


Fi-,  l'.'l. 
Stilisiitu   üauiiikroiien.     Altegyptisch. 

von  Pilasterfüllungen,  wofür  eines  der  glänzendsten  B('isi>iel('  in  der 
Villa  Hadriana  (Canina  \l.  172)  gefunden  wurde.  Schwieriger  gestaltete 
sich  die  Lösung,  sobald  es  sich  um  die  Einstreuung  von  Figuren  in 
eine  grössere  mit  K'ankenwei-k  libei-zogene  Fläclie  handelte.  Ein  vol- 
lendetes Beispiel  hiefür  liefert  iler  Ilildesheimcr  8in)erkrater''') 
Als  Figuren  sind  Putten  gewälilt,  olfenbar  ob  ihi'er  sclnvebenden  Leich- 
tigkeit und  Possirlichkeit,  wodnrcli  sie  sicli  bessei"  als  Ei'\\aclis(MU'  zu 
den  heiteren  spielenden  Z\\(^cken  der  Dekoi'ation  eigneten.  Dazu  d.is 
kleine  Seegethiei-,  die  Krebse,  Seepferdchen,  1^'iselie.  .lur  \\cl('lie  ein 
'IMieil  der  Putten  mit  Poseidons  Dreizack  .Jagd  macht,  wälii-eud  .nulere 
sich  behaglieh  in  (h.'n  K'nnkeneinrollungen  wiegen.  1  )ie  Einstellung  des 
Mildeslieimer  Silberkraters  wird  \(ni  Einigen  in  riwnist-he  Zeit  verlegt. 
Selbst  Avenn  dem  so  wäre,  wird  mau  nicht  zweifeln  krmneii.  dass  der 
seiner  Dekoration    zu    Grunde    liegende   Gedanke         die  freie   K'.inken- 

-•)  An-h.  Zeil.  I.ssl,  S|..  70. 

■'')  Holzer.  der  llildcsheinicr  aiitiUe  Siii)ertiuid,  Tat'.  III.   1. 


10.    Das  hellenistisclie  und  römische  Pflanzenrankenornament.         239 

entfaltung-  mit  eingestreuten  Kinderfiguren  —  auf  hellenistische  Ein- 
gebungen zurückgeht.  Tritt  uns  doch  das  System  in  der  ersten  römi- 
schen Kaiserzeit  (Pompeji,  Farnesina)  allzu  vollendet  und  ausgeprägt 
entgegen,  als  dass  es  zu  dieser  Zeit  nicht  schon  seine  Entstehungs- 
stadien lange  hinter  sich  gehabt  haben  müsste. 

Mit  Werken,  Avie  der  Hildesheimer  Krater,  war  die  Leistungsfähig- 
keit der  dekorativen  PÜanzenranke  aufs  Höchste  gesteigert,  der  Kreislauf 
erschöpft.  Auch  unsere  Eingangs  gestellte  Aufgabe,  die  Entwicklung  des 
Pflanzenrankenornaments  von  seinen  frühesten  Anfängen  in  der  mykeni- 
schen  Kunst  bis  zur  reifsten  Ausbildung  zu  verfolgen,  erscheint  damit  ge- 
löst und  wir  könnten  hiemit  füglich  dieses  Kapitel  abschliessen.  Es  wurde 
aber  schon  angedeutet,  dass  in  der  Detailbehandluug  der  Ranke  und 
der  Stilisirung  ihrer  anhaftenden  Blüthen-  und  Blättermotive  Avährend 
der  hellenistischen  und  der  römischen  Kaiserzeit  gewisse  Veränderungen 
und  Fortbildungen  sich  vollzogen  haben,  die  man  nicht  so  sehr  für 
Vollendungen  des  Entwicklungsganges  in  vorperikleischer  Zeit,  als  viel- 
mehr für  die  Vorboten  und  Ausgangspunkte  einer  künftigen, 
wesentlich  verschiedenen  Zielen  zustrebenden  Stilweise  an- 
zusehen hat.  Es  wird  sich  daher  empfehlen,  der  hellenistischen  Ranken- 
ornamentik nach  der  angedeuteten  Richtung  noch  einige  Betrachttingen 
zu  widmen,  um  für  den  Augenblick,  da  wir  an  die  Erörterung  des 
byzantinischen  und  saracenischen  Rankenornaments  schreiten  werden, 
den  Anknüpfungspunkt  sichergestellt  und  bereit  zu  haben. 

Im  Verlaufe  des  EntAvicklungsprocesses  der  griechischen  Ranken- 
ornamentik hatte  unter  allen  hiebei  in  Betracht  kommenden  Einzel- 
motiven die  Palmette  allmälich  die  grösste  Wichtigkeit  erlangt.  Der 
Palmettenfächer  war  es  eben,  der  sich  weitaus  am  besten  dazu  eignete, 
genau  nach  Maassgabe  des  jeweiligen  Bedürfnisses  in  die  Zwickel  der 
Rankengabelungen  eingesetzt  zu  werden.  Traten  zwei  Rankenendigungen 
in  spiraligen  Einrollungen  zu  einem  Kelche  zusammen,  so  erhob  sich 
darüber  als  Füllung  der  Fächer  einer  vollen  Palmette.  Handelte  es 
sich  nur  um  die  Abzweigung  eines  Schösslings  vom  Hauptstamme  der 
Ranke,  so  Avar  mit  diesem  Schössling  bloss  eine  spiralige  Einrollung, 
die  Hälfte  eines  Kelches  gegeben,  über  welchem  dann  als  Füllung  bloss 
ein  halber  Palmettenfächer  nothwendig  war.  Geschah  endlich  die 
Rankengabelung  unter  sehr  spitzem  Winkel,  so  genügte  ein  kleiner 
('/^ — 1/3)  Ausschnitt  aus  dem  Fächer  einer  vollen  Palmette. 

Als  im  Laufe  des  5.  Jahrhunderts  eine  lebhaftere  Bewegung,  ein 


240  B-  Das  PHanzenornament  in  der  g-iiechiseheu  Kunst. 

ersichtliches  Bestreben  iiacli  Verlebendiguiiii-  in  die  D.u'stcllniig-  des 
Pflanzenornameuts  gekommen  war,  knüpften  die  -wichtigsten  und  ent- 
scheidendsten Versuche  nach  dieser  Richtung-  an  die  Palniette  an.  Es 
erfuhren  zwar  auch  die  Profil-Blütheutypen  naturalisirende  Verände- 
rungen; dauernd  und  klassisch  erwiesen  sich  aber  eigentlich  bloss 
diejenigen,  die  sich  an  der  Palmette  vollzogen. 

Als  die  nächste  dieser  Veränderungen  haben  wir  das  Aufkonnnen 
der  gesprengten  Palmette  kennen  gelernt.  Die  dauernde  Bedeutung, 
die  dieses  Motiv  für  die  spätere  Entwicklung  gewonnen  hat,  beruht  in 
der  daran  vollzogenen  Zweitheilung  des  Palmettenfächers.  Das  Postulat 
der  Zwickelfüllung  hatte  bereits  —  wie  wir  gesehen  haben  —  das 
Motiv  der  Halbpalmette  nothwendigermaassen  in  die  Welt  gebracht,  das 
nun  alsbald  seiner  ganzen  Funktion  nach  als  das  wichtigere,  verwend- 
barere und  daher  auch  zukunftsreichere  gegenüber  der  vollen  Palmette 
erscheinen  musste.  Die  gesprengte  Palmette  trägt  diesem  Umstände 
volle  Pechnung,  indem  sie  den  einheitlichen  Fäclier  preisgiel)t  und  sich 
unzweideutig  als  Produkt  der  symmetrischen  Zusammensetzung  zweier 
Halbpalmetten  kundgiebt. 

Der  nächste  und  entscheidende  Schritt  geschah  mit  der  Schaffung- 
eines  plastisch -perspektivischen  Palmettentypus,  der  uns  im  sogen. 
Akanthus  vorliegt.  Und  zwar  haben  wir  auch  hier  zu  unterscheiden 
z-vYischen  dem  Akanthusblatt,  das  der  vollen  Palmette  ents]>ric'lit,  und 
der  sogen.  Akanthusranke,  die  aber  nichts  anderes  ist  als  das  längs  einer 
Ranke  dahinlantcnde  Akanthusblatt  in  halber,  d.  h.  in  Protilansicht. 
und  die  daher  als  plastische  llalltpalmette  erklärt  werden  darf.  Wir 
liaben  (S.  219)  das  erstere  Motiv  -.üa  A/x'a)tt/iit.'<v<)II/>hitf.  das /cwriie  als  .l/.i//'- 
thushalbblatt  bezeichnet. 

Vom  Ende  des  5.  Jahriiuiiderts  an  laufen  l>eide  Pro- 
Jf'ktionen,  die  flach  -  abstrakte  und  die  plastisch  -  perspek- 
tivische, neben  einander  her.  So  begegneten  sie  uns  gemeinsam 
auf  der  Nikopolvase,  und  dass  das  Gleiche  auf  den  unteritalischen  Vasen 
des  4.  und  ."..  .jalirli.  zu  heohaehten  ist,  wurde  auch  schon  erwälmi. 
Ein  weiteres  Beis]>iel  lial)en  wir  in  einem  Diadem  aus  Eläa  (Fig.  1-J2) 
kennen  gelernt.  Gleichwohl  finden  sich  noch  Jahrhunderte  lang  nach 
dem  Aufkommen  des  Akanthus  Verzierungen,  die  ])loss  von  der  flach- 
stilisirten  Palmettenrankc  bestritten  sind  ,  muX  zwar  bezeichnciidei-- 
inaassen  unter  den  Henkeln  der  Vasen,  wu  ja  das  reine  Ornament  seit 
j<'her  seine  Zufluehtstätte  hatte,  während  auf  den  Ilals  zum  Theil  sich 
di<;    figürlichen  Darstellungen  erstrecken,    mindestens  ein  niensehlieher 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Ptianzenrankenornament.        241 

Kopf,  häufig  aber  auch  eine  ganze  Figur  den  Mittelpunkt  der  Deko- 
ration bildet,  wodurch  sich  dann  auch  die  Heranziehung  des  plastisch- 
perspektivischen Akanthus  rechtfertigt.  Untersuchen  wir  nun  vorerst 
einmal 

a.    Die  flache  Palmetten-Eanke. 

Was  uns  an  Fig.  125'''-)  entgegentritt,  ist  im  Grunde  nichts  anderes, 
als  ein  von  den  attischen  Vasen  des  5.  Jahrh.  her  wohlbekanntes 
System  von  Palmettengeranke:  unten  eine  grosse  Palmette,  umschrieben 
von  zwei  Rankenlinien,  die  sich  über  dem  Scheitel  der  Palmette  in 
wellenförmigen  Schwingungen  nach  rechts  und  links  symmetriscli  aus- 
breiten, die  zahlreichen,  hierdurch  entstehenden  Zwickel  gefüllt  mit 
ganzen  Palmetten,  Halb]»almetten  und  Fächer-Ausschnitten.  Und  doch 
lassen  sich  bei  näherem  Zusehen  einige  Eigenthümlichkeiten  beobachten, 
die  den  attischen  Palmettenranken  des  5.  Jahrh.  theils  gar  nicht, 
thcils  nur  in  weit  minderem  Grade  eigen  gewesen  sind. 

Für's  Erste  die  sorgfältige  Raumausfüllung.  Die  Einzelmotivc 
erscheinen  so  nahe  an  einander  gerückt,  dass  es  unmöglich  ist  zu  ver- 
kennen, dass  der  Vasenmaler  möglichst  wenig  scliAvarzen  Grund  frei- 
lassen wollte.  Den  attischen  Vasen  mindestens  der  Zeit  vor  dem 
peloponnesischen  Kriege  war  ein  solcher  Horror  vacui  fremd.  Wie 
haben  wir  uns  diese  neue  Erscheinung  zu  erklären?  Offenbar  aus  dem 
gleichen  Grunde,  der  die  analoge  Erscheinung  im  Dipylonstil  u.  s.  w. 
zur  Folge  gehabt  hat.  Ein  neuerliches,  vermehrtes  Schmuckbedürfniss, 
ein  langsam,  aber  mit  Macht  vordrängender  dekorativer  Zug  verräth 
sich  augenscheinlich  in  dieser  Sucht,  den  Griind  möglichst  ausgiebig 
mit  Zierformen  zu  mustern.  Dies  entspricht  denn  auch  dem  allgemeinen 
Charakter  der  hellenistischen  Kunst.  Der  Zug  zur  Darstellung  des 
Gegenständlichen,  der  die  griechische  Kunst  etwa  bis  in  die  perikleische 
Zeit  charakterisirt,  das  überwiegende  Streben  nach  Bemeisterung  der 
menschlichen  Körperformen,  nach  Versinnlichung  der  das  Hellenen- 
thum  bewegenden  religiösen,  sittlichen  und  politischen  Ideen:  damit 
war  man  im  letzten  Drittel  des  5.  .Jahrh.  auf  einen  ßöhepunkt  ge- 
langt, von  dem  aus  es  kaum  mehr  eine  Steigerung  gab.  Nun  regte 
sich  wieder  die  Schmuckfreudigkeit,  drängte  es  wieder  nach  dem 
anderen  der  beiden  Pole,  zwischen  denen  sich  alles  Kunstschaffen  be- 
wegt. Der  hohen  und  erhabenen  Tyjjen  waren  genug  geschaffen,  um 
Herz  und  Auge  daran  zu  erfreuen.     Die  pompejanische  Innendekoration 


32)  Nach  Owen  Jones,  Taf.  XIX.  7. 

Riegl,  Stilfragen.  lö 


242 


B.    Das  Pflanzenovnament  in  der  o-ricchischeii  Kmisr. 


erscheint  geradezu  cliarakterisirt  durch  die  spielende  Verwendung,  die 
sie  mit  den  von  der  vorangegangenen  grossen  Kunstperiode  geschaöenen 
Typen  der  heroischen  und  der  (röttersage  vorgenommen  hat.  Xatürlich 
bedurfte  eine  solche  Zeit  eines  ganz  anderen  Apparates  au  reinen 
Schmuckfornien.  als  es  dei-Jenige  gewesen  war,  mit  dem  sieli  die  ülter- 


Fig.  125. 
(Jcmaltos  griccliisclies  Jlankenoniamcnt. 


wiegend  mit  ligürlieli-uionuiiient.ilni  l'rohhMiH'U  licsohäftigte  griechische 
Kunst  des  (>.  und  .").  .I;dirh.  liattc  })egnügen  krunien.  Mit  einem  Schlage 
war  aber  ein  solcher  .\]>p;ir,it  nicht  zu  beschauen:  dei'  nächste  Sehritt 
bestand  daher  in  cim-r  reiclilichercn,  üpitigereu  Verwendung  (h-i-  ülu-r- 
kommenen  Zierformen.  Dieses  Stadium  sehen  wir  n.  A.  in  I-'ig.  1  •.».') 
verkfirpert.  Hatte  sich  der  attisclie  Vasenm.ilei'  ei\\;i  der  1.  Hälfte  des 
.').  Jahrh.    mitunter    bloss    mit    einem   einzigen  li'.m kenzweige  begnügt, 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Pflanzenrfinkenornament.        243 

den  er  unter  die  Henkel  hinwarf,  so  erscheint  nunmehr  der  ganze  von 
den  Henkeln  einerseits,  der  figürlichen  Darstellung-  auf  dem  Bauche 
der  Vase  anderseits  freigelassene  Raum  möglichst  mit  der  Palmetten- 
ranke ausgefüllt. 

Der  eben  gekennzeichnete  Unterschied  von  Fig.  125  gegenüber 
der  älteren  attischen  Weise  betrifft  die  Anwendung  des  Ranken- 
ornaments im  Allgemeinen.  Die  besprochene  Erscheinung  ist  auch 
mehr  als  Symptom  für  den  sich  nunmehr  anbahnenden  Tendenzwechsel 
zu  verzeichnen,  und  nicht  so  sehr  als  typisches  Beispiel  von  einer  fest- 
stehenden Regel.  Der  grosse  Zug  in  der  Führung  des  Rankenornaments, 
dem  die  griechische  Kunst  seit  mykenischer  Zeit  augenscheinlicli  zu- 
strebte, verräth  sich  auch  noch  —  und  Dank  den  gesteigerten  Mitteln 
da  erst  besonders  —  an  gewissen  Kunsterzeugnissen  der  hellenistischen 
Zeit,  wie  an  der  Nikopol-Vase  oder  am  Hildesheimer  Silberkrater.  Diese 
letzteren  betrachten  wir  daher  auch  als  die  Repräsentanten  der  Voll- 
endung des  bisherigen  Entwicklungsprocesses,  während  in  Zusammcn- 
schiebungen  des  Rankenornaments  gleich  Fig.  1-25  sich  ein  künftiger, 
anderen  Zielen  zugcAvandter  Kunstgeist  ankündigt. 

An  dem  gegebenen  Beispiel  treten  aber  noch  einige  Eigenthümlich- 
keiten  zu  Tage,  die  das  Detail,  die  pflanzlichen  Einzelmotive 
betreffen.  Da  wäre  einmal  die  Verdickung  zu  vermerken,  die  den 
Ausläufern  der  Ranken  verliehen  erscheint.  Man  war  augenscheinlich 
bestrebt,  diesen  Ausläufern  gegenüber  den  feinen  spiraligen  Einrollungen 
ein  körperliches  Aussehen  zu  geben.  Man  beachte  namentlich  die  Aus- 
läufer der  unteren  Ranken,  die  gegen  die  Mitte  zu  nach  aufwärts  ver- 
laufen: einerseits  eine  Rankenspirale,  anderseits  das  verdickte,  nackt- 
schneckenartige  Ende,  dazwischen  drei  füllende  Blätter  eines  Fächer- 
ausschnitts. Der  verdickte  Ausläufer  sollte  offenbar  nicht  zur  blossen 
Kelchbildung,  gleich  der  Spiralranke,  dienen,  was  dazu  auffordert,  in 
dem  ganzen  Motiv  eine  frei  auslaufende  Halbpalmette  zu  erkennen. 

Das  „freie  Auslaufen"  dieser  Halbpalmette  wurde  absichtlich 
betont,  weil  uns  in  Fig.  125  auch  mehrfache  Halbpalmetten  ent- 
gegentreten, die  sich  nicht  als  freie  Endigungen  darstellen, 
sondern  von  deren  Scheiteln  die  Ranken  weiterlaufen.  Darin 
beruht  eine  dritte  wesentliche  Eigenthümlichkeit ,  die  wir  an  dem  in 
Rede  stehenden  Rankenornament  zu  verzeichnen  haben.  Verfolgen  wir 
z.  B.  die  Rankenlinie,  die  an  der  unteren  centralen  Palmette  rechts 
hinaufläuft.  Ueber  dem  Scheitel  der  besagten  Palmette  —  wo  sie  mit 
der  von  links  herankommenden  Rankenlinie  einen  Kelch    bildet,    über 

16* 


244  B-    I^^s  Pflanzenornament  in  der  g-nechischen  Kunst. 

dem  sieh  dann  die  obere  centrale  Palmette  erhebt  —  wendet  sie  sich 
nach  rechts  und  biegt  nach  abwärts  um,  indem  sie  zugleich  einen 
Spiralschössling  entsendet.  In  den  Zwickel  zwischen  dem  letzteren  und 
der  Hauptranke  selbst  ist  der  Fächer  ehier  Halbpalmette  eingezeichnet, 
deren  (hall)en)  Kelch  eben  der  erwähnte  Spiralschössling  bildet.  Gewiss 
Ist  die  ursprüngliche  Bedeutung  dieses  Halbpalmettenfächers  bloss  die- 
jenige einer  accessorischen  Zwickelfiillung  gewesen.  Aber  im  vorliegen- 
den Falle  ist  das  Verhältniss  zwischen  Spiralkelch  und  Fächer  bereits  ein 
so  entsprechend  gewähltes,  drängt  sich  die  Konfiguration  einer  Halb- 
palmette dem  Auge  bereits  so  zwingend  atif,  dass  wir  unmöglich  an- 
nehmen können,  es  Aväre  dies  dem  Vasenmaler  entgangen  und  von  ihm 
nicht  beabsichtigt  geAvesen.  Aber  verfolgen  wir  die  Fortsetzung:  die 
Kanke  läuft  von  der  Spitze  (dem  Scheitel)  der  eben  konstatirten  llallv 
palmette  Aveiter.  biegt  Avieder  nach  aufwärts  um,  bildet  zuerst  eine 
neuerliche  Halbpalmette,  umschreibt  daini  eine  volle  Palmette  und 
endigt  in  eine  freie  Halbpalmette  mit  verdicktem  und  energisch  aus- 
wärts gekrümmten  Scheitel. 

ZAveierlei  haben  yviv  aus  dem  Gesagten  besonders  zu  vermrrken. 
Erstlich  den  Umstand,  dass  so  augenscheinliche,  vegetabilische  Blüthen- 
oder  Blattmotive  Avie  die  Halbpalmetten  an  eine  Kanke  in  der  Weise 
angesetzt  Averden,  dass  sie  nicht  die  freien  Endigungen  bilden,  sondern 
von  ihren  Spitzen  oder  Scheiteln  die  Kanken  weiterlaufen.  Darin  be- 
kundet sich  ein  entschiedenes  AbAvcichen  A'on  einem  Grund- 
gesetze der  Natur,  nach  welchem  die  Blätter  und  Blüthen  regel- 
mässig die  Bekrönung  der  Stiele  bilden.  ZAveifellos  hat  die  Ornamentik 
das  Recht  zu  solchen  AbMcielmngen,  aber  es  ist  doch  überaus  a\  ichtig 
zu  beobachten,  Avann  und  in  Avelcher  Weise  dies  zuerst  geschehen  ist. 
Ein  rein  künstlerischer  Process  ist  es  augenscheinlich  gcAvesen,  der 
dazu  geführt  liat.  Wir  l),i])cii  das  Maass  der  Berücksichtigung  des 
Postulats  der  Zwickelfüllung  bei  allen  antiken  Künsten,  A^on  (\vv 
egyi)tischen  Kunst  angefangen,  verfolgt,  und  es  kann  keinen  Zweifel 
leiden,  dass  dieses  Postulat  allmälig  zur  Herausbildung  der  itvfreien 
Halbpalmette,  Avie  Avir  sie  nennen  wollen,  geführt  hat.  Ich  glaube  auch 
nicht,  dass  der  Vasenmaler  von  Fig.  12;')  sich  den  Sachverhalt  so  ge- 
dacht hat,  dass  in  der  That  die  Spitze,  das  Scheitelende  der  Halb- 
palmette den  Ausgangspunkt  liir  die  Aveiterlaufende  Kanke  bilden  sollte. 
Den  strikten  BeAveis  hiefür  Averden  Avir  an  der  Hand  der  plastisch- 
perspektivischen  Halbpalmette,  d.  i.  des  Akantlmsliall. Malis  führen 
können,    das    ursprünglich    geradezu  dai'aul'iiin  stilisirl   \\ur<h'n  ist,  um 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Pllanzenrankenornament.        945 


nicht  als  iu  der  Eanke  aufgehend,  als  ^infrei  zu  erscheinen.  Was  aber 
das  gegebene  Beispiel  für  die  künftige  Entwicklung  so  überaus  wichtig 
macht,  das  ist  der  Umstand,  dass  daran  in  der  zeichnerischen 
Projektion  Formen  vorliegen,  aus  denen  eine  spätere,  dem  Naturalismus 
abgekehrte  und  die  ursprüngliche  vegetabilische  Bedeutung  des  Orna- 
ments absichtlich  verkennende  Kunst  ein  mehr  oder  minder  abstraktes 
Gebilde  schaffen  konnte  und  in  der  That  geschaffen  hat,  mochte  auch 
der  griechische  Maler  dieser  Vase  noch  gar  nicht  daran  gedacht  haben, 
dass  er  mit  seiner  Stilisirung  ein  die  Natur  vergewaltigendes,  ein  anti- 
naturalististisches  Schema  von  Pflanzendekoration  geschaffen  hat. 

Ferner  ist  noch  einmal  hinzuweisen 
auf  die  Scheiteleuden  der  freien  Halb- 
palmetten, deren  verdickte  körperliehe 
Form  bereits  an  früherer  Stelle  Erörte- 
rung gefunden  hatte.  Es  erübrigt  uns 
daran  noch  die  starke  Krümmung  nach 
Aussen  in's  Auge  zu  fassen.  Diese  Krüm- 
mung konnte  sich  naturgemäss  bloss  an 
den  freien  Halbpalmetten  so  energisch 
äussern;  es  ist  aber  wichtig  zu  ver- 
merken, dass  auch  die  unfreien  Halb- 
palmetten die  Neigung  zeigen ,  den 
Scheitel  umzubiegen.  Es  ist  der  Geist 
der  gesprengten  Palmette,  der  sich  darin 
ausdrückt,   und  dem  allerdings  an  der 

unfreien  Halbpalmette  schon  durch  die  undulirende  Bewegung  der 
Ranke  Vorschub  geleistet  wurde.  Ein  sehr  lehrreiches  Beispiel  für  die 
Tendenz  der  Halbpalmetten  nach  einer  Krümmung  ihrer  Scheitelspitzen 
nach  Aussen  bietet  auch  Fig.  126^^),  wo  übrigens  der  Fächer  der 
mittleren  Halbpalmetten  durch  Unterdrückung  der  einzelnen  Blätter  zu 
einem  sphärischen  Dreieck  zusammengezogen  und  dadurch  fast  arabesk 
geometrisirt  erscheint. 

Die  Wichtigkeit  die  wir  der  Gestaltung  des  Palmettenrankenorna- 
ments,  wie  sie  uns  in  Fig.  125  entgegentritt,  nach  dem  Gesagten  bei- 
messen müssen,    dürfte   es  rechtfertigen,   wenn  in  Fig.  127^^)  noch  ein 


Fig.  126. 
Gemaltes  griechisches  liankenornaraent. 


^^)  Nach  Owen  Jones  XX.  1. 

^■')  Von  einer  attischen  Lekythos  im  k.  k.  Österreich.  Museum  f.  Kunst  u. 
Inclust.,  Kat.  No.  370.  —  Die  Redaction  dieses  Kataloges  durch  Dr.  K.  Masner 
(Die  Sammlung  antiker  Vasen  und  Terrakotten  im  k.  k.  österr.  Museum,  Wien 


246 


B.    Das  Pflanzenornament  in  der  griechischen  Kunst. 


Beispiel  hiefür  gegeben  wird.  Das  Schema  ist  im  Grunde  das  gleiche 
wie  in  Fig.  125,  aber  entsprechend  der  geringeren  zur  A'erziernng  ge- 
gebeneu Fläche  minder  reich  entwickelt.  Dieselbe  peinliche  Ausfül- 
lung des  Grundes,  die  gleiche  Aufreihung  von  unfreien  und  Endigung 
in  freie  Halbpalmetten.  An  der  inneren  Windung  war  aber  für  einen 
wirklichen  Halbpalmettenfächer  kein  Eaum,  die  Stilisirung  der  Zwickel- 
füllung läuft  liier  vielmehr  ganz  i)arallel  der  an  dem  mykenischen 
Beispiel  Fig.  64  ])eobachteten.  Die  freie  llalbpalmette  mit  verdicktem 
und  gekrümmtem  Ausläufer  zeigt  anstatt  des  Blattfächers  das  si>härische 


rig-.  127. 

Gemalte.s  Itaiikcnoniameiit  von  einer  attisclicn  Lekvthos  des  1.  Jalu-li. 


Dreieck  wie  Fig.  rji).  Dass  der  Blattfächer  in  dieser  geometrisirten 
Form  thatsächlich  latent  vorhanden  ist,  beweist  Fig.  128"),  wo  die  llalb- 
palmette von  einer  geraden  T'mrisslinic  umzogen  und  abgcselilusscn 
ersclieint,  iinu-rliaH)  deren  sieh  aiier  der  Blaltfächer  ausdrücklieli  ein- 
L^ezr-ichnet  findi't. 


I>i92;  hat  sich  uiir  Itei  der  g-loichzeitigen  Abfassunü-  dieses  Kajiitels  üher  das 
antike  P/Ianzcnrankenornamcnt  vielfach  fördernd  und  anregend  erwiesen, 
was  ausdrücklich  hervorzuheben  ich  meinem  genannten  Anitskollcgen  gegen- 
über als  angenehme  Pflicht  empfinde. 

")  Nach  Stephani  Compte  rendxi  ]yHÜ,  \'.    I. 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Ptianzenrankenornament. 


24' 


]Mit  Eilcksicht  auf  den  Umstand,  dass  wir  den  Fortentwicklungs- 
process  des  flachen  Palmettenrankenornaments  in  hellenistischer  Zeit 
hauptsächlich  bloss  an  der  Hand  unteritalischer  Vasen  zu  verfolgen  im 
Stande  sind,  ist  es  bedeutsam  zu  erwähnen,  dass  die  Lekythos,  von 
welcher  Fig.  127  entlehnt  ist,  aus  Athen  stammt,  worauf  mich  Dr.  Masner 
aufmerksam  macht:  bedeutsam  deshalb,  w'eil  sich  hieraus  ergiebt,  dass 
die  erwähnten  Besonderheiten  nicht  einen  blossen  unteritalischen  Provin- 
cialismus  repräsentiren,  sondern  als  weitreichende,  weil  ort'enl)ar  organi- 
sche Fortentwicklung  angesehen  werden  müssen. 

Das  flache  Palmettenornament  ist  auch  Avährend  der  römischen 
Kaiserzeit  stets  in  Anwendung  gekommen,  wenngleich  nur  in  beschei- 
denem   Maasse.      Xamentlich    im   römischen  Westen   dagegen   hat  das 


s^^^^mni^ 


Fig.  128. 
Gemaites  grlecbisches  liankenornaraent. 


plastischperspektivische  Palmettenornament  des  sogen.  Akanthus  allmälig 
das  entschiedene  üebergewicht  erlangt.  Aber  selbst  hier  finden  Avir 
vereinzelt  noch  in  der  spätesten  Zeit  (Spalato)  gesprengte  Palmetten  von 
flacher  Stilisirung  an  einer  und  derselben  Ranke  alternirend  mit  akan- 
thisirenden  Palmetten.  Auch  die  spiralige  Wellenranke  ohne  alle  vege- 
tabilischen Ansätze  und  Zwickelfüllungen,  völlig  im  nackten  Schema 
des  mykenischen  Beispiels  Fig.  50,  ist  bis  in  die  späteste  Zeit  des 
Römerweltreichs  im  Gebrauch  geblieben ^"^'i.  Ja  im  Osten  des  Mittel- 
meeres scheinen  die  flachen  Typen  aus  der  Zeit  der  ausgehenden 
attischen  Kunsthegemonie,  zu  welcher  Zeit  sich  eben  die  künstlerische 
Eroberung  des  Orients  vollzogen  hatte,  in  konservativer  Weise  stets 
bewahrt  und  mit  Vorliebe  gebraucht  worden  zu  sein,  zum  l)ezeiclniendeu 


^'')  So  tritt  uns  anscheinend  die  Wellenranke  auf  dem  schönen  hellenisti- 
schen Diadem  aus  Abydos  (Fig-.  123)  entg'egen,  doch  zeigen  die  kurzen  Seiten- 
schösslinge  an  der  ersten  Windung  rechts  und  links  von  der  ]Mitte  akanthi- 
sirende  Stilisirung.  Es  liegt  somit  eine  Akanthusranke  vor,  an  der  nur  die 
buschigen  Blätter  zu  Gunsten  der  in  die  Windungen  hineingesetzten  musi- 
cirenden  Fio-nven  unterdrückt  sind. 


248  B.    Das  Pflanzenornameut  in  dei*  gTiechischeu  Kunst. 

Unterschiede  von  dm  überwiegend  naturalisirenden  Neigungen,  denen 
sich  der  "Westen  liingegeben  hat. 

Der  Mittelpunkt  der  künstlerischen  Bewegung,  und  daher  auch 
der  ornamentalen  EntAvicklung  lag  zunächst  nicht  im  Orient,  sondern 
im  "Westen.  ZAveifellos  hat  das  BekanntAverden  mit  orientalischen  Mo- 
numentalwerkeu  vielfach  fördernd  und  befruchtend  auf  die  Ausbildung 
der  hellenistischen  Kunst  eingewirkt.  Aber  der  entscheidende,  der 
formgebende  Faktor  war  der  Avestliche,  der  griechische.  Haben  wir  in 
der  Tliat,  wie  Theodor  Schreiber  avüI,  den  wichtigsten  Schaui)latz  dei- 
Heranbildung  der  hellenistischen  Dekorationskunst  in  Alexandrien  zu 
suchen,  so  bietet  gerade  diese  Stadt  die  augenfälligsten  Parallelen  zu 
der  Kunst,  die  daselbst  ihre  Heimstätte  gefunden  haben  soll:  eine 
griechische  Gründung  auf  orientalischem  Boden,  bewohnt  von  griechi- 
schen Bürgern,  regiert  von  Griechen,  aber  nach  orientalisch-monarchi- 
schen Principien.  Darin  erkennen  wir  das  Spiegelbild  der  hellenistiseli- 
alexandrinischen  Kunst:  grosse  monarchische  Bauherrengedanken  iSe- 
rapeion),  unter  Anwendung  prunkvollen  und  kostbaren  Materials,  küline 
technische  Proceduren  (Wölbung),  aber  unter  Beobachtung  griechi>clier 
Einzelformen  und  wohl  auch  el)enmässig  abwägenden  griecliiselieu 
Kunstgefühls. 

Der  Schluss,  der  sich  aus  dieser  allgemeinen  Betrachtung  auf  den 
EntAvieklungsgang  des  Ptlanzenrankenornaments  ergiebt,  lautet  dahin, 
dass  die  naturalisirende  Tendenz,  deren  mächtiges  Anwachsen  wir 
schon  in  den  letzten  Jahrzehnten  attischer  Kunsthegemonie  Avahrnelnnen 
konnten,  auch  in  der  Kunst  an  den  orientalisirenden  Diadochenhöfen 
sich  geltend  gemacht  haben  muss.  "Wir  Averden  daher  erwarten,  dass  das 
hellenistische  Rankenornament  der  plastisch-perspektivischen  Palmette, 
d.i.  dem  Akanthus,  breiten  Eingang  gewährt  hat.  Und  zwar  handelt 
es  sich  hiebei  nicht  s(j  sehr  um  das  Akanthusvollblatt,  wie  es  um  den 
Calathus  des  korinthischen  Kapitals  herum  gereiht  erscheint,  sundern 
um  das  mit  der  foi'tlaufenden  Kankenlinie  fest  verwachsene  Akantlius- 
halbblatt  oder  die  sog.  Akanthusranke. 

b.    Die  Ak  a  u  t  h  usi'a  u  ke. 

Nichts  ist  bezt-ichnender  lür  die  An  und  Weise  w'w  man,  l>eein- 
Husst  dm'ch  Vitruvs  Erzählung  jede  bessere  Einsicht  in  das  walii-e  AVesen 
des  Akanthusoriuimcnts  gcAvaltsam  in  sich  nicderg<'Uänii>ft  hat,  als  der 
Umstand,  dass  Juan  längst  ganz  klar  erkannt  hat,  dass  die  Akanthusranke 
in   AVirkliehkeit   nicht    exisliiM     und   eine   lihisse    ilrlinduiii;'  (h's  oi-nainen- 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Pflanzenrankenornanicnt. 


249 


talen  Schaffensgeistes  der  Griechen  gewesen  ist,  und  dass  man  trotzdem 
an  der  Vorbildlichkeit  der  Akanthusptlanze  keine  Zweifel  hat  auf- 
kommen lassen  wollen. 

Ist  aber  der  Akanthus  gemäss  unseren  Ausführungen  auf  S.  218  ff. 
nichts  anderes  als  die  Palmette  in  plastisch-perspektivischer  Projektion, 
so  werden  wir  ihn  sofort  auch  im  Kankenornament  an  die  Stelle  der  Haeh 
projicirten  Palmette  treten  sehen  müssen.  Vor  Allem  kommt  hier  die 
fortlaufende  Wellenranke  in  Betracht,  deren  Schema  es  ja  schon  mit 
sich  bringt,  dass  von  der  Hatiptranke  fortAvährend  Seitenschösslinge  ab- 
zweigen und  dadurch  spitzwinklige  Zwickel  entstehen,  deren  Ausfüllung 
durch    Halbpalmetten -Fächer    der    griechische    Kunstsinn    gebieterisch 


rig.  120. 

Von  einer  getriebenen  Goldplatte  in  der  Eremitage. 


forderte.     In  zweiter  Linie   werden  wir  das  Auftreten  des  Akanthus  m 
der  intermittirenden  Wellenranke  in  Untersuchung  zu  ziehen  haben. 

Frühzeitig  erfolgte  die  Uebertragung  des  Akanthus  auf  die 
fortlaufende  Wellenranke  auf  plastisch  verzierten  Kunstwerken. 
Fig.  129  giebt  ein  Bordürenfragment  von  einer  in  Gold  getriebenen 
Arbeit  des  4.  Jahrhunderts,  die  Stephani  im  Compte  rendu  1864  Taf.  IV 
publicirt  hat.  Von  den  zwei  Streifen,  in  welche  die  Bordüre  zerfällt, 
interessirt  uns  hier  zunächst  der  obere^^).  Derselbe  enthält  eine  fort- 
laufende Wellenranke,  deren  spiralig  eingerollte  Seitenschösslinge  in 
je  eine  naturalisirende  Blüthe  auslaufen.  Jede  Rankengabelung,  d.  i.  der 
Punkt,  an  welchem  ein  Seitenschössling  abzweigt,  ist  mit  einer  Hülse 


")  Auf    den    unteren  Streifen    werden  Avir  bei    Besprechung-   der  inter- 
mittirenden Akanthusranke  zurückkommen. 


250 


B.    Das  Pflauzenornament  in  der  aTiechischen  Kunst. 


aus  zwei  Akantliuslialljblätteni  ausgestattet.  Gemäss  unseren  Aus- 
führungen auf  S.  Olli  haben  wir  darin  nichts  andei'es  zu  erblicken  als 
Halbpalmetten  in  iilastisch-perspektivischer  Projektion.  Gleichwie  an 
Fig.  125  erscheinen  die  Öclieitelenden  der  Palmetten  verdickt  und  nach 
auswärts  gekrümmt ;  die  Eankenabzweigung,  deren  Zwickel  sie  zu  füllen 
hciben,  läuft  unterhall)  der  gekrümmten  Scheitelspitze  hhiAveg.  Diese 
energische  AusAvärtskrümmung  ist  zugleich  ein  Beweis  dafür,  dass  die 
griechischen  Kunsthandwerker  der  hellenistischen  Zeit  nicht  daran 
dachten,  dem  vegetabilischen  Element  der  Halbpalmette  unnatürlichen 
Zwang  anzuthun,  woraus  wir  avoIü  berechtigt  sind  die  entsprechenden 
Rückschlüsse    auch    auf   die    Hache,     sch('inl)ar    unfreie    Ilall»palniette 


i.is^^La:  i:;j.:.  'i'V'i  '-^^'■'^,lt!^:^.^k^Z..:!^J.:,mBSS[ 


Fig.  130. 
steinerner  Itclict'fries  aus  Pompeji. 


'S.  •244;  zu  ziehen,  an  welcher  wir  di'r  cigi-nthümlichen  Projektion  Ik-iUht 
über  die  eigentlichen  Absichten  des  Vasenmalers  im  Unklaren  geblieben 
Avaren. 

Als  Beispiel  römischer  l'x'liandlnng  der  fortlaufenden  Akantiius- 
ranke  diene  Fig.  1;jO  vom  Isiisiiciligtlnini  zu  l'oni}teji''*^).  Der  nhnische 
Akanthus  ist  zwar  in  dt-i-  Kegel  sciiwcnr  und  üppiger,  und  lässt  nicht 
so  viel  von  den  Kanki-nstengeln  frei.  Aber  das  gegebene  Beispiel  aus 
einer  frühen  Z<'it  der  bezüglichen  Entwicklung  eignet  sich  gerade  seiner 
verhältnissmässig  mageren  Behandlung  halber  l)esser  zu  dem  Zwecke, 
die  Zusammensetzung  der  rümi>chen  Akanthusranke  im  lunzelneii  auf- 
zuzeigen. Die  Ausführung  ist  eine  plastisehe  in  Stein,  wiewohl  zur 
gleichen  Zeit  die  AV.indmalerei  bereits  den  reichlichsten  (Jel)rauch  von 
der  Akantlinsranke  gemacht  liat,  wovon  gleiclifalls  aus  d<'ni  lsi>lieilig- 
Tlinm  geradezu  klassische  Beispiele  vorliegen^''). 

j  Nach  Nicoliiii.  teiupio  d'Isidc  X. 
'■'^)  PubHeirt  bei  Xicolini,  <)\ven  Jones  u.  A. 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Pfl.inzenrankenornament.        251 

Zunächst  einig-e  Worte  über  die  Behandlung  des  Akunthusblattes 
als  solchen.  Diesbezüglich  muss  an  Fig.  130  gegenüber  dem  typischen 
griechischen  Akanthus  vom  Lysikratesdenkmal  (Fig.  111)  die  Aveichere, 
rundlichere  Stilisirung  der  einzelnen  ausspringenden  Zacken  auffallen. 
Auch  hiefür  hat  man  eine  Erklärung  gefunden,  die  an  Einfachheit  nichts 
zu  Avünschen  übrig  Hesse,  wenn  sie  nur  nicht  so  ganz  und  gar  unkünst- 
lerisch wäre.  Man  hat  nämlich  diese  verschiedene  Behandlung  des 
Akanthus  im  Osten  und  im  Westen  —  spitzzackig  in  Athen,  rundzackig 
in  Italien  —  auf  eine  Verschiedenheit  der  natürlichen  Vorbilder  zurück- 
führen wollen,  die  da  und  dort  dem  Künstler  zu  Gebote  standen.  Man 
fand,  dass  von  der  Familie  der  Akanthusptlanzen  in  Griechenland  die 
Species  Acanthus  spinosa,  in  Italien  dagegen  Acantlius  mollis  besonders 
heimisch  wäre.  Was  natürlicher,  als  dass  die  Griechen  ihren  heimischen 
dornigen  Akanthus,  die  Italiener  dagegen  ihren  weichblättrigen  kopirt 
und  auf  die  Denkmäler  gebracht  hätten?  Erschien  es  uns  nun  schon 
höchst  bedenklich  anzunehmen,  dass  die  Athener  den  auf  den  Kirch- 
höfen wuchernden  Akanthus  auf  ihre  Grabstelen  gebracht  haben  sollten, 
so  werden  wir  vollends  den  Kopf  schütteln  müssen  ob  der  Zumuthung, 
dass  die  italischen  Steinmetzen  dem  Beispiele  der  griechischen  folgend 
sich  ihr  heimisches  Akanthus-Unkraut  mit  Lust  und  Sorgfalt  abkonterfeit 
hätten.  Der  weicheren  Bildung  des  Akanthus  in  römischer  Zeit  liegt 
vielmehr  eine  Stilwandlung  zu  Grunde,  die  nicht  bloss  auf  Italien  be- 
schränkt geblieben  ist,  sondern  sich  auch  auf  die  übrigen  kunstschattenden 
Gebiete  des  römischen  Weltreichs  erstreckt  hat,  wie  sich  insbesondere 
an  kleinasiatischen  Denkmälern  monumental  erAveisen  lässt  ^^).  Aehnliche 
Wandlungen  haben  sich,  Avie  wir  noch  sehen  werden,  mit  dem  Akanthus 
am  Ausgange  der  spätantiken  Zeit  vollzogen,  und  gleichermaassen  lässt 
sich  der  Akanthus  der  Hochrenaissance  von  demjenigen  des  Louis  XIV 
und  des  Empire  streng  unterscheiden. 

Unterziehen  wir  nun  an  Fig.  130  die  Wellenranke  selbst  einer  Be- 
trachtung. Wo  Seitenschösslinge  von  der  Ilauptranke  abzAveigen,  ist 
jedesmal  ein  Akanthushalbblatt  angebracht,  und  ZAvar  nur  ein  Blatt, 
nicht  die  Verdoppelung  zu  einem  Kelche  Avie  an  Fig.  129.  Dagegen 
sind  die  Rankenstengel  an  anderen  Stellen  von  mehr  oder  minder 
akanthisirenden  Kelchen  unterbrochen.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist 
aber  der   Umstand,    dass   die  Akanthushalbblätter  sich   auch  an 


*^°)  Z.  B.  in  Sillyon  und  Aspendos,   bei  Lanckoronski,  Städte  in  Pamphy- 
licn  und  Pisidien. 


252  B.    Das  PÜauzenornament  in  der  griechischen  Kunst. 

solchen  Stellen  finden,  wo  keine  Rankengabelnng  statt  hat. 
Dieser  Pnnkt  ist  geradezu  charakteristisch  für  die  römische  Akanthus- 
ranke:  die  Blätter  nehmen  immer  zu  an  Zahl,  die  Stellen  wo  die  Ranken- 
stengel frei  sichtbar  bleiben,  schrumpfen  immer  mehr  zusannnen.  bis 
in  spätrömischer  Zeit  von  ihnen  fast  gar  nichts  mehr  ersichtlich  ist. 
Bis  in  die  späteste  Zeit  ist  aber  regelmässig  das  Spitzende  des  Akan- 
thushalbblattes  in  der  bestimmtesten  Weise  nach  auswärts 
gekrümmt.  Das  Blatt  ist  also  nicht  mit  der  Ranke  verwachsen,  son- 
dern soll  sich  von  der  letzteren  selbständig  plastisch  al)liehen. 

So  viel  von  der  fortlaufenden  Akanthusranke.  Wir  haben  nun- 
mehr zti  untersuchen,  in  welcher  Weise  der  Akanthus  in  das  Schema 
der  intermittirenden  Wellenranke  Eingang  gefunden  hat.  Hier  war 
es  weniger  die  Hall)palniette,  als  die  Palmette,  an  der  sich  die  Um- 
setzung in  den  Akanthus  zu  vollziehen  hatte.  Das  Material,  das  uns  für 
die  Verfolgung  des  bezüglichen  Processes  zm*  Verfügung  steht,  stammt 
fast  ausschliesslich  erst  aus  der  römischen  Kaiserzeit.  Doch  Averden 
Avir  kaum  fehlgehen  wenn  Avir  auf  Grund  der  Beobachtung  pompe- 
janischer  Beispiele  annehmen,  dass  die  Umsetzung  der  Lotusblüthen 
und  Palmetten  mit  ihren  tiachcn  ungegliederten  Fächern  in  akanthi- 
sirende  Blattgebilde  sich  schon  in  hellenistischer  Zeit  angebahnt,  wo 
nicht  vollzogen  haben  muss.  Gleichwohl  scheint  auch  liier  die  Um- 
liildung  znerst  niit  der  Hall)palmctte  oder  dem  Akanthushallihhitt  vor- 
gegangen zu  sein.  Der  Beweis  liegt  vor  am  unteren  Streifen  der  Gold- 
platte Fig.  12'.».  Die  alternirenden  Lotusblüthen  und  Palmetten  sind 
zwar  nicht  nach  entgegengesetzten  Richtungen  gekehrt  Avie  das  Schema 
eigentlich  erfordern  Avürde,  sondern  wie  am  Bogenfries  neben  einander 
gereiht.  Aber  die  Kelche,  aus  dem-n  sich  die  Blüthen  erheben,  sind 
durch  S-förmig  geschAvungene  Rankenlinien  gebildet,  und  dieser  Um- 
stand mag  es  im  vorliegenden  Falle  rechtfertigen,  denselben  mit  (h'r 
intermittirenden  Wellenranke  in  Vcrl)in(lung  zu  bringen. 

Der  Akanthus  tritt  nun  im  unteren  Streifen  A'on  l"'ig.  r.".'  Iiluss 
an  den  Palmetten  auf.  und  zwai-  als  zAvickelfüllendes  Ak.inlliu^luilh- 
blatt  ZAvischen  dem  \'oIutcnkcleli  und  di^m  Fächer.  Es  ist  im  (iriindc 
dieselbe  schüchterne  VerAvendung  des  Ak^inthus,  wie  Avir  sie  am  An- 
fange der  ganzen  EntAvieklung,  am  Erechtheion  (Fig.  IKJ)  angetroflen 
haben. 

Bevor  Avir  uns  zur  Betrachtung  der  ausgebildeten  intermittirenden 
Akanthusranke  der  römischen  Zeit  Avenden,  erscheint  es  ZAveckmiissig 
die   besondere  Bedeutung,   die   wir   diesem  Motiv   für   die  Aveilere  Eni- 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Pfianzenrankenornament.        253 

Wicklung-  der  Kankenoraamentik  beizumessen  hal)en,  mit  einigen  Worten 
in  das  gebührende  Licht  zu  setzen.  Weit  strenger  als  die  fort- 
laufende Wellenranke  hat  die  intermittirende  an  dem  ur- 
sprüngliclien  Grundschema  der  archaischen  Kunst,  und  an 
den  ursprünglichen  flachstilisirten  Blüthentypen  festgehalten. 
Noch  weniger  als  für  die  fortlaufende  ist  nämlich  für  die  intermittirende 
Wellenranke  ein  unmittelbares  Vorbild  in  der  Natur  anzutreffen.  Epluni 
und  Eebe  Hessen  sich  im  Gefolge  der  naturalisirenden  Kunstströmung 
in  das  fortlaufende  Schema  übersetzen,  wie  insbesondere  zahlreiche 
pompejanische  Wanddekorationen  bezeugen  ;  auch  anderes,  Avahrschein- 
lich  von  der  künstlerischen  Phantasie  entAvorfenes,  aber  dem  natürlichen 
Pflanzenhabitus  sehr  nahe  kommendes  Gezweig  findet  sich  wellenranken- 
artig  eingerollt.  Zu  solcher  weitgehender  Annäherung  an  natürliche 
Blumengewinde  war  d;is  intermittirende  Schema,  als  ein  reines  Produkt 
künstlerischer  Phantasie,  von  vornherein  nicht  geeignet.     Nur  figürliche 


Fig.  131. 
Gesimsornaraent  vom  Oktogontempel  zu  .Spalato. 

Motive,  Delphine,  Füllhörner  und  dgl.  fanden  vereinzelt  spielende  Ein- 
streuung in  dieses  Schema ;  was  aber  die  Blüthenmotive  betrifft,  so  haben 
sich  hier  die  alten  stilisirten  Formen,  flacher  und  perspektivischer  Lotus, 
bis  in  die  späteste  Zeit  fast  ausschliesslich  behauptet.  Es  liegt  auf  der 
Hand,  dass  in  der  frühmittelalterlichen  Folgezeit,  da  abermals  eine 
geometrisirende  Tendenz  die  naturalisirende  der  hellenistisch-römischen 
Antike  abgelöst  hatte,  die  intermittirende  Wellenranke  mit  ihrem  stren- 
geren Ductus  und  ihren  verhältnissmässig  konservativ  gebliebenen  jMo- 
tiven  es  sein  wird,  die  besondere  Verwendung  finden  und  dement- 
sprechend unsere  hervorragende  Beachtung  fordern  wird. 

Gerade  an  der  intermittirenden  Wellenranke  haben  sich,  wie  ge- 
sagt, die  uralten  flach  stilisirten  Palmettenmotive  am  längsten  erhalten, 
—  weit  länger  als  an  der  fortlaufenden  Ranke.  In  der  Pegel  ist  es  die 
gesprengte  Palmette,  die  uns  d;i  entgegentritt:  doch  werden  wir  auch 
die  Palmette  mit  dem  urabkömmlichen  radianten  Fächer  noch  an  Werken 
der  Kaiserzeit  (Fig.  135)  antreffen.  Beispiele  für  die  Verwendung  der 
reinen  Ranke  mit  flachen  Palmettcn  bieten:  aus  der  früheren  Kaiserzeit 


254 


B.    Das  Ptlanzenornament  in  der  griechischen  Kunst. 


das   Theater   von  Aspendos,    aus  der  späteren  der  sog.  Jupitertt-nipel 
zu  Spalato  (Fig.  131)  6<). 

Daneben  gab  es  aber  --  wie  sclion  erwähnt,  gewiss  seit  helle- 
nistischer Zeit  —  auch  akantliisirend  gebildete,  d.  h.  plastisch-perspek- 
tivisch stilisirte  Palmetten.  Fig.  132,  gleichfalls  vom  Jupiter-Oktogon  zu 
Spalato  entlehnt'-),  zeigt  flach  stilisirte  gesprengte  Palmetten,  alternirend 
mit  Palmetten  von  dem  Typus  mit  vber/aUenden  Blättern  i'S.  210),  welch 


Vis- 1-^-- 

Gosims(ini:imcnt  vom  Oktogoutumpel  zu  Spalato. 

letztere  aljer  bereits  nit-lit  mehr  Harh  und  geometrisch  wie  an  der  ge- 
sprengten Palmette,  sondern  akanthisirend  gebildet  sind.  Die  verljin- 
denden Rankenlinien  hinwiederum  zeigen  keinerlei  vegetabilische  Zusätze, 
geben  sich  also  noch  als  reine,  so  zu  sagen  geometrisirte  Rankenlinien. 
Einen  recht  entscheidenden  und  folgensclnveren  Schritt  sehen  wir 
vollzogen  in  Fig.  133 '"■3)  vom  sogen.  Aeskulaptempel  zu  Spalato.  Die 
Bltithenmotive  zeigen  den  überfallenden  Typus,  abwechselnd  flach  und 
akanthisirend;    d;igegen    hnt   sieh  :\n  den  Aerl)indend('n  R.inkcnsclnvin- 


i-iü'.  13a. 
(Icsinisoniainent  vom  sogen.  Aesculaptompel  zu  Spalato. 

gungcn  eine  höchst  bemerkenswerthe  Veränderung  vollzogen.  Diese 
Rankenverbindungen  geben  sich  nämlich  nicht  mehr  als  bloss 
geometrisiriMide    Linien,   sondern   als  Ak;i  nthusji.ilbbliitter'^-'). 


'■')  Nacli  Ailaui,  l.'niiis  of  tlic  iialacc  ol'  tlie  eniperor  Dioclctian  at  Sj^alato, 
Taf.  37. 

")  Adaiii  u.  a.  O.  Taf.  30. 

6')  Adam  a.  a.  O.  Taf.  46. 

•"'')  Ein  KIcinasiatischos  ßcis))icl  liierfür  hietot  «las  Nyniplienni  zu  Asiu'ii- 
dos  bei  Lanckoronski,  Städte  Pampliyliens  und  Pisidiens  I.  lÜO. 


10.    Das  hellenistische  und  römische  PHanzenrankenornament.        255 

Und  zwar  vermissen  wir  an  denselben  die  auswärts  gekrümmten  Scliei- 
telenden,  (S.  252),  so  dass  das  Blatt  beiderseits,  nicht  bloss  vom  Ansatz 
sondern  auch  von  dem  spitzen  Ende  weg-  rankenmässig  weiter  zu  laufen 
scheint,  um  schliesslich  umzubiegen  und  den  Kelch  für  die  benachbarte 
Palmette  zu  bilden.  Wir  sehen  hier  somit  vollzogen,  was  uns  schon 
am  flachen  Halbpalmetten-Ornament  der  hellenistischen  Zeit  (Fig.  li."). 
127)  entgegen  zu  treten  schien,  aber  in  der  plastisch-perspektivischen 
Eankenomamentik  durch  Umstülpen  der  Halbl)latt-Enden  bisher  stets 
wieder  verneint  und  beseitigt  wurde:  das  Akanthushalbblatt  wird 
unfrei,  es  verwächst  mit  der  Ranke,  wird  selbst  zur  Kanke 
indem  es  deren  verbindende  Funktion  erfüllt.  Da  letztere 
Funktion  in  der  Natur  nicht  den  Blättern,  sondern  den  Stielen  zukommt, 
erscheint  hiedurch  ein  antinaturalistischer  Zug  in  der  Ornamentik  zum 
unzweideutigen  Ausdruck  gebracht.  Was  in  der  geometrisirenden  flachen 


Fig.  134. 
Gesimsornament  vom  Oktogonteiupel  zu  Spatato. 

Palmetten-Eankenornamentik  der  hellenistischen  Zeit  schon  angebahnt 
und  wenigstens  schematisch  begründet  worden  ist,  das  sehen  wir  nun 
in  spätrömischer  Zeit,  unter  dem  befruchtenden  Einflüsse  einer  allmälig 
zur  Geltung  gelangten  Reaction  nach  der  geometrischen  Seite  hin 
greifbar  plastische  Formen  annehmen. 

Betrachten  wir  noch  Fig.  134,  abermals  vom  Jupitertempel  zu 
Spalato^^).  Es  ist  dies  im  Wesentlichen  eine  Wiederholung  von 
Fig.  133:  die  gleichen  Motive  *^'^),  und  die  verbindenden  Ranken  zu 
Akanthushalbblättern  umgestaltet.  Diese  verbindenden  Halbl)lätter 
schwingen  sich  nicht  in  gleichmässiger  Fiederung  von  einer  Palniette 
zur  anderen,   sondern  sie  gabeln  sich  in  der  Mitte.     BemerkensAverth 


^^)  Adam  a.  a.  0.  36. 

^^)  Der  Zug-  in's  Schnörkelhafte,  der  hier  den  Kelchblättern  der  gespreng- 
ten Palmetten  gegeben  erscheint,  kehrt  am  Akanthusornament  der  Diocletia- 
nischen  Bauten  (z.  B.  an  der  Thür  des  Jupitertempels)  öfter  wieder.  Es  ist 
wohl  der  gleiche  Zug,  der  z.  B.  an  einer  Gruppe  von  Goldschmiedesachen 
aus  dem  Fund  von  Nagw  St.  Miklos  so  charakteristisch  entg-egentritt. 


256  B-    Das  Pflauzenornament  in  der  griechischen  Kunst. 

ist  ferner  die  in  der  g'eringen  Gliedernnü'  dieser  geg-abelten  Akantlins- 
halbblätter  sich  verrathende  Neigung-  zur  Stilisirnng  in's  Flache,  Geo- 
nietrisch-Schematische. 

Die  gegebenen  Beispiele  stammen  sänmitlieh  von  Bauten  der  s]);!- 
teren  römischen  Kaiserzeit.  Die  vollständige  Akanthisirung  der  inter- 
mittirenden  TVellenranke  in  ^Motiven  und  Verbindtmgslinien  lässt  sich 
aber  schon  Aveit  früher  nachAveisen.  Icli  gebe  zwei  Beispiele  vom 
Forum  des  Xerva.  Fig.  135^")  zeigt  von  Motiven  die  alten  Lotus- 
blüthen  und  die  Palmetten  mit  seitlich  überfallenden  Blättern,  diese 
letzteren  in  rhythmischer  AbAvechslung  entweder  flach  oder  akanthisirt, 
wobei  allerdings  selbst  die  flach  stilisirten  Blätter  durch  das  lebendige 
Umstülpen  ihrer  keulonartigen  Enden  eine  unverkennbare  Neigung 
zur  naturalistischen  Bildung  verratlien.  Die  Verbindung  ist  durchAveg 
durch  Akanthushalbblätter  hergestellt,    zwischen   denen  Rankenstengel 


rig.  135. 
Fries  vom  Xerva-Foruin. 

gar  nicht  sichtbar  werden.  Das  llatiptlilati  zwar  hat  die  für  das 
römische  AkanthushalMilati  tyiäsche  Krümmung  des  Si)itzendes  nach 
Aussen  aufzuAveisen ,  aber  darunter  läuft  kein  Stengel,  sondern  aber- 
mals ein  Akanthushall)l)latt  hinweg,  das  im  Ueberfallcn  mit  einem 
zweiten  seinesgleichen  doi  Kelch  für  das  nächste  r)lüth('inni>tiv  bildet. 
Sowohl  aus  dem  Kelch  Avie  aus  den  Verbindungskurven  sind  die 
linearen  oder  bandartigen  Kankenstengel  versclnvunden,  und  an  ihre 
Stelle  die  zu  solcher  Funktion  von  Natur  aus  ungeeigneten  Akanthus- 
]iall)blätter  getreten. 

Den  Schlusspunkt  der  ganzen  EntAAMcklung  bietet  Fig.  IHd''^).  Von 
l>liitlien  Aviederliolt  sich  anscheinend  bloss  ein  ^MotiA^  eine  Lotus- 
bhitlic  —  mit  altci'nircnden  geringen  Varianten.  Die  K'ichlung  ist  eine 
einseitige,  so  dass  es  fast  den  Anschein  iiat,  als  ob  uns  hier  nni'  ein 
Bogenfries    A'orläge.      l'nd    ddcli    luviucht    man     nur    (b'U    N'crlaiif   der 


^^)  Morcau,  Fragments  (l'arcliitccturc  'I"al'.  11,  No.  3. 
***)  Moreau,  ebenda,  No. ;'). 


10.    Das  hellenistische  und  römische  Ptlanzcnrankenornament. 


257 


schweren  buschigen  Akanthusranke   zu  verfolgen,    um   das   zu  Grunde 
liegende  intermittirende  Schema  zu  erkennen. 

An  Fig.  136  sind  nun  folgende  zwei  Punkte  von  einer  für  die 
Folgezeit  geradezu  fundamentalen  Bedeutung:  1.  Die  obersten  Kelch- 
blätter fin  Form  von  Akanthushalbblätternj  jeder  zweiten  Lotusl)lüthe 
schlagen  oben  um  und  laufen  in  undulirendem  Schwünge,  als  Wellen- 
ranke, abwärts,  um  unten  wieder  nach  aufwärts  zu  streben  und  im 
Ueberfallen  den  Kelch  für  die  nächst  benachbarte  Lotusblüthe  zu  bilden. 
Es  ist  zwar  nicht  bloss  ein  einziges  Akanthushalbblatt,  das  jede  dieser 
Verbindungen  herstellt,  sondern  eine  Anzahl  gleichsam  ineinanderge- 
schachtelter Blätter,  deren  Spitzen  jeweilig  sorgfältig  nach  Aussen  ge- 
krümmt sind,  wie  um  damit  laut  darzuthun,  dass  sie  nicht  unfrei  sind, 
sondern  eine  selbständige  Existenz  für  sich  beanspruchen.  Aber  das 
letzte  Blatt  bildet  ganz  unzweideutig  den  Kelch  für  die  nächste  Lotus- 


Fig.  136. 
Fries  vom  Xerva-Forum. 


blüthe  und  damit  erscheint  das  ganze  Motiv  —  trotz  des  bemerk- 
baren Sträubens  gegen  dieses  Endresultat  —  in  ein  in  der  Natur  nicht 
begründetes  und  derselben  zuwiderlaufendes  Schema  gebracht.  — 
2.  Jede  der  eben  erwähnten  Verbindungen  gabelt  sich  in  der  Mitte, 
indem  sie  einen  Blattschössling  nach  rückwärts  aussendet;  dieser 
Schössling  läuft  aber  nicht  frei  aus  Avie  an  Fig.  134,  sondern  senkt  sich 
nach  rückwärts  Ins  zum  unteren  Ansätze  der  Lotusblüthe,  von  deren 
Scheitel  die  Verbindung  ausgegangen  ist  und  bildet  daselbst  mit 
dem  von  der  entgegengesetzten  Seite  herankommenden  Schössling  im 
Ueberfallen  einen  Kelch.  Auch  in  dieser  Funktion  erscheint  das  Akan- 
thushalbblatt an  Stelle  eines  Rankenstengels  getreten,  so  dass  wir  in 
solchem  Falle  bereits  mit  allem  Rechte  von  einer  Gabelranke  sprechen 
könnten.    Dieselbe  umschliesst,  umschreibt*^'-')  das  eine  Blüthenmotiv  und 


fi')  Das  seit  archaischer  Zeit  bekannte  Motiv  der  umschriebenen  Pahnette 
(S.  170)  könnte  thatsächlich  von  Einfluss  gewesen   sein  auf  das  Aufkommen 


Riegl ,  Stilfragen. 


17 


258  B-    Das  Pflanzeuornament  in  der  gTiechischen  Kunst. 

dient  gleichzeitig    mit  ilirem  zweiten  Arme   znr  gefälligen  Verlnndung 
mit  den  benachbarten  Bliithen. 

Den  Zeiti>unkt,  Avann  sich  die  1)ezüglielien  znivunfisreiehen  Ver- 
äuderimgen  zuerst  vollzogen  haben,  genau  zu  tixiren,  kann  hier  nicht 
unsere  Absicht  sein.  Erstlich  mangelt  es  hiefür  völlig  an  Vorarbeiten, 
da  die  klassische  Archäologie  es  bisher  nahezu  unter  ihrer  Würde  be- 
funden hat,  sich  mit  der  römischen  Spätzeit  zu  befassen,  und  die  For- 
scher der  altchristlichen  und  byzantinischen  Kunstgeschichte  einer  ge- 
naueren Bekanntschaft  mit  der  Antike,  zumal  mit  deren  späteren 
Phasen,  zimieist  cntrathen  zu  können  glaubten.  Es  dürfte  aber  über- 
haupt schon  schwer  sein,  sicli  über  den  sachlichen  Punkt  zu  t-inigen. 
wo  das  Neue  l)egonnen  hat,  im  Kunstwollen  der  spätantiken  Zeit  be- 
wusste  Beachtung  und  Anwendung  zu  finden.  Die  Ansätze  liiefür 
waren.  Avie  Avir  gesehen  haben,  mindestens  seit  dem  4.  Jahrh.  v.  Chr.  ge- 


Vig.  137. 
Waüdborilo  a>is  bcmaltoni  Stuck.     Aus  l'oinpeji. 

geben.  Xamentlieh  die  leichte  und  flüssige  dekorative  Wandmalerei 
mag  bereits  Freiheiten  in  der  angedetiteten  Richtung  sich  erlaubt 
haben,  zu  einer  Zeit,  da  in  der  architektonischen  Dekoration  noch  kein 
Raum  war  für  eine  Verwendung  des  Pflanzenornaments  nach  einem 
widernatürlichen  Schema.  A'or  Allem  Avären  daraufliin  die  }>om]ie.iaui- 
schen  Dekorationen  systematisch  und  an  der  Hand  der  Originaldenk- 
raäler  selbst  durchzugehen.  Soviel  hat  aber  die  vollzogenem  l^ebersieht 
ül)er  die  Entwicklung  der  Wellenranken -Friese  in  (U'r  römischi'ii 
Kaiserzeit  Avohl  zur  Gewissheit  dargethan.  dass  die  l']ntn,itnralisirung 
dieses  gemeingebräuchlichsten  Friesschemas  etwa  um  loo  n.  <  h.  so  weit 
vorgeschritten  war,  dass  dieselbe  zum  Atisgangspuid-;te  einer  selbstän- 
digen Entwicklung  werden  konnte,  s(il)ald  einmal  dureh  eine  erfulgle 
politische  Zerreissung  des  Ilniversalreichs  ;mcli  in  ilie  l'.inheii  dei-  rr)nii- 
selicn  T'iiiversalkunst  Bresche  gelegt  Avar. 

Kankcii  wcitcrlauten  y.n  lassen.  Als  Zwisclion^-liecl  gehe  ich  oVxmi  (Fig.  K57)  eine 
Stuckbordüre  aus  Pompeji,  nach  Nicolini  Dcscriz,  geucr.  4"). 


IV. 

Die  Arabeske. 


Die  Arabeske  ist  das  Pt'Ianzenraiikenornament  der  sara- 
ceni seilen  Kunst,  d.  i.  der  Kunst  des  Orients  im  Mittelalter  und  in  der 
neueren  Zeit.  Der  Gegenstand,  den  wir  in  diesem  Schlusskapitel  zu 
behandeln  gedenken,  schliesst  sich  somit  chronologisch  wie  entwick- 
lungsgeschichtlich  unmittelbar  an  denjenigen,  der  im  vorhergehenden 
Kapitel  seine  Erörterung  gefunden  hat.  Ist  nämlich  unsere  eingangs 
gegebene  Definition  richtig,  so  drängt  sich  schon  mit  Eücksicht  auf 
das  all  waltende  Cansalitätsgesetz  die  Vermuthuiig  auf,  es  müsse 
zwischen  der  saracenischen  und  der  ihr  zeitlich  unmittelbar  voraus- 
gehenden antiken  Ornamentranke  ein  genetische)'  Zusammenhang  ex- 
istiren,  Avelchen  im  Einzelnen  genau  und  schrittweise  nachzuweisen,  im 
Folgenden  unsere  Aufgabe  Aväre.  Es  darf  aber  nicht  verschwiegen 
werden,  dass  die  bezügliche  Definition  heutzutage  noch  keineswegs  ein 
ausgemachtes  Gemeingut  der  kunstforschenden  Kreise  bildet.  Dieser 
Umstand  lässt  es  empfehlenswerth  erscheinen,  vorerst  einmal  ein  fer- 
tiges, völlig  ausgebildetes  Beispiel  einer  Arabeske  in  Betrachtung  zu 
ziehen,  und  an  der  Hand  desselben  jene  bestimmten  Eigenthümlieh- 
keiten  zu  enU'tern,  welche  den  Pflanzenranken-Charakter  daran  trüben 
und  unterdrücken.  Damit  wird  uns  zugleich  auch  erwünselite  Gelegen- 
heit geboten  sein,  die  wesentlichsten  Einzelmotive  des  Arabeskenorna- 
ments kennen  zu  lernen,  und  somit  den  Grandcharakter  dieser  be- 
deutsamen Ornamentgattung  scharf  zu  erfassen.  l)evor  wir  an  die 
eigentliche  Untersuchung  der  Frage  nach  ihrer  historischen  Abkunft 
schreiten. 

Da  es  also  nun  einmal  durch  die  Umstände  geboten  erscheint,   an 
den    Anfang    das    Ende    zu    stellen,    so    wählen    wir    gleich    ein    aller- 
spätestes,    halbmodernes    Beispiel    (Fig.  lo8),    eine    dekorative    "Wand- 
IT* 


260 


Die  Arabeske 


Fig.  138. 
.\rabeskc  von  ciuei-  modernen  Wandni.alerei,  aus  St.imbul. 

maierei')  aus  des  Sultans  Alulul  X/Xv.  l'alaste  von  'rsrlirr.i^Mn.  Wir 
},'ewalircn  da  «-in  S|iic|  v(^ii  tv-iiim,  s|iir;ili^-  finj^-crollten  oder  doch  l)og'en- 
förmij^  verlaufenden   Linien,    an  denen  j^n-wisse   Itrcitere  Mnti\c  li.ii'ten. 


')  Larchitccture  ottomaiie.  ix'intine.s  innialc^  III. 


Die  Arabeske.  261 

Die  Kouturen  dieser  ^lotive  bewegen  sich  gleichfalls  in  Kurven.  Wir 
unterscheiden  darunter  einige  wenige  Haupttypen,  die  in  mehrfachen 
Varianten-)  immer  wiederkehren: 

a,  b,  ein  zweispaltiges  Motiv; 

c,  d,  ein  in  seiner  einfachsten  Form  fast  tropfenähnliches,  öfter 
aber  mit  einem  oder  selbst  mehreren  Ansätzen  versehenes  Motiv,  in 
welch  letztem  Falle  es  sich  in  der  Grundform  dem  Motiv  a  nähert: 

e,  f,  g,  reicher  gegliederte  Gebilde,  zum  Theil  (f,  g)  streng  sym- 
metrisch. Das  Motiv  g  erscheint  im  Allgemeinen  als  Verdoppelung 
von  d-^). 

Welche  Grundbedeutung  haben  wir  den  Motiven  a-g  beizumessen  V 
Naturalistische  Nachbildungen  realer  Wesen  oder  Dinge  sind  es  gcAviss 
nicht:  die  Stüisirung  giebt  sich  vielmehr  als  eine  ausgesprochen  und  be- 
wusst  abstrakte.  Dies  geht  aber  doch  wieder  nicht  so  weit,  dass  wir 
die  Motive  dem  Bereiche  des  geometrischen  Stils  zuzählen  dürften. 
In  solchem  Falle  wäre  streng  symmetrische  Bildung  oberstes  Gesetz, 
das  wir  aber  bloss  an  f  und  g  befolgt  sehen.  Der  Schluss  ist  somit 
unabweisbar,  dass  ein  Bezug  zu  gewissen  realen  Dingen  als  Vorlnldern 
dennoch  obwalten  muss. 

Vergleichen  Avir  mit  dem  gegebenen  Beispiel  aus  dem  11».  Jahrb. 
ein  solches  etAva  aus  der  Mitte  der  Entwicklung.  Fig.  139  giebt  die 
Randleiste  eiaer  Miniaturhandschrift^;  wieder,  die  laut  inschriftlicher 
Datiiting  im  Jahre  1411  am  Hofe  eines  der  egyptischen  ]\[ameluken- 
Sultane  vollendet  Avorden  ist.  Die  gescliAvungenen  Linien,  die  hier 
ebenso  Avie  in  Fig.  lo8  das  Gerippe  des  Gesammtornaments  bilden,  sind 
in    diesem   Falle    etAA-as    stärker    gezeichnet.      Die    kreisföraiigen   Ein- 

-)  Nur  die  Avichtigsten  und  am  meisten  charakteristischen  unter  diesen 
Varianten  finden  sich  oben  in  Zeichnung-  reproditcirt.  Die  übrigen  lassen  sich 
hiernach  leicht  feststellen. 

•^)  Die  Kugeln,  in  welche  die  meisten  Enden  auslaufen,  sind  als  solche 
nur  für  das  A^orliegende  Beispiel  charakteristisch.  Sie  sind  entAveder  als  kleine 
Spiralschösslinge    oder  als    schematische  Umschreibungen  A'on   kleinen  Blatt- 


fe     ^ 


tig'uren  in  Vollansicht  (auf  das  Dreiblatt  reducirte  Palmetten)  oder  in  Profil 
(Halbpalmetten)  aufzufassen,  Avie  nebenstehende  Beispiele  aus  einem  kairenischen 
Mamiskript  A'om  J.  1411  beweisen,  AA'oraus  auch  unsere  Fig.  139  mit  den  gleichen 
kugeligen  Rankenenden  genommen  ist. 

^)  Bourgoin,  Precis  de  Tart  arabe  IV,  27. 


'2ß2 


Die  Arabeske. 


rolluug-eii  treten  zurüek  und  werden  kaum  bis  zur  Si virale  gesteigert. 
Die  Bogeuform  ist  aber  aueli  hier  in  der  Linien füln-un-:'  durehau.-  In-i- 
behalten :  dabei  tritt  eine  Eigentliümlichkeit  klar  und  deutlich  /u  Ta^-e. 
die  in  Fig.  138  der  sehwachen  Zeichnung  der  Linien  halber  nur  dem 
mit  dem  Wesen  dieser  Ornamentik  Vertrauten  erkennbar  ist.  Wir  >ehen 
nämlich  in  Fig.  130  die  Linien  stellenweise  zu  anscheinend  selbständigen 
Konfigurationen    zusammentreten,    von    denen    die    durch    eine    eigene 


Fig.  13!'. 
Arabeske  in  Miniaturmalerei,  aus  einer  Uandsclirilt  vnm  .Jahre  1411.  in   Kairn 


schwarze  (ii-uiuliruiig  ausgezeichnete  besonders  in  die  Augen  tiilli.  I  )a 
aber  die  Lini»-nfuhrung  durcliAveg  aus  dem  Hitgen  heraus  zu  gex'heln'U 
hat,  so  verlauten  die  Konturen  dieser  Konliguratioueu  notliwemliger- 
weise  fortwährend  nur  in  convexen  und  eoncaven  Au>bueh- 
tungeii'i,  und  wo  zwei  solche  karniest'örmig  gesehwuugeue  Linien 
unter    einem    .spitzen    \Vinkel    zusamnn'nireten ,    dort  entsteht    el.enr.dls 


*)  Die  li('rzt"iniii;;'('n  \'erscliliii;4'ung'en  der  Konturen  tr;ii;-en  im  vcirlie;;'('n- 
dcn  Falle  allerdings  dazu  hei,  das  ( Irundschenia  in  seiner  eintaelisten  IVinii 
/,n  verdunkeln 


Die  Arabeske.  26o 

folgericlitig-ermaassen  eine  kielbog'enartig  ausg'eseli weifte  s[)itze 
Ausladung'. 

Fassen  wir  nun  die  Einzelniotive  in"s  Auge,  die  sieli  an  die  das 
Gerippe  bildenden  Linien  ansetzen.  Auch  von  diesen  geben  wir  neben- 
stehend die  wichtigsten  in  besonderer  Reproduktion,  und  versehen  sie 
mit  den  Xummern,  Avelche  wir  den  parallelen  Motiven  von  Fig.  138 
gegeben  haben'''). 

"Worüber  uns  die  in  blossen  Umrissen  gezeichneten  Motive  in 
Fig.  138  im  Zweifei  gelassen  haben ,  dafür  bieten  uns  diejenigen  von 
Fig.  139  infolge  der  ihnen  verliehenen  Modellirung  willkommenen  Auf- 
schluss.  Die  blatt artig  ausgezackten  Linien,  durch  welche  diese 
Modellirung  bewerkstelligt  erscheint,  stellen  in  zweifelloser  Weise 
die  Verl)indung  mit  dem  Pflanzenhabitus  her.  Stilisirte  Blatt- 
oder Blüthenformen  sind  es,  die  uns  in  Fig.  139  a-d  entgegentreten; 
daraus  ergiebt  sich  aber  zugleich  mit  Nothwendigkeit,  dass  wir  berechtigt 
sind  die  Linien,  an  welchen  die  bezüglichen  Motive  haften,  schlankweg 
als  Eanken  zu  bezeichnen. 

Die  Motive  a-d  sind  augenscheinlich  sammtlich  in  Seitenansicht 
gehalten.  Bemerkenswert]!  an  und  für  sich  und  auch  für  die  Profil- 
richtung ist  die  volutenfr»rmig  gekrümmte  Linie,  der  IJalhkelch,  der  sich 
an  jedem  einzelnen  der  Motive  a-d  unten  am  Ansätze  eingezeichnet 
findet.  Innerhalb  dieser  Gemeinsamkeit  lässt  sich  aber  eine  Zweithei- 
lung vornehmen.  Die  Motive  a  und  b  stellen  sich  dar  als  Ga1)elungen 
eines  Motives  in  der  Seitenansicht:  wir  wollen  demgemäss  hiefür  die 
Bezeichnung  Gabelranke'')  Avählen. 

Die  Motive  c  und  d  hingegen  sind  Einzelmotive;  d  nähert  sich 
seiner  Gliederung  halber  dem  Typus  b.  Da  d  augenscheinlich  die 
Hälfte  von  g  darstellt,  wollen  wir  vor  der  Fixirung  einer  Bezeichnung 
für  die  Motive  c,  d,  die  übrigen  drei  in  Betracht  ziehen. 

Die  Motive  e,  f,  g,  bezeichnen  pflanzliche  Blüthenmotive  in  Voll- 
ansicht.    Als  absolut  war  dieselbe  allerdings  schwerlich   gemeint:  dass 

^)  Nur  hinsichtlich  der  Fig-.  f  obwaltet  beiderseits  keine  unmittelbare 
Analogie.  —  Die  Ausläufer  der  Eanken  sind  zum  Theil  kugelförmig  wie  an 
Fig.  138,  (vgl.  Amn.  3),  zum  Theil  als  spiralige  Einrollungen  deutUch 
charakterisirt. 

'')  Früher  (im  Jahrbuch  der  kunsthistor.  Samml.  des  österr.  Kaiserhauses 
Xin.  267  ff.)  habe  ich  das  Motiv  als  zn-iespältige  Rankentheilung  bezeichnet; 
im  Text  zu  der  vom  k.  k.  österr.  Handelsmuseum  herausgegebenen  Publikation 
über  „Orientalische  Teppiche"  erscheint  bereits  die  obige  kürzere  Bezeichnung 
gebraucht. 


264  ^^^  Arabeske. 

ciber  eiu  puizes  Blütlieniiiutiv  vi'iiiri;t,  beweisen  sclioii  allein  die  zwei 
seitlichen  volutenartig-  gekrümmten  Ausladung-en ,  worin  wir  wohl  den 
Volutenkelch  zu  erkennen  haben.  Dieses  Element,  dessen  Wichtig- 
keit und  Bedeutsamkeit  für  die  gesammte  Geschichte  der  Ornamentik 
bereits  bei  der  Erwähnung  seines  ersten  Auftretens  in  der  egyptischen 
Kunst  (S.  HO)  gebührend  hervorgeholien  wurde,  begegnet  uns  an  Fig.  e-g 
nicht  bloss  wie  an  a-d  als  Ilalbkeleh  eingezeichnet,  sondern  auch  in 
der  Silhouette  ausladend.  Da  der  Volurenkelch  in  der  antiken  Plianzen- 
ornamentik  einen  wesentlichen  und  charakteristischen  Theil  der  Blume 
in  halber  Vollansicht,  der  von  uns  sogen.  Palmette  ausgemacht  hat,  so 
wollen  wir  das  analoge  Motiv  in  der  Aralieskenornamentik  —  unljc- 
."^chadet  der  vorzubdialtenden  Frage  nach  einer  etwaigen  gegenständ- 
lichen Bedeutung  dieser  Motive  bei  den  saracenischen  Kunstvölkern  — 
als  .^(n-acenisc/ie  Pahnette  bezeichnen.  Innerhalb  des  Grundschemas  sind 
je  nach  dem  Eeichtluini  der  Gliederung  zaldreiche  A'arianten  inOglirh: 
die  einfachste  Form  ist  durch  g  repräsentirt,  wofür  Avir  ihres  ül)eraus 
häutigen  Wiederkehrens  halber  eine  besondere  Bezeichnung,  als  sara- 
cenisches  Dreiblatt  festsetzen  wollen. 

Hieraus  ergiebt  sich  unmittelbar  aucli  die  Bezeichnung,  die  wir 
für  die  Motive  c,  d  zu  wählen  haben.  Erscheint  d  als  die  Hälfte  der 
Palmette  g,  so  werden  wir  das  erstere  als  saracenische  Nalbpalmctte  be- 
zeichnen ditrfen,  umsomehr  als  auch  für  dieses  Motiv  ein  entsprechend 
Ijezeichnetes  Analogon  aus  der  Geschichte  der  antiken  l'Hanzenorna- 
mentik  vorliegt. 

Die  gegebenen  Bezeichnungen  haben  wir  a  orerst  bloss  festgesetzt, 
um  für  Jedes  der  Einzelmotive,  mit  deren  Geschichte  Avir  uns  im  Fol- 
genden zu  befassen  haben,  ein  Verständigungsmittel  zu  scharten.  Es 
ist  aber  unausweichlich,  dass  dadurch  schon  von  vornherein  die  Kieh- 
lung  gewiesen,  die  Neigung  <'rweekt  wird,  die  vorläufig  bloss  ntmii- 
nellen  Beziehungen  zwischen  der  antiken  und  der  saraceniselieii  Tal- 
metten- Ornamentik  in  sachlichem  Sinne  zu  nelnnen.  wozu  \\\v  die 
Berechtigung  erst  werden  erweisen  müssen.  Em  nun  die  Betrachtung 
der  V>eiderseitigen  Motive  von  rntwicklungsgescliieliilielieui  (iesidUs- 
punkte  zu  erleichtern  und  mögliche  Missverständnisse  zu  vermeiden, 
soll  gleich  hier  Eingangs  vorausgeschickt  Averden,  dass  es  nicht  so 
sehr  die  strenge  griechisclie  Palmette  ist,  deren  nnniiiirlh.ncu  .\1>- 
kr.nnnlingen  wir  in  <b'r  Arabesken-Ornamentik  Ix'gegnen  \\ti<i(ii.  son- 
d<-ni  deren  naturalisii'te  Fortbildungen  aus  der  hcllenistisclMii  und  der 
römischen  Kunst.     Der  Akanthus    ist    es,    der    uns  /..  B.  in    der  ]\Io<lel- 


Die  Arabeske.  265 

lirung-  von  c,  d  entgegentritt,  und  nicht  der  starre  Fächer  der  strengen 
griechischen  Halbpalmette.  Es  braucht  hiefür  bloss  an  das  Ergebniss 
unserer  früheren  Untersuchungen  über  den  Akanthus  (S.  218  ft')  erinnert 
zu  werden:  das  Akanthusblatt  in  Yollansicht  ist  ja  selbst  nichts  an- 
deres als  die  naturalisirte  Palmette,  das  Akanthusblatt  in  der  Profil- 
ansicht (etwa  in  der  Akanthusranke)  nichts  als  die  naturalisirte  Halb- 
palmette. 

Damit  soll  aber  nicht  gesagt  sein,  dass  das  strenger  stilisirte 
griechische  Kankenornament  von  der  saracenischen  Arabesken -Orna- 
mentik grundsätzlich  ausgeschlossen  gewesen  ist.  So  wie  in  der  ganzen 
römischen  Kaiserzeit  die  griechischen  Palmettenranken  neben  der 
Akanthusranke  in  VerAvendung  gestanden  sind,  liefen  auch  in  der 
saracenischen  Kunst  allezeit  strenger  stilisirte  Rankenbildungen  und 
Blüthenmotive  neben  solchen  eines  mehr  naturalisirenden  Charakters 
einher.  Den  Nachweis  hiefür  Averden  wir  späterhin  an  der  Hand  von 
Denkmälern  zu  führen  in  der  Lage  sein;  hier  sei  nur  zur  vorläufigen 
Probe  auf  den  augenfälligen  Unterschied  verwiesen,  der  in  Fig.  130 
zwischen  d  und  g  zu  beobachten  ist.  Die  Halbpalmette  d  ist  akanthi- 
sirend  gebildet,  gleichsam  perspektivisch  projicirt:  die  Vollpalmette  g 
dagegen  ist  reines  „Flachornament",  an  welchem  ein  Bestreben,  der 
natürlichen  ^Erscheinung  in  der  zeichnerischen  Wiedergabe  greifbar 
näher  zu  kommen,  nicht  ersichtlich  ist. 

Doch  dei-  genetische  Zusammenhang  der  Arabeske  mit  der  klas- 
sisch-antiken Ranke  ist  ja  dasjenige,  was  Avir  erst  bcAveisen  wollen. 
Als  ausgemachte  Voraussetzung  dürfen  Avir  auf  Grund  unserer  Erörte- 
rung der  Einzelmotive  von  Fig.  lo9  bloss  den  Umstand  ansehen,  dass 
die  Arabeske  als  Pflanzenrankenornament  aufzufassen  ist.  Versuchen 
AAir  es  zuerst  dasjenige  festzustellen,  Avas  die  saracenische  Ranke  von 
der  klassisch-antiken  unterscheidet;  auf  diesem  Wege  AA'erden  Avir  am 
raschesten  dazu  gelangen,  ein  genaues  Bild  von  den  Sondereigenthüm- 
lichkeiten  der  Arabeske  zu  gcAvinnen.  Diese  Unterschiede  betreffen 
theils  die  das  Gerippe  bildenden  Rankenlinien,  theils  die  Behandlung 
der  BlüthenmotiA^e. 

In  der  Führung  der  Ranke nlinien  herrscht  zAvischen  dem 
klaj^sisclien  Rankenornament  und  der  Arabeske  der  grundsätzliche 
Unterschied,  dass  bei  dem  ersteren  die  einzelnen  Ranken  klar  und 
selbständig  neben  einander  über  den  Grund  hinAveggelegt  erscheinen, 
AA'ährend  sie  sich  bei  der  Arabeske  A'ielfach  durchschneiden  und 
durchkreuzen.     ZAvar    verhält    es    sich    aucli    mit  dieser  Definition  Avie 


26(3  Die  Arabeske. 

mit  fast  allen  anderen,  die  die  obersten  Trineiiiien  einer  jeweiligen 
Ornamentik  betreffen:  absolute  Geltung"  schlechtweg-  darf  man  ihr  nii-ht 
beimessen.  Auch  das  antike  Rankenornament  kennt  gcAvisse  Dureh- 
schneidungeu:  7Atm  Beweise  dessen  braucht  bloss  auf  das  Ranken- 
g'eschlinge  i  Fig.  83)  rückverwiesen  zu  wei-den,  von  den  natnralisirenden 
Blumenranken  der  aitg'usteisehen  Zeit  g-anz  zu  gesehweigen^i.  Ander- 
seits werden  wir  Beispiele  von  Arabesken-Füllungen  kennen  lernen 
(Fig.  11*7),  an  denen  die  Rankenlinien  nicht  minder  Avie  in  der  sti-engen 
hellenischen  Ornamentik  klar  und  selbständig,  ohne  alle  Dun-lischnei- 
dungen,  nebeneinander  gelegt  erseheinen.  Aber  in  allen  diesen  Füllen 
handelt  es  sich  um  Ausnahmen,  denen  gegenüber  die  weitaus  ülier- 
wiegende  ^lehrzahl  der  Denkmäler  unsere  oben  gegehene  Deiinition 
rechtfertigt. 

;Mit  der  wechselseitigen  Durchkreuzung  der  Ranki'ulinien  hängt 
die  bereits  vordem  (S.  262)  bei  Besprechung  von  Fig.  1.'!'.'  betonte  Eigeu- 
thümlichkeit  der  Arabeskenranken  zusammen,  innerlialb  des  Gesammt- 
musters  in  regelmässiger  Folge  bestimmte  a b g  e  s  c  h  1  o  s  s  e  n  e  K  o  m  - 
partimente  in  Form  von  sphärischen  Polygonen  zu  bilden,  die  t'ür 
den  darin  betindlichen  Inhalt  (natürlich  ebenfalls  Blumenranken) 
gleichsam  den  Rahmen  bilden.  Eine  solche  Verwendung  der  Ranken- 
linien hat  zur  Voraussetzung,  dass  denselben  eine  selbständige  und 
bedeutsame  Stellung  gegenüber  den  Blüthenmotiven  eingeräumt  Avurde. 
Soll  die  Ranke  vollständige  KompartiuKnite  bilden,  so  muss  ihr  •meh 
von  vornherein  die  IMöglichkeit  gegeben  sein,  sich  entsprechend  zur 
Geltung  zu  bringen.  Nun  haben  Avir  als  LeitmotiA^  des  Ausbildungs- 
processes  der  klassisch -antiken  Ranke  das  Bestreben  gekennzeichnet, 
die  daran  zu  Tage  tretenden  Palmetten  a'Ou  Idossen  ZAvickelfüllnugen 
ZAvischen  den  Rankengabelungen  zu  Avirklichen  und  selbständigen 
Blüthenmotiven  zu  emancipiren,  d.  h.  die  Bedeutung  dieser  letzteren 
gegenüber  der  verbindenden  Ranke  zu  stärken.  Uns  schien  dieses 
Bestreben  offenbar  zusannnen  zu  hängen  mit  der  naturalisirenden  Ten- 
denz, die  sich  in  der  grieehixlien  Plhanzeiiornanu'ntik  mindesten>  seit 
d<-m  .'i.  .lahrli.,  vielleicht  sogar  schon  s<'it  viel  frühei-er  Zeil,  üiienn.-ielitig 
gelt<'nd   gemnclii    hat.     AVenu    wir   nun    au   ijer  .\ral>e>ke  (his  eiitgei;<'n- 

')  An  fler  tVirtlaut'cnden  Weilenranke  römischen  (liarakters  Fig.  VM 
ZAveigcn  hinge  blüthenbekrönte  Rankenstengel  ab,  die  die  IlauptranUc  mehr- 
fach durchschneideii;  dies  g-e.schieht  aber  in  freier,  Ix'wusst  iiaturahsti'-chcr, 
AVfil  a.synnnetrischer  Weise,  wogegen  die  Durchschneidungen  der  saracenisclien 
liaiiken  stets  jiach  einem  streng  .syujmetriscli-oniann'ntak'n  Grundidaii  erfolgen. 


Die  Arabeske.  267 

gesetzte  Bestreben  walirnebmeii  —  ein  Bestreben,  das  darauf  gerichtet 
war,  die  Eankenlinien,  die  das  geometrische  Element  in  dieser  ganzen 
Ornamentik  bilden,  Avieder  zu  raaassgebender  Geltung  zu  bringen  — 
so  liegt  der  Schluss  auf  der  Hand,  für  dieses  rückläutige  Bestreiken 
auch  eine  der  hellenischen  entgegengesetzte  Grundtendenz  in  der 
künstlerischen  Auffassung  des  Pflanzenrankenornaraents  verantwortlich 
zu  machen.  War  das  Ziel  der  griechischen  Künstler  eine  Ver- 
lebendigung der  Palmettenranken,  so  erscheint  als  dasjenige 
der  saracenischen  Künstler  umgekehrt  die  Schematisirung, 
Geometrisirung,  Abstraktion. 

Der  Ausgangspunkt  der  Pflanzenornamentik  im  Orient  (Egypten) 
war  die  geometrische  Spirale  (Fig.  25) ,  an  welche  sich  die  Blüthen- 
motive  als  blosse  accessorische  ZAvickelfüllungen  anschlössen.  Die 
Griechen  gestalteten  daraus  die  lebendige  Eanke,  an  deren  Schösslinge 
und  Enden  sie  schön  gegliedert«-  Blüthenmotive  ansetzten.  ]m  saraceni- 
schen Mittelalter  kommt  der  (wie  wir  sehen  werden,  schon  in  spät- 
antiker Zeit  wieder  angebahnte)  orientalische  Geist  der  Abstraktion 
abermals  zur  Geltung,  indem  er  die  Ranke  wiederum  geometrisirt. 
Zwar  die  fundamentalen  Errungenschaften  der  Griechen  —  die  rhyth- 
mischen Wellenranken  und  der  freie  Schwung  über  grössere  Flächen 
hinweg  —  wurden  nicht  mehr  preisgegeben,  letzterer  sogar  nach  be- 
stimmter Richtung  hin  weiter  entwickelt.  Aber  das  geometrische  Ele- 
ment drängte  sich  allenthalben  Avieder  in  den  Vordergrund:  in  der 
Führang  der  Rankenlinien  drückt  sich  dies  ganz  besonders  prägnant 
aus  eben  durch  die  sphärisch-polygonalen  Kompartimente,  die  ja  zweifel- 
los dem  geometrischen  Formenbereiche  angehören. 

■  Hier  erscheint  es  mir  zweckmässig  einen  Seitenblick  einzuschalten 
auf  die  so  überaus  reiche  Entwicklung,  Avelche  die  Bandverschlin- 
gung  in  der  saracenischen  Kunst  genommen  hat.  Den  Ausgangspunkt 
liiefür  bildet  das  antik  -  orientalische  Flechtband  (Fig.  33).  Von  den 
Griechen  der  klassischen  Zeit  wurde  es  immer  maassvoll  angewendet. 
In  Pompeji  tritt  es  uns  schon  öfter  entgegen,  und  zwar  stets  als  einfassen- 
des, bordirendes  Element.  An  Mosaiken  der  späteren  römischen  Kaiserzeit 
vermehren  sich  die  zu  je  einem  Flechtmuster  vereinigten  Bänder:  in 
Fig.  140^)  sind  sie  bereits  kaum  mehr  zu  zählen,  aber  noch  auf  die 
Bordüre  beschränkt,  in  Fig.  141"')  endlich  ist  das  Bandornament 
für  würdig  befunden  ein  Innenfeld  zu  schmücken. 


3)  Wilmowsky,  Mosaiken  von  Trier  Taf.  III. 
»)  Ebenda  Taf.  VIIT. 


i>68 


Die  Arabeske. 


Dies  ist  der  eutscheideiide  Ausgangspunkt  für  die  gesamnite  nach- 
folgende EutAvicklung  des  Bandverflechtungsornaments  im  Morgen-  -wie 
im  Abcndlande.  Dieses  im  Grunde  bedeutungslos-geometrische  Element, 
das  die  klassische  Kunst  bloss  zu  untergeordneten  Einfassungszwecken 
benützt  hat.  wird  von  der  spätantiken  Kunst,  in  welcher  das  Bedeu- 
tungsvolle wiederum  zurückgedrängt  wird  und  der  reine  dekorative 
Schmückungstrieb  in  den  Vordergrund  des  Kunstschaffens  tritt,  als 
voUgiltiges  Hauptmotiv  der  Dekoration  hingenonnnen.  Daher  rühren 
die  Bandverschlingungen  auf  den  altchristlichen  Sarkophagen  und  Am- 
bonen,  wovon  sich  so  zahlreiche  Trümmer  in  den  Vorhallen  und  Kreuz- 
gängen  der  altchristlichen  Basiliken   Konis   eingemauert  finden,   daher 


l'ig.  140. 
EckstUck  von  der  hordiirc  eines 
spät  römischen  Mosaikfussbodens. 


l'ÜlluUo'>atÜck    Voll    uillClll    Spill IMUlibchcU 

Jlosaikfussboden. 


die  byzantinischen  Entrelacs,  welche  selbst  schon  Buurgoin")  als  die 
unmittelbaren  Vorläufer  der  saracenischen  Verschlingungeii  und  \er- 
gitterungcn  anerkannt  hat. 

Diese  AbschAveifung  auf  das  Gebiet  des  Entwiekliings])rocesses 
i\i-v  mittclalterliejien  Bandverkreuzungen  erschien  iiMiliwciidig.  um  hier- 
mit zugleich  den  ;nitin;itni';distiseli<'n .  /um  Absiti'.ikleii  geneigten  Zug 
in  der  Stilisirung  der  Aralxskenranke  anscliaulicher  und  verständlicher 
zu  machen.  Man  wii'd  nun  nicht  mehr  zwcileln  können,  dass  es  der- 
selbe Zug  gewesen  ist,  di-i'  i'inei'sciis  die  geometrischen  Bandvrrselilin- 
gungen  so  reich  und  üj^iig  ausgebihlct ,  .iiulcici-seiis  die  Ixaidcenlinien 
der  Arabeske  zu  wechselseitiger  Durelixiineiilung  und  Durchkreuzung 
gebracht  hat.    Damit  erscheint  zugleich  eine  Erklärung  des  Umstandcs, 


")  Lc8  arts  arabes  24. 


Die  Arabeske.  269 

wieso  die  Saracenen  schliesslich  zu  einer  von  der  klassisch -antiken 
anscheinend  so  grundsätzlich  abweichenden  Behandlung-  der  Eanken- 
führung*  gekommen  sind,  aus  dem  Gesammtcharakter  der  saracenischen 
Kunst  heraus  geliefert. 

Betraf  der  besprochene  erste  Punkt,  in  dem  sich  die  Arabeske 
vom  klassisch-antiken  Bankenornament  fundamental  unterscheidet,  die 
Führung  der  Rankenlinien,  so  beruht  der  zweite,  nicht  minder  Avesent- 
liche  Differenzpunkt  in  der  Behandlung  der  an  die  Rankenlinien 
angesetzten  Blüthenmotive.  Und  zwar  sind  es  niclit  so  sehr  die 
Motive  selbst,  die  den  wesentlichen  Unterschied  begründen:  wir  werden 
im  14.  Jahrh.  Beispiele  saracenischer  Rankenmuster  (Fig.  189  b,  c) 
kennen  lernen,  die  den  griechischen  der  besten  Zeit  überaus  nahe 
stehen;  andererseits  werden  uns  bereits  im  5.  Jahr.  n.  Chr.,  also  noch 
unter  voller  Herrscliaft  der  späten  Antike,  Blüthenformen  von  einer  so 
weitgediehenen  Rückstilisirung  in's  Abstrakte  (Fig.  143)  begegnen,  wie 
sie  auch  an  den  gegebenen  Beispielen  aus  dem  15.  (Fig.  1.B9)  und 
19.  Jahrh.  (Fig.  138)  nicht  übertroffen  erscheinen.  Es  ist  vielmehr  das 
Verhältniss  der  Blume  zu  der  Ranke,  an  welcher  sie  haftet,  wodureli 
sicli  das  Arabeskenornament  vom  klassiscli-antiken  abermals  in  ganz 
grundsätzlicher  Weise  unterscheidet. 

In  der  antiken  Rankenornamentik  setzen  die  Blüthenraoti^-e  der- 
maassen  an  die  Hauptranke  an,  dass  von  letzterer  kleine  Schösslinge 
abzweigen,  an  deren  Ende  dann  die  Blume  versetzt  wird.  Das  Ver- 
hältniss ist  somit  das  gleiche  wie  in  der  Natur:  der  Stiel,  der  Schaft 
ist  das  untere;  die  Blume  ist  die  Bekrönung,  die  freie  Endigung. 

Betrachten  Avir  dagegen  das  Motiv  a  in  Fig.  139 '2).  Die  beiden 
Theile,  in  welche  sich  dieses  ^lotiv  von  zweifellos  vegetabilischer  Be- 
deutung gabelt,  bilden  nicht  die  freien  Endigungen  der  ihnen  zur  Basis 
dienenden  Rankeneinrollung,  sondern  sie  verdünnen  sich  gegen  das 
Ende  zu  in  neuerliche  Ranken:  die  eine  endigt  schliesslich  in  eine 
Kugel,  welcher,  sei  es  eine  kleine  spiralige  Einrollung,  sei  es  ein  frei 
auslaufendes  Drei-  oder  Halbblatt,  zu  Grunde  liegt;  die  andere  bildet 
mit  einem  zweiten  gleichfalls  von  einer  Gabelranke  herkommenden 
Schössling  einen  Kielbogen,  an  den  sich  ein  grösseres,  die  freie  Eck- 
lösung bildendes  Dreiblatt  ansetzt.  Gemäss  früheren  Ausführungen 
werden  wir  die  Gabelranke  a  als  uvfrei  bezeichnen. 


'2)  An  Fig-.  138   aus   dem  19.  Jahrh.  ist  das  bezügliche  Verhältniss  natür- 
lich nur  ein  womögUch  noch  entschiedeneres  imd  vorgeschritteneres. 


270  Die  Arabeske. 

Das  Gleiche  gilt  von  der  Ilalbpalmette  c.  Das  spitz  zulaufende 
Ende  derselben  setzt  sich  fort  in  einer  Kanke,  aus  der  sicli  im  Aveiteren 
Verlaufe  eine  Gabelranke  entfaltet.  Aber  selbst  auf  die  vollen  Pal- 
metten erstreckt  sich  diese  eigentliümliclie  Verijuickung"  der  Kanke  mir 
der  Blüthe.  In  Fig.  13i)  tritt  diese  zwar  nicht  besonders  augenfällig  zu 
Tage,  da  die  zAvei  Gabelranken,  die  von  dem  mittleren  Dreiblatt  iu 
dem  schwarz  grundirten  sphärischen  Polygon  abzweigen,  nicht  an  das 
spitze  Ende,  sondern  an  die  Seiten  des  kielV)ogenförmigen  Blattes  an- 
setzen. Deutlicher  ist  es  an  Fig.  KhS  an  dem  Di'ciblatt  etwas  rechts 
von  der  Mitte  zu  sehen  '3). 

()1>  Avir  uns  nun  unter  tlen  bezüglichen  ^Motiven  Blumen  oder 
Blätter  oder  Knospen  vorzustellen  haben:  die  Eigenthündielil<eit .  von 
der  krönenden  Spitze  derselben  die  Ranken  Aveiter  laufen  zu  lassen, 
verstösst  in  jedem  Falle  wider  die  Natur.  Es  offenbart  sich  darin 
zweifellos  Aviederum  Jener  ausgesprochen  antinaturalistische  Zug,  den 
Avir  schon  als  für  die  Behandlung  der  Kankenlinien  so  Avesentlieli 
maassgebend  befunden  haben.  Die  klassisch-antike  Ornamentik  hat 
sich  diese  Freiheit  anscheinend  nielit  erlaubt.  An>elieinend,  sofern 
man  nändich  bloss  die  A'ollen  und  \\  irklichen  Blunienmotive  (Pal- 
metten u.  s.  AA'.)  im  Auge  hat.  Frinnern  Avir  uns  aber  an  den  Selduss- 
punkt  unserer  Betrachtungen  über  den  Fnlwieklungsprocess  des  tlaeli 
stilisirten  griechischen  Palmettenrankenornaments  in  liellenisiischer 
Zeit,  den  Avir  bereits  ausdrücklich  (S.  243  f.)  als  den  Ausgangspunkt  für 
das  Aufkoramen  der  unfreien  llalbpalmetten  bezeichnet  hab(Mi :  feiMier 
an  das  Resultat  unseiTi-  rntiTsuehungen  über  die  Al^autlmsranke  in 
römiseher  Zeit  (S.  'J.')5).  an  der  w'w  ijn  febergreifen  der  gleiclum  l\'n- 
denz  auf  das  plastisch-naturalistische  b'aukeuornament  feststellen  konnten. 
"Wenn  wir  dortselbst  noch  Bedenken  gehabt  liaben,  ob  die  in  der  un- 
freien Beliandlung  der  1 1.illipalmetten  zum  Ausdruck  gelangte  anti- 
naturalistiscJie  Tendenz  diii  antiken  Künstlern  /.um  klaren  BcAVUsstscin 
gekommen  ist.  so  dürf«'ii  \\\y  die>e  l'>e(lenk<  n  d<i-  Aralyeske  gegenüber 
völlig  fahren  lassen.  AVir  haben  daher  die  lieiretVendeii  Moti\'e  in 
Fig.  l.'>ll  schlaid<weg  als  Kuruccninche  Halb jHibiu't tan  bezeichnet.  Der  Sache 
und  der  Ilei-kunfl  nach  sind  sie  Tsowie  die  Gabelranken)  nichts  Anderes 
als  die  Zwickelfülhuigen  der  klassisch-antiken  Hanke.  Den  Febergangs- 
process  zwiselM-n  beiden  im  lOinzelnen  aufzuzeigen,  wii-d  den  (Jegenstand 

'"')  D(M"  Kankcnscln'issliiig',  der  rechts  von  der  S])itzo  dieses  Dreiblattes  ab- 
zweigen soll,  erscheint  infolire  eines  Fehlers  in  ilcr  Kopie  initerhalb  der  Spitze 
aiiffesetzt. 


Die  Arabeske.  271 

der  naclifolgeuclen  Untersuchung  bilden.  Nur  auf  einen  Umstand  soll 
noch  gleich  hier  ausdrücklich  hingewiesen  Averden,  da  derselbe  in  be- 
sonderem Maasse  geeignet  erscheint,  das  eben  skizzirte  Verhältniss 
zwischen  den  antiken  zwickelfüllenden  Palmetten  und  den  Blumen- 
motiven der  Arabeske  verständlich  zu  machen :  die  der  Natur  zuwider- 
laufende unfreie  Behandlung  der  Blüthen  findet  sich  in  der  Arabeske 
in  der  Regel  wohl  an  den  Halbpalmetten  und  Gabelrauken,  verhältniss- 
mässig  selten  dagegen  und  erst  in  einem  vorgeschritteneren  Stadium 
der  Entwicklung  an  den  vollen  Palmetten. 


Die  Arabeske  treflFen  wir  an  in  sämmtlichen  Ländern,  die  sich 
der  Islam  im  Laufe  der  Jahrhunderte  unterworfen  hat.  Hauptsächlich 
kommen  hier  in  Betracht:  Nordafrika  mit  Unteregypten,  Syrien,  Klein- 
asien, Mesopotamien  und  Persien,  also  im  Allgemeinen  jene  Länder, 
die  einstmals  zum  grossen  römischen  Universalreiche  gehört  hatten, 
und  Avie  die  Denkmäler  ausnahmslos  beweisen,  sich  durchweg  die 
Formeusprache  der  hellenistisch  -  römischen  Universalkunst  angeeignet 
hatten.  In  dieser  Kunst  spielte,  Avie  Avir  gesehen  haben,  für  die  deko- 
rativen Aufgaben  das  Pflanzenranken ornament  die  AA'citaus  Avichtigste 
und  tonangebende  Eolle.  Sehen  Avir  nun  im  Mittelalter  in  den  gleichen 
geographischen  Gebieten  abermals  ein  Pflanzenrankenornament,  Avenn 
auch  anscheinend  von  verschiedener  Beschaffenheit,  als  maassgebendstes 
Dekorationselement  verAvendet,  so  erscheint  —  Avie  schon  auf  S.  259  be- 
tont Avurde  —  der  Gedanke  an  eine  genetische  Abhängigkeit  des  zweiten 
von  dem  ersteren  unabAveislieh.  Es  möchte  doch  mindestens  der  Mühe 
A'erlohnen,  dem  Aveehselseitigen  Verhältnisse  etAvas  nachzugehen;  —  um 
so  unbegreiflicher  und  Avohl  Aviedcr  nur  aus  der  unglückseligen  kunst- 
materialistischen BeAvegung  mit  allen  ihren  Konsequenzen  zu  erklären 
bleibt  der  Umstand,  dass  man  selbst  von  vielerfahrenen  Kunstkennern 
der  heutigen  Tage  noch  kurz  aburtlieilen  hört:  ZAAäschen  klassischer 
Antike  und  orientalischer  Arabeske  gäbe  es  keinen  Zusammenhang, 
Aveil  es  —  nun  Aveil  es  eben  ZAvischen  Feuer  und  Wasser  keinen  solchen 
geben  könne. 

Die  bisher  verschmähte  Untersuchung  des  Verhältnisses  ZAvischen 
dem  antiken  und  dem  saracenischen  Rankenornament  Avollen  nun  wir 
im  Nachfolgenden  anstellen.  Was  Avir  unter  Araljeske  A^erstehen,  was 
den  herA'orstechendsten  Charakterzug  dieses  für  die  saracenische  Kunst 
typischen  Ornaments  bildet,  haben  AAir  soeben  einleitungSAA'eise  ausein- 


272  I^i*-^  Arabeske. 

andergesetzt:  wir  kennen  somit  den  Zielpunkt,  auf  den  die  Entwicklung 
losstrebt.  "Wir  wenden  uns  nun  zum  Ausgangspunkte,  und  nehmen 
damit  die  historische  Betrachtung  Avieder  auf.  Dieser  Ausgangspunkt 
liegt  natürlich  an  der  "Wende  des  Alterthums  und  des  Mittelalters, 
wofüi'  man  gemeiniglich  das  Jahr  470  n.  Chr.  als  feste  Grenze  anzu- 
nehmen pflegt.  Bis  zu  diesem  Zeitpunkte  haben  wir  die  Entwicklung 
des  Pflanzenrankenornaments  im  vorigen  Kapitel  durchgeführt.  T'olge- 
richtig  müssen  wir  nunmehr  mit  demjenigen  beginnen,  das  die  Kunst- 
systematiker  nach  dem  Sturze  des  weströmischen  Reiches  ansetzen.  Es 
ist  dies  im  Abendlande  die  reifere  altchristliche,  im  oströmisehen  Kelche 
die  byzantinische  Kunst.  Da  wir  bloss  das  "Werden  der  Arabeske  im 
Auge  haben,  können  wir  uns  auf  das  Verfolgen  des  PHanzenornaments 
in  der  oströmischen  Kunst  beschränken  und  von  der  abendländisch- 
altchristlichen  Rankenverwendung  absehen,  wenngleich  die  beider- 
seitige Vergleichung  nicht  ohne  Xntzm  und  Lehre  anzustellen  wäre. 

1.    Da?*  PflaiizeDrankeiioruament  in  der  byzantinischen  Kunst. 

Beginnt  nicht  schon  mit  der  byzantinischen  Kunst  etwas  völlig 
Neues?  Wenn  man  so  die  landläutigen  Aeusserungen  hört,  möchte  es 
in  der  That  danach  scheinen.  Ein  historischer  Zusammenhang  mit  der 
Antike  im  Allgemeinen  Avird  zugegeben,  aber  im  Einzelnen  hört  man 
nur  von  dem  und  jenem,  das  so  ganz  anders  geartet  wäre  als  es  in 
der  Antike  der  Fall  gewesen  ist.  Dies  hat  allerdings  seine  —  zwar 
auch  nur  bedingte  —  Richtigkeit,  Avenn  man  nnter  Antike  die  griechische 
Kunst  des  Phidias  und  Iktinos  versteht.  Aber  Avie  Aveit  entl'ernt  vom 
attischen  Architekturideal  ist  schon  das  Pantheon  des  Agrippal  Und 
doch  Avird  diesem  Niemand  die  Zugehörigkeit  zur  klassischen  Antike 
abstreiten.  Es  gab  einen  EntAvicklungsgang  in  der  antiken  Kunst  der 
römischen  Kaiserzeit  und  ZAvar  auch  einen  aufsteigenden,  nicht  bloss 
einen  Niedergang  Avie  man  allenthalben  glauben  machen  Avill.  Man 
weist  diesbezüglich  gern  hin  auf  die  schAvachen  zeitgenössischen 
Reliefs  des  Konstantinljogens  gegenül)er  den  A'om  Trajanliogen  ent- 
lehnten, und  vergisst  dabei  vollständig  die  bcAvunderungswürdige  That- 
sache,  dass  uns  gerade  aus  der  Zeit  des  spätrömischen  Kaisers  Kon- 
stantin das  erste  Bei.spiel  einer  überAv<,ll,ten  Basilika  vorliegt!  Das 
Problem,  das  die  ganze  mittelalterliche  Bankunst  des  Abendlandes  in 
Athem  hielt,  l)ereits  vollendet  auf  dem  monumentalsten  Grundplan  am 
Anfange  des    I.  .I.ilirli.  n.  <  In.  I 


1.    Das  Pflauzenruiikenornament  in  der  bvzantinisclien  Kunst. 


Z*ö 


Die  byzantinische  Kunst  ist  zuuäclist  niclits  Anderes  als 
die  spätantike  Kunst  im  oströmischen  Reiche.  Es  existirt  kein 
irgendwie  ersichtlicher  Grund,  um  mit  der  Erhebung-  von  Byzanz  durcli 
Kaiser  Konstantin  eine  Epoche  in  der  Kunstgeschichte  anzusetzen. 
Nehmen  wir  bloss  die  architektonischen  Leistungen  zum  Maassstab. 
Byziinz  und,  seinem  Beispiele  gemäss,  fast  das  gesammte  oströmische 
Reich  übernahm  für  das  christliche  Kulthaus  den  Centralbau.  Das 
Schema  des  griechischen  Kreuzes  mit  centralem  Wölbungsraum  Avard 
nicht  erst  im  kaiserlichen  Byzanz  erfunden,  sondern  ist  —  offenbar  als 
Resultat  hellenistischer  Baubestrebungen  — ^  schon  im  2.  Jahrh.  n.  Chr. 
(Musmieh  in  Syrien)  bezeugt.  Die  Ausbildung  dieses  fertigen  Systems 
tür  die  Zwecke  des  christlichen  Kirchenbaues  unterlag  keinen  wesent- 
lichen Schwierigkeiten:  in  diesem  Lichte  betrachtet  reicht  die  Hagia 
Sophia  in  baugeschichtlieher  Bedeutung  an  die  Friedensbasilika  des 
Konstantin  bei  weitem  nicht  heran.  Und  was  wir  die  Stagnation,  die 
„Erstarrung"  in  der  byzantinischen  Kunst  nennen,  das  liegt  zum  grossen 
Theile  eben  in  jener  Uebernahme  eines  fertigen,  vollendeten  Bausystems 
begründet:  wo  keine  neuen  Wege  zu  suchen,  keine  Schwierigkeiten  zu 
überwinden  waren,  dort  musste  man  schliesslich  in  Manier  verfallen. 
Wir  loben  die  tadellose  technische  Ausführung  byzantinischer  Werke 
und  spenden  ihren  Künstlern  Dank  für  die  traditionelle  Bewahrung 
der  tüchtigen  römischen  Technik:  aber  zu  den  schöpferischen  Kunst- 
stilen werden  wir  den  byzantinischen  niemals  zählen,  denn  gerade 
seine  reifsten  Hervorbringungen  sind  im  Grunde  nicht  Leistungen  der 
Byzantiner,  sondern  die  Hinterlassenschaft  einer  kunstregeren  und 
schafiTensfreudigeren  —  der  hellenistischen  —  Zeit. 

Noch  einen  Umstand  müssen  Avir  sofort  in  der  allgemeinen  Cha- 
rakteristik der  byzantinischen  Kunst  herausheben,  um  dadurch  die 
Detailbetrachtung  kürzer  und  verständlicher  zu  machen.  Die  Zeit,  in 
welcher  die  sogen,  byzantinische  Kunst  anhebt,  war  trotz  ihrer  über- 
wiegend dekorativen  Neigungen  zum  fröhlich -fruchtbaren  Erschaffen 
neuer  Formen  in  keiner  Weise  angethan.  Es  ging  ein  Zug  nach  Ein- 
schränkung durch  das  ganze  damalige  Kunstschaffen,  nach  Preisgebung 
des  unerschöpflichen  Reichthums  an  heiteren  dekorativen  Formen,  den 
die  hellenistisclie  und  die  frühere  römische  Kaiserzeit  aufgehäuft  hatte, 
unter  blosser  Festhaltung  Aveniger,  der  Architektur  unentbehrlich  ge- 
bliebener Elemente. 

Das  richtige  Verständniss  für  diese  Erscheinung  Avird  am  besten 
ein  Hinblick  auf  die  Aufgaben,  die  der  Skulptur  und  Malerei  in  jener 

11  i  e  g  1 ,  Stilfragen,  18 


274  L~>ie  Arabeske. 

Zeit  gestellt  ■waren,  vermitteln.  Eine  neue  religiöse  Vorstellungswelt, 
ein  neuer  Kultus  hatten  neue  künstlerische  Bedürfnisse  und  Aufgaben 
geschaffen.  Wie  Avenig  zwar  dieselben  ursprünglich  ein  Heraustreten 
aus  der  klassisch-antiken  Dekorationswelt  nothwendig  erscheinen  Hessen, 
wissen  Avir  sattsam  aus  der  Katakombenkunst.  Erst  allmälig  verliess 
man  die  Orpheus-  und  Hermes-Typen  und  schuf  sich  selbständige,  na- 
türlich in  klassisch-traditioneller  Pose  und  Gewandung.  Aber  all  dies 
war  zunächst  nur  sozusagen  Nothbau,  ermangelte  der  wahrhaft  künstle- 
rischen Dtu'chbildung  und  Behandhmg.  I^s  ist  ein  charakteristisches 
Merkmal  der  altchristlichen  Bildwerke,  dass  an  ihnen  gerade  auf  die 
eigentlich  künstlerischen  Momente  nur  geringer  Werth  gelegt  erscheint. 
-Man  suchte  irgend  eine  testamentarische  Figur,  den  Träger  irgend 
einer  der  neuen  religiösen  Ideen  zti  verkörpern:  auf  Schönheit,  ^Vulll- 
lattt,  Ebenmaass  wurde  wenig  GcAvicht  gelegt.  Die  Form  Avttrde  vojn 
der  Idee  todtgeschlagen,  —  soweit  dies  nämlich  bei  einem  Künstler,  der 
Avenigstens  äusserlieh  nocli  tmter  dem  Einflüsse  der  klassischen  Tradition 
stand,  eben  möglich  war. 

Freilich  musste  späterhin  eine  Zeit  kommen,  wo  der  unversieg- 
bare Drang  nach  Pflege  des  Formschönen  wieder  rege  Avurde  und  sieh 
an  den  christlichen  l^ihhverken  und  Malereien  zu  bethätigen  suchte. 
Auch  dieser  Drang  Avurdc  im  byzantinischen  Keiche  nahezti  im  Keime 
«■rstickt  durch  den  Bildersturm.  Und  nachdem  auch  die  letztere  Be- 
Avegung  ausgetobt  hatte,  Avar  doch  soviel  in  der  Stimmung  der  Ge- 
müther zurückgeblieben,  dass  das  Kunstsciiatfen  auf  religiösem  Gebiete 
dureh  Regeln  und  Satzungen  eng  umgrenzt  wurde.  Wie  Aveit  sich  da 
Schönlieitsdrang  und  Avahrer Kunstschattenstrieb  nocli  beiiiäiigen  konnten, 
ist  es  geschehen:  dass  nicht  viel  Paiim  hiezu  übrig  Idicb,  lag  in  diT 
Natur  der  Verhältnisse.  Ja  diese  Wiederaufnahme  der  religiösen  Kunst 
wurde  —  von  einem  gcAvissen  Gesichtspunkt  betrachtet  —  sogar  zum 
Verhängnisse  für  die  Byzantiner:  das  Hr)chste  darin  zu  erstreben,  wie 
es  die  Abendländer  thaten,  verwehrten  ihnen  ihre  Satztingcn,  al)ei'  da 
doch  figürlich-religiöse  Darstellungen  den  Hauptgegenstand  künsth:ri- 
schen  Schaffens  bilden  sollten,  kam  man  .inderstMls  ancii  nicht  dazu, 
die  Kunst  entschieden  auf  rein  dekorativen  Boden,  .lut'die  i'x'friedigung 
blosser  menschliclier  Schmuckfreudigkeit  zu  slelitu,  welelien  Schritt 
bekanntlich  die  Saracenen  zu  ihrem  Vortheile  gethan  haben.  Sc  liwan- 
kend  in  der  Mitte  zwjsclien  dem  Kingen  n.iili  dem  ilrielisten  in  iler 
religiösen  Kunst  und  dem  Streben  nach  SchalVnng  einer  niogli»  hsi  v.di- 
komineneii   dekorativen  .Augenblicks-Augenweide,   lieid<  s  alxr  inemals 


1.    Das  Pflanzenrankenornamcnt  in  der  byzantinischen  Kunst.        275 

erreichend,  hat  es  die  byzantinische  Kunst  zeitlebens  nur  zu  liallien 
Leistungen  bringen  können. 

Also  eine  Reduction  des  Kunstformenschatzes  war  das  Nächste, 
das  die  Oströmer  mit  dem  überreichen  Erbe  der  klassischen  Antike 
vorgenommen  haben.  Das  Eine  muss  man  ihnen  aber  lassen,  dass  sie 
eine  gute  Auswahl  getroffen  haben:  so  wie  sie  im  Kirchenbau  das 
treffliche  Centralsysteni  übernahmen,  an  Stelle  der  römischen  Basilika, 
an  deren  Ungefügigkeit  sich  das  ganze  abendländische  Mittelalter  ab- 
zumühen hatte,  so  behielten  sie  auch  von  den  ornamentalen  Formen 
die  schmiegsamsten  und  leistungsfähigsten  bei:  insbesondere  die  alten 
typischen  Wellenrankensysteme. 

Indem  wir  uns  nun  der  Betrachtung  des  Pflanzenranken-Orna- 
ments in  der  byzantinischen  Kunst  im  Einzelnen  zuwenden,  müssen 
wir  abermals  die  leidige  Bemerkung  vorausschicken,  dass  uns  hiebei 
keinerlei  Vorarbeiten  zu  Statten  kommen.  Einzelne  Details,  etwa  den 
Schnitt  des  Akanthusblattes  betreffend,  sind  wohl  von  den  Schrift- 
stellern, die  sich  vornehmlich  mit  den  justinianischen  Bauten  beschäf- 
tigt haben,  erwähnt  und  hervorgehoben  worden:  die  Leitmotive  der 
byzantinischen  Dekoration,  die  grossen  Gesichtspunkte,  von  denen  jedes 
einzelne  Detail  Zeugniss  giebt,  hat  man  bisher  so  gut  wie  ignorirt. 
Wir  haben  an  dieser  Stelle  nicht  die  Absicht,  die  diesbezüglich  vor- 
handene Lücke  vollständig  auszufüllen:  unsere  Aufgabe  gebietet  es, 
uns  auf  das  Pflanzenrankenornament  zu  beschränken.  Nichtsdesto- 
weniger Avird  es  die  Knappheit  der  einschlägigen  Literatur  mehr  als 
einmal  nöthig  machen,  über  Dinge  Worte  zu  verlieren,  die  längst  in 
einer  allgemeineren  Bearbeitung  der  byzantinischen  Kunst  ihre  P'rledi- 
gung  gefunden  haben  sollten. 

Als  Ausgangspunkt  wähle  ich  ein  Denkmal,  dessen  Entsteh ungs- 
zeit  sichergestellt  ist:  die  im  .Jalire  463  n.  Chr.  erbaute  Johannes- 
kirche zu  Konstantinopel.  Fig.  142  giebt  nach  Salzenberg'*)  ein 
Kapital  mit  darauf  liegendem  Architrav,  soweit  derselbe  für  unseren 
Gegenstand  von  Interesse  ist. 

Das  Kapital  gehört  der  sogen.  Kompositform  an.  Den  runden 
korbartigen  Kern  umgeben  Akanthusvollblätter,  die  in  zw^ei  Reihen 
übereinander    angeordnet    sind.     Die  Behandlung  der  Akanthusblätter 


■J)  Altchristliche  Baudenkmale  von  Konstantinopel  IIL  1 ;  diese  Abbildung- 
ist offenbar  noch  immer  treuer  als  diejenige  bei  Pulgher,  Les  anciennes  eglises 
bvzautines  de  Constantinople  I. 

18* 


276 


Diu  Arabeske, 


Avar  bisher  ilasji'uige  Moment,  das  im  ^'ol•del•*^•^ulule  des  Interesses  an 
den  Einzelo-liedern  dieses  Bauwerlces  gestanden  ist.  Und  /war  liat  man 
die  langen  und  spitzen  Zacken,  in  ■welchen  die  Ränder  geselniitten 
sind,  als  eine  bemerkenswerthe  Nenernng  gegenüber  der  Aveielien, 
üppigeren  Behandlungsweise  der  bezüglichen  Details  am  römischen 
Akanthus  hingestellt '-'•).    So  auttalliMid  die  l'.ihlung  der  cin/elncu  Zacken 


z;^! 


:j{  }Ui  iui  na  IUI  ])/c  )Ui  ^ui 


F«f7.' 


iil,vjn^:|all!i:,i|jl!]li 


rig.  142. 
Ka|>iliU  imil  fU-biUk.-.tl'R-k  von  der  St.  .lolianiiokirclie  /.n   lvonst,aiitiiiii]n'l. 

nun  i.st,  so  Ijihlet  .sie  d(jch  nicht  da.s  eiitschiiiliMidc  Mcrkm.d.  !•;>  wäre 
auch  unschwer  nachzuweisen,  dass  dieser  l'l.itixlmiti  nniiiiitilli.ir  aus 
dem  n'iniisehen  schm;ilzackigcn  lu',rk(immi,  wie  <t  sich  ;in  so  viihii  Dcni;- 
mäh'i'n   n<'l)cii   dem   weidien'n,  virlladi   mit   liillc  des  Hohrers  skiz/.irlcn 

'■')  Am  ausl'ülirliclisten  .1.  Str>cy;^'o\vski  in  den  i\nttiieil.  des  deiit.  areliäol. 
Instit.  zu  Athen  XIV.  2H0  ff. ,  wo  sicli  aucli  eine  verdienstiiclie  Zusaniincn- 
stellung  des  weitverstreuten,  bislier  ;;-r(isstciitlicils  uulieaclitet  i;-('l)iicl)ciicH 
T'iitcrsucliiui^'suiatcrials  findet. 


1.    Das  Ptlanzeiu-aiikcnoniament  in  der  bvzantiiiischen  Kunst. 


•li  i 


findet"^).  Wäre  es  hloss  hei  der  langen  und  spitzen  Bildung-  der 
Eiiizelzacken  geblieben,  so  hätten  wir  kaum  einen  genügenden  Grund 
von  einem  „byzantinischen'^  Akanthus  zu  reden. 

Das  grundsätzliche  Unterscheidungsmerkmal  für  den  byzantini- 
schen Akanthus  beruht  in  der  Auflösung  des  früheren  Gesammt- 
blattes  in  einzelne  kleinere  Blätter.  In  Fig.  142  ist  es  am  Kapital 
noch  nicht  genügend  ersichtlich,  weil  daselbst  nach  dem  zwingenden 
Vorbilde  des  römischen  Kapitals  bloss  neben  einander  gereihte  Akan- 
thusvollblätter  angebracht  werden  konnten'').  Aber  selbst  an  diesen 
lässt  sich  der  Umschwung  bei  näherem  Zusehen  beobachten:  die  ein- 
zelnen Zackengruppen,  die  als  grössere  Zacke  in  der  Peripherie  der 
Blätter  ausladen,  sind  ungemein  tief  eingeschnitten.  Wäre  nicht  der 
Scheitel-Ueberfall  eines  jeden  Vollblattes,  so  Avürde  der  Charakter  eines 
solchen  schon  sehr  zurücktreten,  gegenüber  den  einzelnen  ausladenden 
Zacken.  Völlig  deutlich  veranschaulicht  sehen  wir  das  Endergebniss 
dieses  Processes  an  der  fortlaufenden  Akanthusranke,  mit  welcher  der 
Architrav  in  Fig.  142  verziert  erscheint.  ZAveifellos  kommt  das  Blatt- 
werk dieser  Wellenranke  von  dem  Akanthushalbblatt  her,  wofür  l)loss 
auf  unsere  Ausführungen  über  die  Akanthusranke  (S.  254  ff.)  rückver- 
wiesen zu  werden  braucht.  Aber  die  vormals  einheitlichen  Halbblätter 
sind  aufgelöst  in  meist  drei- ,  seltener  vier-  bis  fünf-spältige  Zacken, 
wie  sie  sich  von  der  Peripherie  des  Akanthusblattes  abgetrennt  haben. 
Ja  noch  mehr:  diese  Drei-  (Vier-  und  Mehr-)  Blätter  schmiegen  sich 
bereits  den  verschiedenen  Konfigurationen  des  Paumes  an,  der  auszu- 
füllen ist,  lassen  sich  in  die  mannigfaltigsten  Richtungen  und  Projek- 
tionen pressen. 

Es  kann  nur  zur  Klärung  des  Sachverhaltes  beitragen,  wenn  wir 
an  diesem  entscheidenden  Punkte  einen  flüchtigen  aber  übersichtlichen 
Eückblick  auf  den  Entwicklungslauf  des  Akanthus  werfen.  Ausgegangen 
ist  derselbe  vom  glatten  Blattfächer  der  Palmette :  bald  knüpft  sich 
daran  eine  Gliederung  der  einzelnen  Blätter  des  Fächers  in  mehr- 
zackige Enden,  wie  wir  sie  z.  B.  am  Lysikratesdenkmal  bt'reits  vor- 
finden.    Trotz   dieser  Gliederung  bleiljt  das   Akanthusblatt,   sowohl  als 


"')  So  z.  B.  am  Hadriansthor  zu  Adalia.  abg-ebildet  in  Laiickoronski's 
Paiiiphylien. 

")  Am  korinthischen  Kapital  hat  sich  denn  auch  das  AkantlnisvoUblatt 
am  längsten  bis  in  die  ausgebildete  saracenische  Kunst  erhalten;  doch  lässt 
sich  anderseits  der  Einfluss  der  Auflösung  selbst  schon  an  Kapitalen  der 
frühbyzantinischen  Zeit  feststellen  (Salzenberg  Taf.  V). 


278 


Dir  Arabeske. 


volles  wie  als  halbes,  die  ganze  bcllenistiselu'  und  frühere  römische 
Kaiserzeit  hindurch  ein  ungetheiltes  Ganzes.  Vorboten  der  kommenden 
Auflösung  lassen  sich  aber  bereits  an  den  Beispielen  vom  Xerva-Forum 
(Fig.  135;  136)  erkennen:  das  Uebergehen  der  einzelnen  Ilalbblätter  in 
ver1:»indende  Ranken,  das  Ineinanderschacliteln  von  Blättern  erscheinen 
als  geeignete  Zwischenglieder,  um  allmählich  die  ursiirüngliche  Indivi- 
dualität des  Akanthusblattes  zu  verwischen.  Nun  im  ">.  Jahrh.  sehen 
wir  den  Process  am  Ende  angelangt  und  die  einzelnen  mehrspaltigen 
Zacken  lösen  sich  vom  ehemaligen  Akanthusvoll-  oder  Hall)l)lntte  ah 
und  bilden  eigene  Konfigurationen  von  selbständiger  Bedeutung.  Es 
hat  völlig  den  Anschein,  als  ob  ein  gerader  Entwicklungsgang  zu  gar 
keinem  anderen  Resultate  hätte  führen  können.  Der  „byzantinische" 
Akanthus  erscheint  hienach  als  reines  Produkt  eines  von  der  besten 
klassischen  Zeit  an  zu  verfolgenden  Entwicklungsprocesses,  und  keines- 


Fjg.  143. 
Omameiitale  Details  von  der  Kirche  der  lill.  Sergius  ii.  üacchiis  zu  Koiistantinopcl. 


wegs  als  Schöpfung  eines  byzantinisclien  genius  loci  oder  als  Resultat 
der  Beeinflussung  Seitens  einer  unertiiidliehen  „orientalischen"  Original- 
kunst. 

Beispiele  von  selbständigen  abgelösten  Zacken  des  byzantinischen 
Akanthus  zeigt  Fig.  143  aus  St.  Sergius  und  Bacchus'*^).  Das  Avichtigste 
Beispiel  darunter  ist  das  in  der  Mitte  befindliche  sogen.  Dreiblatt.  Es 
zeigt  ungefähr  die  Stilisirung  der  heraldisehen  Lilie.  Späterhin  ist  es 
nicht  l)l(jss  in  (l<-r  byzantinischen,  sondern  auch  in  der  saracenisehen 
Kunst  von  solcher  Bedeutung  gcAvesen,  ein  so  vulgäres  Element  aller 
Dekoration  geworden,  dass  wir  ihm  an  dieser  Stelle  einige  Worte  im 
Besonderen  ^\idm^ll  müssen. 

Das  Dreiblatt  ))estelit  aus  einem  Volutenkelcli  und  krönendem 
Blati  darüber.  Aeusserlich  ist  es  somit  fast  identisch  mii  gewissen  ab- 
breviirtcn  Lotusblüthen-Bildungen  dei-  altoi-ientalischen  Künste  (Fig.  20, 
35).     Der    reducirti-   \'oliiti'nki'h'h    dt-r  auch   im  .">.  .lahrh.  und  (larül)er 


'»)  Nach  Pulghcr  a.  a.  ( ).  III.  2. 


1.    Das  Pflanzenrankenornament  in  der  byzantinischen  Kunst.        279 

hinaus  immer  noch  bekannt  gewesenen  flachen  —  insbesondere  der 
gesprengten  —  Palmette  mag-  gewiss  auf  die  Stilisirnng  des  Dreiblattes 
Einfluss  geübt  haben.  Dazu  kommt  aber  noch  ein  Zweites  von  ganz 
Avesentlicher,  weil  unmittell>arer  Bedeutung:  der  Volutenkelch  des  by- 
zantinischen Dreiblattes  war  schon  an  und  für  sich  bedingt  durch  die 
scharfe  Einziehung  zwischen  den  einzelnen  ausgezackten 
Gliedern,  in  welche  eben  das  alte  Akanthusblatt  zu  zerfallen  im  Begriffe 
stand.  Um  sich  davon  zu  überzeugen,  genügt  ein  Blick  auf  die  Drei- 
blätter, in  welche  die  Akanthusranke  auf  dem  Architrav  in  Fig.  142 
aufgelöst  ist. 

Am  Dreiblatt  ist  ferner  die  Kielbogenform  des  krönenden  Blätt- 
cliens  zu  vermerken.  Diese  Bogenform  ist  bekanntlich  späterhin  ganz 
besonders  charakteristisch  für  die  saracenischc  Stilweise  geworden. 
Ihr  Auftreten  in  der  oströmischen  Kunst  des  5.  Jahrh.  Avird  uns  aber 
gleichfalls  nicht  völlig  unerwartet  kommen:  hat  doch  das  Akanthus- 
halbblatt  (sowie  die  gesprengte  Palmette)  in  der  ganzen  römischen  Zeit 
und  schon  früher  die  ausgesprochene  Tendenz  nach  Fülirung  in  aus- 
wärts gekrümmten,  ausgeschweiften  Linien  bekundet  (S.  245.) 

Man  vergleiche  alle  die  einschlägigen  Kapitale  aus  den  Publika- 
tionen von  Salzenberg  und  Pulgher,  und  man  Avird  sich  alsbald  davon 
überzeugen,  dass  die  Auflösung,  die  Zerpflückung  des  ursprünglichen 
individuellen  Akanthusblattes  und  die  willkürliche  Verwendung  und 
Zusammenstellung  der  einzelnen  Theilglieder  (Eig.  143)  den  wesent- 
lichen Unterschied  der  justinianischen  Ornamentik  gegenüber  der 
griechisch-römischen  begründen.  Um  so  entschiedener  muss  eine  Hypo- 
these abgcAviesen  werden,  welche  den  vermeintlich  so  eigenartigen 
Blattschnitt,  d.  h.  die  „fette  und  zackige"  Bildung  des  Blattrandes, 
wiederum  mit  der  ostmittelländischen  Acanthus  sj)inosa,  gegenüber  der 
italischen  Acanthus  mollis,  in  Verbindung  bringen  Avollte'-').  Die  Stein- 
metzen der  Justinianischen  Zeit  hätten  nach  dieser  Hypothese  aber- 
mals Blattstudien  nach  der  Natur  gemacht,  wie  dies  heutzutage  in 
unseren  Kunstgewerbeschulen  zu  geschehen  pflegt;  oder  aber  sollte  die 
Gewohnheit  solchen  Naturstudiums,  überhaupt  seit  Kallimachos  in  un- 
unterbrochener Uebung  geblieben  sein?  Gerade  die  Auflösung  des 
ehemaligen  Akanthusblattes  in  spätrömischer  Zeit  beweist  die  Unmög- 
lichkeit einer  solchen  engen  Anlehnung  an  bestimmte  Naturvorbilder, 
und  liefert  aufs  Neue  den  Beweis,  dass  die  ornamentale  Kunst  zu  allen 


9)  Mitth.  des  deut.  arch.  Instit.  zu  Athen  XIV.  280. 


2SQ  Die  Arabeske. 

Zeiten  ganz  andere,   und  zwar  künstlcrisclicre  Wege  gegangou  ist.  als 
diejenigen  des  Kopirens  bestimmter  botanischer  8pecies  nach  der  Natur. 

Bisher  liaben  "wir  bloss  von  den  Veränderungen  im  ornamentalen 
Blattwerk  gesprochen;  dasselbe  erscheint  aber  am  Architrav  in  Fig.  14-2 
in  ein  fortlaufendes  Wellenschema  gebraclit.  P^.s  obliegt  uns  daher  noch 
die  Behandlung  der  Ranke  auf  diesem  frühen  byzantinischen  Beispiele 
zu  erörtern. 

Darf  man  im  vorliegenden  Falle  übcrliaupt  von  einer  fortlaufenden 
Wellenranke  sprechen?  Vermissen  wir  doch  für's  Erste  die  Ranken- 
stengel oder  Linien  selbst,  ferner  die  Abzweigung  der  Sclu)sslinge  in 
dem  charakteristischen,  kreisfiu-migcn  Schwünge  nach  rückwärts.  Es 
bedarf  einer  Erinnerung  an  den  Entwicklungsgang,  den  das  ganze 
Motiv  genommen  hat,  um  auf  dem  Architrav  in  Fig.  142  eine  fort- 
laufende Wellenranke  zu  erkennen. 

Ausgangspunkt  war  die  blosse  Ranke  (Fig.  50);  in  die  Zwickel 
der  spiraligen  Al)zweigungen  kamen  füllende  Halbpalmetten  (Fig.  70). 
In  der  natttralisirenden  Zeit  krümmten  sich  die  Fächer  der  ITalbpal- 
metten  (Bordüre  von  Fig.  122)  oder  sie  wurd<'u  plastisch-ix'rspektivist'h 
ausgeführt  als  Akanthushalbblätter  (Fig.  129,  130).  Diese  letzteren 
trugen  aber  immer  noch  Sorge,  ihre  Spitzenden  auswärts  zu  krümmen, 
damit  an  ihrer  selbständigen  Individualität  kein  Zweifel  übrig  bleibe; 
die  l\*anken  selbst  liefen  unter  den  Enden  der  Halbpalmetleu  hinweg 
weiter.  An  mehrfachen  Beispieh-n  (Fig.  133 — 13G)  konnten  wir  deut- 
lich wahrnehmen,  Avie  die  Rankenstengel  zusehends  scliwaiulcn  und 
ihre  Function  auf  die  Blätter  selbst  übertragen  wurde  Als  nun  das 
Akantiiushal1)blatt  seine  Individualität  schon  darum  verlor,  weil  es  in 
eine  Anzahl  Theilglieder  aufgelöst  wurde,  fiel  vollends  Jeder  weitere 
Grund  hinweg,  an  der  Fiction  eines  selbständig  abzweigenden  l^attes 
festzuhalten.  Auf  dem  Architrav  in  l-'ig.  112  ist  es  sozusagen  eine 
einzige  Ak.inthnsrii)pe,  von  welcher  t«ii-ilaiifeii(l  einzelne  Zacken  ,iit- 
ZAveigen. 

Die  fortlaufende  Wellenranke,  die  in  Fig.  112  in  eine  i'>oi-(lüre  ge- 
bannt ist,  dient  an  Fig.  144-'")  dazu,  ('ine  grössere  Fläche  in  tVeien 
Schwingungen  auszufüllen.  Der  hellenistischen  und  früheren  imnisehen 
Zeit    wäre   eine   blosse  Ranke"'),   ohne   eingestreutes  figürliches  n.  ilgl. 

•")  Arkadenvcrzieiuiig  aus  der  Jlagia  Sophia,   naeli  Sal/enlx-rg  Tat'.  XV. 

■-')  Ebenso  wie  das  Flechtband;  vgl.  8.2(38.  Es  ist  einer  der  entschei- 
dendsten Punkte,  in  denen  klassische  und  si)ätantik-inittelalterliche  Ornamentik 
aus  einander  srehen. 


1.    Das  Prtanzenrankeiiornament  in  der  byzantinischen  Knnst.        9g  ]^ 

Beiwerk,  zu  dieser  Function  ungeiiügeucl  erschienen;  in  spätrüniischer 
Zeit  Avareii  die  Anforderungen  an  die  Bedeutsamkeit  des  Ornaments  so 
geringe  geworden,  dass  die  Akanthusranke  öfter  zur  Musterung  grosser 
Innenfläclien  herangezogen  wurde'--).  An  die  fortlaufende  Eanke  setzen 
sich  die  Theilglieder  der  ehemaligen  Akanthushalbblätter  der  Reihe  nach 
an,  und  ZAvar  unfrei,  ohne  selbständige  Stielung.  Dass  darin  das  ganze 
Geheimniss  der  Arabeskenornamentik  liegt,  hat  schon  Owen 
Jones  erkannt,  wenn  auch  nocli  nicht  völlig  richtig  erfasst.  Im  Text  zu 
den  arabischen  Ornamenten  seiner  Grammatik  der  Ornamente  hat  er  den 
Arkadenwand- Ausschnitt  Fig.  144  gleichfalls  abgebildet  und  sagt  dazu: 
„  .  .  bildet  diese  Spandrille  jedenfalls  die  Grundlage  der  bei  den 
Arabern  und  Mauren  gebräuchlichen  Verzieruno-  der  Oberflächen.    Das 


Fig.  144. 
Arkadenzwickel  von  der  .Sophienkirche  zu  Konstantinopel. 

Blattwerk,  welches  den  Mittelpunkt  der  Spandrille  umgiebt,  ist  zwar 
noch  ehie  Reminiscenz  des  Akanthusblattes,  doch  offenbart  sich  in  dem- 
selben der  erste  Versuch,  das  Principium  der  aus  einander  entspriessen- 
den  Blätter^^)  zu  beseitigen,  denn  die  Rankenverzierung  ist  zusammen- 
hängend und  ununterbrochen.  Das  Muster  ist  über  den  ganzen  Bogen- 
zwickel  vertheilt,  um  eine  gleiche  Färbung  hervorzubringen,  ein  Resultat, 
w^elches  die  Araber  und  Mauren  unter  allen  Umständen  zu  erzielen 
suchten." 

")  Apsismosaik  der  Kapelle  der  hl.  Rutina  und  Secunda  am  Baptisterium 
des  Lateran,  nach  de'Rossi  um  400 ;  Deckenmosaik  der  Apsis  von  San  Vitale. 

23)  Owen  Jones  fasste  nämlich  die  Wellenranke  nicht  als  ein  fortlaufendes 
Einheitliches,  sondern  als  eine  äusserliche  Aneinanderreihung-  einzelner  Spiral- 
ranken. Die  Einseitigkeit  dieser  Auffassung  darzulegen,  ist  nach  den  Aus- 
führungen im  3.  Kapitel  dieses  Buches  Avohl  überflüssig. 


•2S2  t)i^  Arabeske. 

Auch  der  Umstand,  dass  bereits  in  der  l'rüliercn  riunisclien  Kaiser- 
zeit Loclverung:en  des  g-riechischen  Priueips,  die  Blätter  selbständig  an 
eigenen  Stielen  abzweig-en  zu  lassen,  vorgekommen  sind,  ist  Owen 
Jones  nicht  entgangen:  ..Die  römischen  Ornamente  kämpften  beständig- 
gegen  dieses  scheinbar  unbewegliche  Gesetz  an,  ohne  es  zu  beseitigen." 
Aber  im  Wesentlichen  erschien  ihm  der  endgiltige  Schritt  in  justinia- 
nischer Zeit  doch  als  eine  spontane  Eründung,  die  eine  ganz  neue 
Entwieklungsreihe  des  Pticinzenornaments  geschaffen  hat.  "Wir  waren 
im  Stande,  die  frühesten  Anfänge  und  Grundlegungen  dieses  Processes 
bis  in  die  griechische  Zeit  hinauf  zu  verfolgen,  wofür  es  Oavcu  Jones 
hauptsächlich  schon  an  der  nötliigen  Kenntniss  und  Uebersicht  des 
seither  durch  die  Forschung  beigebrachten  Materials  gefehlt  hat.  Ferner 
glaubte  Owen  Jones  das  "Wesen  der  ganzen  Veränderung  darin  zu  er- 
blicken, dass  nunmehr  von  byzantinischer  Zeit  an  die  Blätter  sich  un- 
mittt'll)ar  von  einer  fortlaufenden  Rauke,  ohne  Vermittlung  selbständiger 
Stengel  entwickeln.  Darin  liegt  aber  doch  nicht  der  Kern  der  Sache. 
Dieser  ist  vielmehr  in  dem  Umstände  zu  suchen,  dass  das  Blatt  seine 
selbständige  Existenz,  wie  sie  ihm  in  der  Natur  eigen  ist,  in  der  Dekora- 
tion verliert.  Das  Blatt  zweigt  nicht  mehr  von  der  Pauke  ab,  son- 
dern es  durchsetzt  die  Ranke,  verwächst  mit  derselben.  An 
<len  byzantinischen  Ornamenten  von  St.  Johannes  und  der  Hagia  Sophia 
ist  dieses  Verhältniss  noch  nicht  so  deutlich  ausgesprägt,  Aveil  die  ein- 
zelnen Theilglieder  des  ursprünglichen  Akanthushalbblatts  der  Reihe 
nach  scheinbar  selbständig  von  einer  Ranke  abzweigen.  Insofern  er- 
scheint der  Process  an  den  beiden  gegebenen  Beispielen  erst  auf  linllieni 
"Wege  angelangt.  Das  in  der  Arabeske  ausgeprägte  Schlussresultat,  die 
Ranken  von  den  Spitzenden  der  unfreien  Blätter  Aviederum  weitei- 
laufen  zu  lassen,  findet  sich  an  den  byzantinischen  Beis])ielen  noch 
nicht  \rillig  unzweideutig  zum  Ans(li-iicl<  gebracht.  Dennoch  ist  es 
—  wie  wir  später  sehen  werden  -  für  die  fi'iihere  bv-zaiiiinische  Kunst 
schon  über  alle  Zweifel  hinaus  nachzuweisen. 

Wenden  wir  uns  nochmals  zurück  zur  iieirac  lituug  mmi  l'ig.  IFJ, 
wo  uns  nocli  zwei  ( »rnamentstreifeu  des  Kapii;il>  zu  bes|irecheu  lileil»eii. 
Der  eine  zieiit  sieh  zwischen  den  zwei  lo-r.iieuden  \'(iluteii  des  Kapitals 
hin  und  zeigt  eine  iut<Tniitiii-ende  Welieiii'.nike  in  ilii'etn  nackten 
Sclicma.  Hier  bemerken  wir  keine  Spur  xon  n.itur.disl  isclien  Bildungen: 
eine  blosse  glatte  Welleidinie  schlängelt  sich  mui  i'.lütlie  zu  i'.lütlie. 
Diese  letzteren  zeigen  den  N'olutenkelcii  «lei-  Ihiehen  l'.ihiietie  in  einer 
Reducirung,   wie  sie  das  oben  erörterte  DreiliKitt   in   l-'ig.   11.".  aufweist. 


1.    Das  PHanzenraiikenorn.aiiieiit  in  der  byzantinischen  Kunst.         283 

Aus  diesem  Kelch  erhebt  sieh  eine  dreil)lättrig'e  BlUtlienkrone,  zunächst 
stehend  dem  dreihhättrigen  Lotusprofil.  Es  kann  kein  Zweifel  sein:  es 
ist  die  alte  gTiechisehe  intermittirende  Wellenranke,  deren  Palmetten 
allerdings  beeinflusst  erscheinen  von  jener  Blattbildung-,  die  sich  in- 
ZAvischen  am  Akanthus  infolge  der  Auflösung  seiner  individuellen  Selbst- 
ständigkeit vollzogen  hat. 

Der  Ornamentstreifen  endlich,  der  die  Deckplatte  ziert,  zeigt  eine 
fortlaufende  Wellenranke ,  aber  nach  dem  alten  griechischen  Schema : 
bloss  die  abzweigenden  Blätter  zeigen  eine  Stilisirung,  die  gerade  so 
viel  vom  Palmettenhabitus  noch  beibehalten  hat,  um  die  Abkunft  von 
diesem  letzteren  zu  erAveisen.  In  der  Mitte  ist  dieser  Streifen  unter- 
brochen von  einer  ausladenden  Bosse,  die  mit  einer  Lotusl)lüthen-Pal- 
mettenreihe  verziert  ist.  Die  Lotusblüthen  zeigen  die  gleiche  Stilisirung 
wie  die  vorbesprochenen  der  intermittirenden  Wellenranke  zwischen  den 
Voluten  des  Kapitals,  nnd  die  Palmetten  verrathen  an  den  Voluten 
gleichfalls  die  deutliche  Beeinflussung  des  mit  dem  byzantinischen 
Akanthusornament  stattgehabten  Auflösuugsprocesses. 

Was  an  Fig.  142  und  144  die  darin  enthaltene  Veränderung  gegen- 
über dem  klassisch -antiken  Eankenornament  für  den  oberflächlichen 
Blick  so  schwer  erkennbar  macht,  ist  der  Umstand,  dass  die  Kurven, 
in  welchen  sich  die  Eankenlinicn  bewegen,  nichts  Auffälliges  gegen- 
ül»er  der  griechischen  Weise  zeigen.  Es  ist  die  Bewegung  der  uns 
■wohlvertrauten  fortlaufenden  Wellenranke,  die  uns  da  entgegentritt. 
In  der  That  hat  die  klassisch-antike  Rankenornamentik  im  Allgemeinen 
bis  an  ihr  äusserstes  Ende  niemals  verläugnet,  dass  sie  ursprünglich 
aus  der  Spiralornamentik  hervorgegangen  ist:  sell)st  als  das  ausgebil- 
dete Akanthushalbl)latt  jede  Erinnerung  an  die  ehemalige  fast  rein 
geometrische  Bedeutung  der  blossen  Zwickelfüllung  vollständig  ver- 
wischt hatte,  wurde  der  rollende  Schwung  der  Ranken  immer  noch  aus 
dem  Kreise  heraus  konstruirt. 

Betrachten  wir  dagegen  Fig.  145 2^),  die  gleichfalls  von  einer  Arkade 
der  Hagia-Sophia  entlehnt  ist.  Fassen  wir  zuerst  das  Ornament  der  Bogen- 
leibung  oben  in's  Auge.  Die  Ranken  laufen  hier  nicht  mehr  zu  runden, 
sondern  zu  spitz  ovalen  Konfigurationen  zusammen.  Dieser  Punkt  ist 
■ein  besonders  entscheidender  für  den  Werdeprocess  einer,  neuen  Im- 
jDulsen  folgenden  Dekorationskunst  im  Osten  des  ]\Iittelmeers.  Die  Ver- 
änderung im  Verhältniss  zwischen  Ranke  und  Blatt,  die  wir  an  Fig.  144 


'-'*)  Salzenbei-g-  XV.  7. 


284 


Die  Arabeske. 


vollzogen  sehen  und  die  schon  Owen  .Lmes  nls  so  bedeutungsvoll  er- 
kannt hatte,  ist,  wenigstens  soweit  als  die  Byzantiner  in  der  Zeit 
Justinians  darin  gegangen  sind,  auch  von  den  abendländischen  Künsten 
übernommen  worden.  Dagegen  liabcn  diese  letzteren  allezeit  an  dem 
mehr  oder  minder  kreisförmigen  Schwung  der  Kanke  festgehalten, 
während  wir  gemäss  Fig.  145  schon  an  der  Hagia-Sophia  die  erwaduMide 
Neigung  für  spitzovale  Kankentuhrung  beobacliten  können--^). 


Fig.  14.5. 
Kaiiitiil  und  Stück  einer  liogcnli'ibung,  xmi  dei-  Snpliicnkirclic  /.ii  Konstaiitinopel. 

Hinsichtlich  der  Einzelmotivc  von  i""ig.  1  IT»  ist  hiii/.iiwi'iscn  ,iiif 
die  gekrümmten  Halliiuilnietten,  die  das  vorhcnx'hciidi'  Mhiiiciii  i\rv 
l»lattdekoration  l^ihh'u  iind  überaus  bemerkenswert  In  r  M.i.isx'u  in  sym- 
metrischer Paarung  zu  gf  sprengt  en  Vol  1  p.i  hiid  t  c  ii  /.  iis  ,i  ni  incii - 
treten.  Die  HalV)paliiietteii,  die  eine  solche  \'( ill]i,iliiietie  znsjiiiimeii.selzeii 
L'elien   aber  nicht   von   einer   und   dersellien    K';nil<e,   sondeni    von    ver- 


-■•';  Auch    Inet'ür   dürfte  d.is  Studium    |i(iiiiiM'i;iiiisclicr    Dckm-.'itloiien   eine 
ganze  Anzahl  spielender  Vorläufer  liefein. 


1.    Das  Pflaiizenrankenoniament  in  der  byzantinischen  Kunst.        285 

seliiedeneii  Stengeln  aus.  Ancli  dies  entspriclit  nicht  dem  Vorgänge 
in  der  Natur,  avo  jede  Blütlie  ihren  eigenen  einzigen  Stengel  besitzt. 
Wir  haben  somit  einen  neuerliehen  antinaturalistischen  Zug  zu  ver- 
zeichnen, der  für  die  Arabeske  geradezu  charakteristisch  geworden 
ist.  Betrachten  wir  doch  daraufhin  noch  einmal  Fig.  139.  Links  sehen 
wir  die  Gabelranken  wiederholt  zu  kielbogenartigen  Kontigurationen 
zusammentreten,  Avie  es  eben  der  BcAvegung  der  beiden  Hälften  einer 
gesprengten  Palmette  entspricht.  Noch  deutlicher  prägt  sich  dies  in 
der  Ecklösung  rechts  unten  in  Fig.  139  aus.  Hier  laufen  die  Gabel- 
ranken von  ZAvei  verschiedenen  Seiten  her  zusammen  und  bilden  einen 
Kielbogen,  an  den  sich  erst  noch  ein  Dreiblatt  als  freie  Endigung  an- 
schliesst.  Haben  Avir  es  nun  auch  an  Fig.  145  noch  nicht  mit  Gabel- 
ranken zu  thun,  Aveil  die  Schematisirung  der  A^egetabilischen  Einzel- 
niotive  im  (>.  Jahrh.  noch  nicht  entsprechend  fortgeschritten  gCAvesen 
ist,  so  ist  doch  die  Neigung,  zwei  selbständige  HalbmotiA^e  zu  einem 
Vollmotiv  unter  einem  geschAveiften  Winkel  zusammen  treten  zu  lassen, 
bereits  uuA'erkennbar.  Den  Anknüj)fungspunkt  an  das  Frühere,  Helle- 
nistisch-römische, bietet  hinsichtlich  der  gescliAveiften  BerührungSAvinkel 
die  gesprengte  Palmette,  ferner  pompejanische  Beispiele  gleich  Fig.  152, 
hinsichtlich  des  Zusammenlaufens  der  (kelchbildenden)  Rankenstengel 
A^on  verschiedenen  Seiten  her  schüchterne  Vorläufer  gleich  der  oberen 
centralen  und  den  seitlichen  umschriebenen  Palmetten  in  Fig.  125. 

Der  Volutenkelch  der  Halbpalmetten  in  Fig.  145  ist  Aviederum  auf 
einen  fleischigen  Blattkelch  reducirt;  hiebei  ist  überaus  bezeichnend 
für  die  folgende  EntAvicklung  der  Umstand,  dass  die  Kelchbildung  im 
Stein  durch  eine  runde  Vertiefung  mittels  des  Bohrers  erfolgt  ist:  ein 
technischer  Process,  den  sich  späterhin  auch  die  Saracenen  angeeignet 
haben. 

Das  unter  der  beschriebenen  Bogenleibung  betindliche  Kapital 
zeigt  in  der  Mitte  kreisrunde  Einrollungen  A'on  Ranken,  an  die  sich 
seitAvärts  lange  geschAvungene  Halbpalmetten  des  gesprengten  Typus, 
innen  in  den  Einrollungen  Ableger  des  Akanthusblattes  ähnlich  Fig.  143 
ansetzen.  Die  in  einander  verschlungenen  Kreise  als  Flächenmuster, 
grosse  mit  kleinen  alternirend,  kennen  Avir  aus  der  römisch -altchrist- 
lichen Kunst,  AVO  sie  in  die  Ornamentklasse  der  BandA'crschlingungen 
einzureihen  sind.  Dass  die  Byzantiner  dieses  Ornament  mit  besonderer 
Vorliebe  gepflegt  haben,  Avurde  schon  erAVähnt  (S.  268).  Die  Fortbil- 
dung, die  die  Saracenen  daran  geknüpft  haben,  hatte  zur  Voraussetzung 
eine  freiere  Benutzung  der  Bänder.     SoAvie  in  der  Rankenführung  sind 


286 


Die  Aralioske. 


die  RöniLT  auch  in  der  Bänderführuiig  im  Wesoiitlieheu  bei  der 
Kreisform  stehen  geblieben:  die  Saracenen  haben  dagegen  ihre  Bänder 
skrupellos  gebrochen  und  geknickt.  So  wie  Fig.  145  lehrt,  dass  die 
Byzantiner  in  Bezug  auf  die  Emaneipation  der  Rankenführung  von 
der  Kreisform  die  unmittelbaren  Vorläufer  der  Saracenen  gewesen  sind, 
so  ergiebt  sich  aus  den  Verzierungen  des  Kapitals  Fig.  140-''),  dass 
auch  der  Uebergang  s'on  der  kreisförmigen  zur  geknickten 
Bandverschlingung  sieh  bereits  im  vorsaracen  ise  Ikmi  Byzanz 
vollzogen  hat. 

Zur    weiteren    Bekräftigung    des    Gesagten    mögen    nocli    einige 
Details  folgen,  die  den  latenten  saracenischen  Zug  in  der  In'zantinischen 


....... 


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Fig.  14G. 
Kaiiitiil  mit  GebälkstUck,  von  der  Sopliieiikirche  zu  Konstantinnpcl. 


Kunst  der  .Justinianischen  Zeit  des  Weiteren  zu  (lenionstriren  geeignet 
sind.  Fig.  147  von  St.  Sergius  und  Bacchus'-')  gielit  ein  Beispiel  für  die 
P'reiheit,  mit  der  man  in  der  \"erwendung  der  vom  Akanthusblatt  los- 
gelösten Theilglieder  verfulir.  "Wir  gewaliren  da  ein  reducirtcs  Akanthus- 
halbltlatt,  das  in  dem  uns  nunmehr  A\ijlil\ci-ti'autcn  Kelch  aus  zwei  Spirz- 
blättern  steckt.  Demselben  ;^[otiv  in  hippig-akanthisirender  Ausfühnmu- 
begegnet  man  später  in  der  saracenischen  Kunst  überaus  liäufig. 

Fig.  148-^)  zeigt  eine  Art  von  l'almettenstilisirung,  die  der  byzan- 
tinischen Avie  d<  r  früh  saracenischen  Kunst  gleich  geläufig  gCAvesen 
ist.     Man  vergjeiciie  damit  <len   ponipejanisclieii  Verläufer  dieses  ^Intivs 


'*)  Salzenberg-  X\II.    I,  von  der  Hagia  Sophia. 

'^)  Saizenberg  V.  ^. 

*^)  Salzenherg  V.  7,  von  San  Scrg-iuH  und  liacchus. 


1.    Das  Püaiizenrankenoniaineiit  in  der  bvzautinischeu  Kunst. 


28: 


Vig.  149--').  Fig.  150^")  zeigt  die  Verschlingung  zweier  Dreiblätter  mit 
den  Stielen,  und  die  Avechselseitige  Durcliselmeidung  der  zwei 
henaehbarten  Blätter  mit  ihren  Enden:  ein  Motiv,  das  in  der 
spielenden  Behandlung  der  doch  noch  als  vegetabilisch  gelten  sollenden 
Elemente  geradezu  saracenisch  genannt  werden  könnte. 

Fig.  151'^')    endlich    zeigt    die    geschnitzte  Verzierung  von  einem 
hölzernen    Spannbalken    der   Hagia  -  Sophia.     In   dem  äusseren  Kreise 


Fig.  147. 


Fig.  US.  Fig.  ULt.  Fig.  150. 

Fig.  147,  148,  150,  153  Ijyz.antinisch.     Fig.  149  pompej.anisch. 


links  gewahren  wir  unten  zwei  divergirende  unfreie  Halbpalmetten, 
deren  Scheitelenden  zugleich  als  Stengel  für  zwei  daraus  entspriessende 
Halbpalmetten  der  gleichen  Art  dienen:  also  das  fertige  Princip  der 
Arabeske  ohne  alle  Maskirung.  Allerdings  gehen  diese  geschnitzten 
Verzierungen  nicht  in  die  Zeit  Justinians  zurück:  die  Behandlung  der 
Details  ist  nicht  mehr  so  scharf  und  eckig,  sondern  vielmehr  Hüssig 
und  geradezu  geometrisch  korrekt.     Dass  al)er  diese  Ornamente,    die 


Fig.  151. 
Verzierungeil  von  einem  l)eckenbalken  der  Sophieukircüc  zu  Konstantiiiopel. 


man  ohne  Weiteres  als  saracenische  Arbeit  des  11.  — 12.  Jalirh.  be- 
zeichnen könnte,  noch  zur  Zeit  der  christlich -griechischen  Herrschaft 
in  Konsttintinopel  gefertigt  worden  sind,  beweisen  die  Kreuze,  die  sich 
an  anderen  Balken  genau  der  gleichen  Art ^2)  vorfinden.     Xoch  immer 


^^)  Nicolini  Pantheon  IL 

^°)  Salzenberg-  XVII.  4,  von  der  Hagia  Sophia. 

3')  Salzenberg  XX.  14. 

2-)  Salzenberg  XX.  12. 


288  I^i'^'  Arabeskt'. 

liliebf  da  die  AniiabiiK-  möglich,  das^s  diese  Schnitzereien  entweder  un- 
mittelbar von  Saracenen  im  Dienste  der  Byzantiner  gefertigt,  oder  doeli 
unter  dem  bestimmenden  Einflüsse  einer  bereits  erstarkten  saraeeni- 
sehen  Kunst  entstanden  Avären:  aber  gerade  im  Hinblick  auf  alles  das 
vorhin  Gesagte  werden  Mir  keine  Xotlnvendigkeit  empfinden,  fremde 
Einflüsse  für  die  Stilisirting  in  Fig.  151  verantwortlich  zu  machen. 
Der  eigenthümliche  Eindruck  wird  Ja  voj-nelnnlich  liervoi'gebracht: 
erstens  durch  die  rund  herausgebohrten  Löclier  für  die  Blattkelche, 
zweitens  durch  ilas  ausgeschweifte  HlattMerk.  Das  eine  wie  (bis  andere 
haben  Avir  bereits  an  den  skuli)ii-ten  Dekorationen  der  Justinianisclien 
Zeit  festgestellt.  Und  ^vie  die  Neigung  zu  gesehweiften  Spitzbogen- 
fornien  selbst  schon  in  der  griechischen  Kunst  latent  gewesen  ist,  wie 
sie   l)loss  eines  Anstosses  zu  schematisirender  Bildung  bedurft  liat,   um 


l-ig.  10:;. 
Ornamente  von  iiunipejanischeii  WauUmaUTeicn. 

als  maassgebendes  Fornielement  ins  Lelieii  zu  treten,  dafür  cilire  ich 
nach  all  dem  über  die  gesprengte  Palmette,  die  auswärts  gesclnveiften 
Spitzenden  der  Akanthushalbblätter  u.  s.  w.  Gesagten  noch  die  ilrei 
nebenstehenden  Details  aus  Pompeji  (Fig.  152)''^). 

Für  das  Aufgehen  des  Blattes  in  der  Kanke,  wotür  wir  soel>en 
ein  vollendetes  Beispiel  im  äusseren  Kreise  links  von  Fig.  l.'il  kennen 
gelernt  haben,  sind  übrigens  zweifellose  Repräsentanten  auch  aus  früh- 
byzantinischer  Zeit,  von  der  llagia- Sophia,  nachzuwi-isen.  Fig.  iriß^*! 
zeigt  drei  Akanthushalbblätter  rankenartig  in  einandei-  ül)ergeliend. 
Fig.  154  und  155  sind  von  der  musivischen  Dekoration  entlehnt.  Frstere 
zeigt  eine  kapitälarlige  Zusammenstellung  von  zwei  Halbpalnieiten  (h's 
gesprengten  Typus:  der  .spiralig  eingei'ollte  ^'olntenkelcll  und  ilie 
feinen  geschweiften  Einzelblätter  lassen  keinen  Zweifel  iiltrig.  Die 
äussere  Blattrippe  aber  schwingt  sich  rankenartig  nach  abwärts  um 
und    dieni    ;ds   Stiel    einer  Palniette.     Aehnlich   sehen   wir  an    l'Mg.  155 

**;  Nicolini,  Dcscrizione  g-cuerale  00. 
"*)  Salzcnberg  XVII.  13. 


1.    Das  PÜanzenvaiikeiiornaiiient  in  der  byzantinischen  Kunst.        2(S9 

von  den  Füllhörnern  einer  nach  bekannten  ivJmischen  Mustern  ent- 
Avorfenen  Borde  Ranken  ausgehen,  die  sich  gabeln  und  in  symmetrischer 
Paarung  in  ähnlicher  Weise  zu  gesprengten  Vollpalmetten  zusammen- 
treten, Avie  Avir  es  an  Fig.  145  beobachtet  haben.  Der  andere  Arm  der 
Gabelranke  aber  dient  im  weiteren  Laufe  als  Stiel  für  eine  Knospe 
oder  ein  fächerähnliches  Blatt.  Unter  je  zwei  Füllhörnern  befindet 
sich  eine  Palmette,  die  von  zwei  blattartig  behandelten  Ranken  ge- 
tragen wird,  worin  sich  das  gleiche  Princip  des  Aufgehens  der  Selb- 
ständigkeit des  Blattes  in  der  Rauke  auszudrücken  scheint. 

Der  antinaturalistische  Zug,  der  in  den  geschilderten  maassgeben- 
den  Leitgrundsätzen  des  byzantinischen  Kunstschaffens  seinen  unver- 
kennbaren Ausdruck  fand,  war  gewiss  das  Resultat  tiefgreifender  Kultur- 
vorgänge, worüber  Einiges  bereits  andeutungsweise  vorgebracht  worden 


Fig.  154.  Fig.  155. 

Von  der  Mosaikverzierung  der  Sophicnkirche  in  Konstantinopel. 

ist.  Aber  es  musste  dem  bezüglichen  ornamentgeschichtlichen  Processe 
gerade  auf  dem  Boden  des  byzantinischen  Reiches  ein  ganz  besonders 
günstiger  Umstand  zu  Statten  gekommen  sein,  der  eine  so  rasche  Ent- 
wicklung schon  in  frühbyzantinischer  Zeit,  wovon  wir  oben  so  viele 
Zeugnisse  kennen  gelernt  haben,  ganz  wesentlich  begünstigt  haben 
mochte.  Diesen  Umstand  bin  ich  geneigt  darin  zu  erblicken,  dass  die 
Kunst  im  Osten  des  i\Iittelmeerbeckens  auch  während  der  römischen 
Kaiserzeit  vielfach  an  den  strengeren  Typen  der  hellenischen  Ranken- 
ornamentik festgehalten  zu  haben  scheint.  Wie  wäre  es  sonst  möglich, 
dass  gerade  die  blattlose,  sozusagen  abstrakte,  intermittirende  Wellen- 
ranke, sowie  die  gesprengte  Palmette  eine  so  vorwiegende  Stellung  in  der 
frühbyzantinischen  Ornamentik  eingenommen  haben.  Noch  im  12.  Jahrh. 
begegnen  uns  hievon  in  Konstantinopel  so  typische  Beispiele,  Avie 
Fig.  15(3  von  der  Pantokratorkirche  (nach  Pulgher  X.  4).  Vgl.  u.  a. 
die  Deckplatte  des  Kapitals  aus  St.  Sophia  zu  Saloniki,  bei  Texier 
und  PoplcAA^ell,  Architekt,  byzant.  Taf.  39,  links  mit  den  liegenden 
S-Spiralen  und  in  die  ZAvickelkelche  eingesetzten  Lotusblüthen,  ganz 

Riegl,  StiU'ragen.  1" 


290  I^'^'  Arabeske. 

nach  dem  altgriechischen  Schema,  luir  mit  byzantinischer  Blattstilisi- 
rimg:  am  Halse  des  Kapitals  eine  nicht  minder  charakteristische 
intermittirende  Wellenranke.  Und  in  der  That  lehren  die  -wenigen 
römischen  Denkmäler  auf  asiatischem  Boden ,  die  man  bisher  einer 
sorgtaltigeren  Publikation  für  Avürdig  befunden  hat •■■■),  dass  die  inter- 
mittirende Wellenranke  unter  reichlicher  Hinzuziehung  der  flachen 
Palmettenmotive  daselbst  allezeit  eine  sehr  maassgebende  Rolle  ge- 
spielt hat.  Dieser  Wechselbezug  zwischen  byzantinischer  und  helle- 
nischer Weise  ist  auch  Salzenberg  bereits  aufgefallen,  der  allerdings 
Avieder  über's  Ziel  geschossen  hat,  indem  er  kurzweg  gesagt  hat:  „Das 
(byzantinische)  Blattornament  zeigt  nicht  die  römische  Behandlungsweise, 
sondern  mehr  die  hellenische^'^)". 


Fij,'.  15G. 
GesimsstUck  von  iler  Paiitokrator-Kirclic  zu   Konstantiuoijel. 

Dieser  Punkt  ist  wichtig  nicht  bloss  für  die  Herausbildung  der 
Ornamentik  drr  .lustinianischen  Zeit,  sondern  aueli  für  die  spätere  Ent- 
wicklung. Es  muss  im  Orient  allezeit  ein  —  sei  es  lokales,  sei  es  an 
gewissen  Techniken  haftendes  —  Beharren  an  älteren  Weisen,  insbe- 
sondere an  der  Flachstilisirung  in  althellenischem  Charakter,  gegeben 
haben.  Nur  so  ist  es  zu  erklären,  dass  uns  —  wie  wir  sehen  werden  — 
noch  an  Kunstwerken  des  V2. — 14.  .lahrli.  fast  rein  griechische  Panken- 
verzierungen  begegnen. 

Ferner  ist  die  Behandlung  des  Akantluis,  die  wir  .in  den  Justinia- 
nischen Steinskulpturen  vollzogen  sahen,  nicht  die  alleini,::c  nml  aus- 
schliessliche im  frülibyzantinischen  ]\eiche  gewesen.  Aneli  d«  r  weiche 
lappige  Ak;intliu>  hat  daneben  —  M'ofür  uns  allerdings  Iiauptsäelilicli 
die  nachfolgende  Entw  ieklung  zum  Zeugniss  dienen  muss  —  fortdauernd 
Verwendung  gefunden.    Auf  diese  Unterschiede  werden  gewiss  Material 

^'•')  Wie   /..  13.    die   aoiii  traten   l>aiicUnr(>iiski    i)ul>iioii-tcn   I»ciikniäli'r  aus 
I'aiiipliylicn  und  Pisidien. 
■'V  A.  a.  0.  V.K 


1.    Das  Pfiaiizeiiraukeuoniameiit  in  der  bvzaiitiiiischeu  Kunst. 


291 


und  Technik  von  sehr  Avesentlichem  EinÜusse  gewesen  sein:  so  wird 
die  Malerei  natnrg'emäss  die  lappige  Blattbildung  bevorzugen,  während 
die  Steinskulptur  der  scharfkantigen  zuneigt.  Aber  auch  lokale  Unter- 
schiede werden  obgewaltet  haben  —  Unterschiede,  die  zwar  innerhalb 
der  kanonischen  römischen  Universalkunst  keine  Avesentliche  Bedeutung' 
gewinnen  konnten,  aber  zur  Zeit,  da  neue  Impulse  auftraten,  neue 
Dekorationsweisen  in  Fluss  kamen,  sehr  wohl  zu  einer  maassgebenderen 
Stellung  gelangen  konnten.  Wir  wollen  daher,  bevor  wir  an  die  Erörte- 
rung zweifellos  saracenischer  Denkmäler  schreiten,  noch  raschen 
Schrittes  die  Provinzen  des  oströmischen  Reiches  durcheilen,  um  zu 
sehen,  welche  Fortsetzungen  sich  daselbst  an  die  spätantike  Universal- 
kunsr  geknüpft  haben. 


Fig.  157. 
Gesimsstück  aus  El-Uarah  in  Syrien. 


Verhältnissmässig  am  meisten  Kenntniss  ist  uns  von  der  spätantik- 
frühmittelalterlichen  Kunst  in  Syrien  geworden.  Die  Aufnahmen,  die 
der  Graf  de  Vogüe  von  den  centralsyrischen  Städteruinen  gemaclit  hat, 
würden  genügen,  uns  ein  geschlossenes  Charakterbild  der  syrischen 
Ornamentik  jener  Zeit  zu  entwerfen,  soweit  dieselbe  in  der  Architektur 
Ausdruck  gefunden  hat.  Wir  werden  uns  im  Folgenden  bloss  auf  das 
Pflanzenrankenornament  beschränken. 

Fig.  157  ist  die  Reproduktion  eines  Frieses  von  der  grossen  Pyra- 
mide von  El-Barah^'),  die  von  de  Vogüe  in  das  5.  Jahrh.  datirt  wird. 
Die  fortlaufende  Akanthusranke,  die  diesen  Fries  ziert,  bringt  uns  so- 
fort ein  ähnliches  Denkmal  in  Erinnerung,  den  Architrav  von  St.  Johannes 
zu  Konstantinopel,  Fig.  14-2.  Vergleichen  Avir  beide  nebeneinander,  so 
gelangen  wir  zu  dem  überraschenden,  aber  unabweisbaren  Ergebniss, 
dass  das  syrische  Beispiel  die  Vorstufe  des  konstantinopolitanischen 
bildet.  Gerade  das,  Avas  Avir  an  Fig.  14-2  A^ermisst  haben,  und  Avas  uns 
darum  von  A^ornherein  zögern  hat  lassen,  darin  eine  fortlaufende  Akan- 


■")  De  Vogüe,  Syrie  centrale  Taf.  TG. 


19* 


292  r)i^  Arabeske. 

tlmsranke  zu  erblicken  —  selbständig'  abzAveigende  Schösslinge  in 
einer  der  KankenbeAveg'uiig  entgegengesetzten  Riclitung  —  das  lindet 
sicli  am  Friese  von  £1-Barah  deutlich  beibehalten.  Und  auch  das 
alte  klassische  Akanthusblatt  ist  nocli  klar  zu  erkennen.  Wenn  auch 
die  verbindenden  Rankenstengel  schon  unterdrückt  sind,  gleichsam  ehie 
Blattrippe  Avellenförmig  weiterläuft,  so  sind  doch  die  an  der  Peripherie 
ausladenden  Zacken  noch  subordinirte  Bestandtheile  eines  untivieu 
Akanthushalbblatts,  und  noch  nicht  selbständige  dreispaltige  bis  vicr- 
spältige  Individuen  wie  zu  Konstantinopel.  Es  leidet  aber  keinen 
Zweifel:  der  syrische  Fries  ist  der  Ausgangspunkt,  aus  dem  sich  mit 
dem  nächsten  Schritte  der  Fries  von  St.  Johannes  ergeben  wird.  Die 
Stengel  sind  bereits  unterdrückt,  die  Schösslinge  sind  abgegabelte 
Akanthusblätter,  und  —  was  das  Wichtigste  ist  --  die  Hau})trii)pe  dieser 
abzweigenden  Blätter  setzt  sich  ^  om  Ende  des  Blattes  hinweg  weiter 
fort  in  einem  Stiele,  der  schliesslich  eine  zur  eckigen  Palmette  stilisirte 
Blume  als  freie  Endigung  trägt.  Wir  haben  es  also  bereits  mit  einer 
ausgesprochenen  Gabelranke  zu  thun,  an  die  sich  weitere  gestielte 
Blüthenmotive  schliessen. 

Die  Bedeutung,  die  diesem  syrischen  Beispiele  inneAvohnt,  beruht 
hauptsächlich  darin,  dass  uns  damit  laut  und  eindringlich  gesagt  wird, 
wie  diese  ganze  Bewegung  auf  dem  Gebiete  des  ornamentalen 
Kunstschaffens  keineswegs  als  eine  lokal-byzantiniscli»-  auf- 
gefasst  werden  darf,  die  von  Konstantinopel  ausgegangen  wäre  und 
ihren  Weg  in  die  Provinzen  des  Reiches  gefunden  hätte.  Die  Keime 
waren  vielmehr  überall  vorhanden,  weil  sie  eben  mit  der  griechisch- 
römischen  Universalkunst  überall  hin  verstreut  worden  Avaren ;  auch  die 
Kulturlage,  sowie  die  treibenden  Kräfte  nach  Veränderung  und  Fort- 
bildung sind  im  ganzen  Reiche  die  gleichen  gewesen.  Ferner  beweist 
die  vortrefllichc  iiüssige  Bildung  des  Frieses  von  El-Barah  —  falls  der 
Zeichner  sich  nicht  AVillkürlichkeiten  erlaubt  hat  —  gegenüber  der 
steifen,  kriechenden  an  der  konstantinopler  Johanneskirche,  dass  man 
in  Dingen  der  dekorativen  Skiilpiiir  im  .">.  .I,i!ii-h.  in  Syi'ien  gegen 
l-Jyzanz  mindestens  nicht  im  Rückstande  gewesen  ist.  üelH-igens  stellt 
d;is  Beisi>iel  in  Syrien  niclit  vereinzelt  da.  Einmal  zeigt  Taf.  1.1  bei 
de  Vogüe  eine  älinliclie  Behaiidlimg  der  (nrtlautriKlcn  Akaiitlmsraiike. 
Ferner  sind  die  Thürliogen  an  der  bei  de  Vogüe,  Temple  de  Jerusalem 
Taf.  V  aljgebildeten  Porte  double  sowie  an  der  goldenen  Pforte  mit 
einer  fortlaufenden  Akanthusranke  geschmückt,  die  geradezu  als  engeres 
Zwischenglied  zwischen El-Barali  luidSi.  Johannes  bezeiclmct  werden  ilarl". 


1.    Das  PHanzeinaukeiioniameiit  in  der  byzantinisclieii  Kunst.        293 

Polyg'onbildung'  mit  ühersclineicleiiden  Ranken  und  füllenden  Blät- 
tern und  Blüthen,  und  damit  eine  Zwischenstufe  zu  einem  specifisch 
saracenischen  Dekorationssehema,  treffen  wir  an  syrischen  Bauten 
Aviederholt,  so  z.  B.  auf  Taf.  43  bei  de  Vogüe.  Anderseits  finden  sich 
auch  wieder  frappante  Parallelen  mit  altgriechischen  Rankenbildungcn, 
wie  Fig.  158^^),  womit  die  fortlaufende  Wellenranke  Fig.  96  aus  dem 
5.  Jalirh.  v.  Ch.  zu  vergleichen  ist. 


Fig.  lös. 
l'ricsstreifen  aus  Kalb  Luzeh  in  Syrien. 


Von  Spätantiker  Kunst  auf  egyptischem  Boden  hat  man  vor  etwa 
zehn  Jahren  so  gut  wie  Nichts  gewusst.  Heute  verfügen  wir,  wenigstens 
Avas  die  Ornamentik  betrifff,  von  dorther  über  ein  reicheres  ^Material  als 
von  irgend  einem  anderen  Kunstlioden  jener  Zeit.  Wir  danken  dies  erst- 
lich einmal  den  textilen  Gräberftmden  aus  Sakkarah,  Akhmim,  Faj'um 
u.  s.  w.,  dann  den  Denkmälern  koptischer  Skulptur,  die  in  das  Museum 
von  Bulak  gerettet  worden  sind  und  zum  grossen  Tlieile  im  3.  Hefte 
des  3.  Bandes  der  Memoires  publies  par  les  membres  de  la  mission  archeologique 
frcmraise  au  Caire,  von  AI.  Gay  et  unter  dem  Titel:  Les  monuments  coptes 
du  muste  de  Bonlaq  ihre  VeröflTentlichung  gefunden  haben. 

Das  hiemit  gebotene,  Avider  f^rwarten  reiche  Material  hat  nun  aller- 
dings schon  mehrseitige  Bearbeitung  erfahren.  Einen  Theil  der  Textil- 
funde  —  die  ersten  nach  Europa  gelangten  dieser  Art,  die  vom  k.  k.  öster- 
reichischen Museum  in  Wien  erworlien  Avorden  sind  —  hat  J.  Kara- 
bacek  hauptsächlich  auf  die  daran  ztt  beobachtenden  Zusammenhänge 
mit  der  persisch-sassanidischen  und  der  späteren  saracenischen  Kunst 
itntersticht^^).  Das  rein  Ornamentale  an  jenen  Funden  in  seinen  Be- 
ziehungen zur  späten  Antike  Avenigstens  in  grossen  allgemeinen  Zügen 
klar  zu  stellen,  hat  Verfcisser  in  dem  \"on  der  Direktion  des  k.  k.  österreichi- 
schen Museums  herausgegebenen  Kataloge  der  betreftenden  Collektion'*") 


•^^)  De  Yog'ile,  Syrie  centrale  Taf.  121),  von  Kalb-Lvizeh. 
•^')  Katalog-  der  Th.  Graf  sehen  Fiinde  in  Egypten,  Wien  1883. 
■*°)  Die    egyptischen    Textilfiinde     im     k.    k.     österreichischen    Museum, 
Wien  1889. 


294 


Die  Arabeske. 


nnteruommcn.  "Was  hingeg-en  die  koptisehen  Skulpturen  lietrifft,  :^o  liat 
nächst  Gayet  G.  Ebers^')  sich  darüber  eingehender  verbreitet.  Auch 
dieser  Autor  hat  den  engen  Zusaninienliang  dieser  Denkmäler  mit  den 
spätrömisch-byzantinischen  zu  (Umsten  einer  vermeintlichen  Renaissance 
national-egyptischer  Kunst  Avcit  unterschätzt,  Avas  icli  in  einem  Autsatze 
über  Koptische  Kunst  in  der  ßi/zantinischen  Zeitschrift*'-';^  im  Einzelnen  nach- 
zuweisen versucht  habe.  Trotz  dieser  verschiedenen  Anläufe  steht  eine 
zusammentassende  Bearbeitung,  die  ge.Aviss  ein  höchst  bedeutsames  Re- 
sultat ergeben  dürfte,  noeli  aus:  wir  aVx'r  werden  uns  im  Nachstehenden 


i&^ 


m 


^^^*>^w 


l'rairmciit  vom  Giebpl  oines  Sarkophag-Deckels.     Kgyiitisch-spätrömiscli. 


beschränken  müssen  auf  die  l-".rörterung  derjenigen  Denkmäler,  die  uns 
über  die  Entwicklung  der  Rankenornamentik  im  frühmittelalterliclien 
Egypten  Aufschluss  zu  gewäliren  geeignet  sind. 

Das  weitaus  bedeutsamste  darunter  giebt  Fig.  15!)-''')  wieder.  Es 
ist  dies  das  Fragment  eines  skulpirten  Giebels  aus  Stein.  Reciit>  >in(l 
zwei  Blätter  vom  gesprengten  Palmettenfächer  eines  Eckakroleri(.)ns 
sichtbar,   darülier  Tlieih-  vom  ^'order]eib  eines  'I'liiei-es.     Die  Mitte  des 

*')  In  einer  .Studie:  SiniihiMliclies.  die  Iceiitische  Kinist  u.  s.  w.  Lei]»zii:' 
bV.fJ. 

*-')  P'.ben  CDezember  ISOJ)  im   Drnclse  lietiniilich. 

*-''l  fiayet  a.  a.  0.  Taf.  G;  veu  ilnii  uinl  l'.)iei<  für  Uy/.üntinisclie  Tniport- 
naare  erklärt. 


1.    Das  PÜanzeuvaukenoniameut  in  der  byzantinischen  Kunst.         295 

Giebels  ist  mit  einer  nicht  eben  fein  ans;»'eführten  Gruppe  von  zwei 
Personen  g'eschmückt,  worin  Gayet  David  und  Bathseba  erkennen  wollte. 
Uns  interessirt  hier  bloss  das  Ornament,  das  sich  in  dem  zweimal  spitz- 
winklig gebrochenen  Bordürenbande  befindet.  Dieses  Ornament  besteht 
aus  zwei  ineinander  verschlungenen  Wellenranken.  Die  Blätter  —  drei- 
theilige  Ableger  des  Akanthusblattes,  wo  nicht  direkte  Epigonen  der 
flachen  Halbpalmetten  —  zweigen  nicht  frei  an  selbständigen  Stielen 
von  der  Kjtnke  ab,  sondern  durchsetzen  die  letztere.  Eines  der  drei 
Blättchen,  aus  denen  jedes  grössere  Blatt  besteht,  ist  nach  rückwärts 
gekrümmt,  und  somit  als  Kelchblatt  aufzufassen ;  die  beiden  anderen 
Blätter  Aveisen  in  der  Kichtung  der  Ranke.  Man  braucht  bloss  diese 
beiden  letzteren  nicht  in  selbständiger  Ausladung  zu  belassen,  sondern 
in  eine  feste,  glatte  Umrisslinie  zu  bannen,  und  wir  haben  eines  der 
allergebräuchlichsten  saracenischen  Streifenmuster,  namentlich  für 
pilasterförmig  aufsteigende  Füllungen.  Zu  Grunde  liegt  wiederum 
nichts  anderes,  als  die  neue  emancipirte  Weise,  die  Eanke  von  den 
Spitzen  der  unfreien  Akanthushall)b]ätter  oder  Halbpalmetten  weiter  zu 
führen.  AVo  aber  die  Ranken  enclgiltig  auslaufen,  dort  bilden  Voll- 
blätter (oder  Vollpalmetten,  was  bei  der  nunmehrigen  schematischen 
Stilisirung  schwer  zu  entscheiden  ist)  die  freie  Endigung. 

Wie  es  das  si)ätere  häufige  Vorkommen  dieser  Art  von  Ranken- 
verzierung in  der  ausgebildet  saracenischen  Stilisirung  erwarten  lässt, 
ist  dasselbe  in  der  byzantinischen  Uebergangsfassung  ;in  Skulpturen 
egyptischer  Provenienz  noch  wiederholt  nachzuweisen:  so  bei  Gayet 
Taf.  4  und  Taf.  93.  Gayet  allerdings  will  die  figürlichen  Darstellungen, 
die  damit  auf  Taf  4  und  (\  verbunden  sind,  als  Zeugnisse  für  byzan- 
tinischen Ursprung  geltend  machen  und  die  Stücke  daher  für  importirt 
ansehen.  Wir,  die  wir  Gayet's  Unterscheidung  zwischen  einer  byzan- 
tinischen und  einer  national-egyptischen  Kunst  im  6.  und  7.  Jahrhundert 
n.  Ch.  keineswegs  für  begründet  erachten,  werden  auch  die  erwähnten 
Denkmäler  ohne  Bedenken  egyptischem  Ursprünge  zuweisen.  Aber 
wenn  dem  selbst  so  wäre,  Avie  (iayet  möchte,  Avürde  dies  für  unseren 
Gegenstand  kein  Avesentlich  anderes  Resultat  bedeuten:  der  zur  sara- 
cenischen Einverleibung  des  Profilblattes  in  die  Ranke  treibende  Zug, 
der  sich  als  dem  Schema  A^on  Fig.  159  zu  Grunde  liegend  erwiesen  hat, 
Avurde  ja  von  uns  bereits  an  so  A-ielen  anderen  Denkmälern  aus  dem 
oströmischen  Reiche,  auch  solchen  lokal  konstantinopolitanischer  Her- 
kunft, festgestellt.  Es  ist  nur  ein  recht  unzAveideutiger  und  entschiedener 
Schritt  nach  der  angedeuteten  Richtung,  den  uns  Fig.  ir)9  repräsentirt, 


296 


Die  Arabeske. 


und  diesen  werden  wir  immerhin  elier  auf  einem  Bode-n  erwarten,  auf 
dem  späterhin  die  reine  Arabeske  sich  entfaltet  hat,  als  innerhalb  der 
Bannmeile  von  Byzanz,  wo  man  niemals  recht  über  die  halbe  Mitte 
zwischen  dem  Beharren  an  der  Tradition  und  dem  Nachgeben  gegen- 
über den  dekorativen  Neigungen  der  Zeit  hinaus  gekommen  ist. 

Was  sonst  an  Beispielen  einer  Rankenornamentik  auf  koptisclu>n 
Skulpturen  vorliegt,  bewegt  sich  in  der  gleichen  Richtung,  wenngleich 
in  minder  entschiedenem  Tempo.  Ich  verweise  diesbezüglich  bloss  auf 
die  zahlreichen  Gabelungen  (Fig.  160V\),  die  ebenfalls  nicht  denkbar 
wären  ohnr  das  Aufkommen  jenes  neuen  Grundprincips  der  Blattranken- 
führung, das  Avir  schon  an  der  Fig.  lö!!  als  maassgcbend  erkannt  haben. 
Auch  die  üppige  Gliederung  der  von  einer  fortlaufenden  "Wellenranke 
abzweigenden  SchössKnge    in    reich   verzweigte   Nebenranken ^■'1  wider- 


Fi-.  160. 
Bordiirenfragiuent  von  einer  egyptiscli-friiluuiftelaltorliclien  Orabstolo. 

Streitet  der  antiken  Tradition,  die  an  dieser  Stelle  im  ^^'esentIichen  nur 
eine  spiralige  Kinrollung  mit  einer  freien  Kndigung  gekannt  luit.  Es 
verrieth  sich  in  dieser  Neuerung  der  zur  dicht  und  gleichmässig  ver- 
streuten Kleinmusterung  neigende  neuorientalische  Geschmack.  Daneben 
finden  sich  Beispiele  von  nackter  spiraliger  "Wellenranke  gleich  dem 
mykenischen  IJrscftema  (Fig.  50),  nur  bereichert  durch  eine  nicht  minder 
primitive  Zwickelfüllung  mittels  einfacher  GielicH'^^).  Es  ist  dies  niclit 
unwichtig  im  Hinldick  darauf,  dass  uns  noch  unter  der  vollen  Ilerr- 
.schaft  der  ausgebildeten  Arabeske  dergleiclien  uiiypiselie  Ixankt'iilMl- 
dungen  •>tter  l)egegnen  werden. 

Wir  müssen  es  nns  versagen,  das  überreiche  aus  ]':gy]iteii  \i<r- 
liegende  Älatcrial  nach  der  besprochenen  K'iehtung  \\vv\\  \\eiter  /u  er- 
örtern.    Es  drängt   uns.    noch   die   früh-mittelalterlielien   Denkmäler  der 


♦«)  Gayet  a.  a.  (».  Taf.  :»n. 

*-■)  Z.  B.  Gayet  a.  a.  0.  Tat". '.)«,  DO. 

*'■)  Gayet  a.  a.  0.  Taf.  27. 


1.    Das  Pflaiizeiu-ankenornameut  in  der  byzaiitinisclieu  Kunst.         297 

übrigen  asiatischen  Länder  vorzuneiimen,  die  zu  Ostrom  Bezielmngen 
unterlialten  haben.  Hinsichtlich  Kleinasiens  ist  das  zugängliche 
pnblicirte  Material  leider  ein  so  geringfügiges,  dass  wir  dasselbe  ohne 
Schaden  ausser  Rechnung  lassen  können,  zumal  auch  die  Vermuthnng 
gestattet  ist,  dass  gerade  der  Avestlichste  Vorsprung  Asiens  dem  Beispiele 
von  Byzaiiz  am  nächsten  und  engsten  gefolgt  sein  mag.  Dagegen  liegt 
eine  an  Zahl  geringe,  inhaltlich  aber  Averthvolle  Denkmälergruppe  aus 
den  östlichsten  Grenzgebieten  der  Mittelmeerkultur  vor,  die  zwar  keine 
politische,  wohl  aber  eine  künstlerische  Provinz  des  Römerreiches  ge- 
bildet haben. 

Eine  sehr  Avichtige,  ja  entscheidende  Rolle  bei  der  Herausbildung 
eines  mittelalterlieh-  orientalischen,  des  sogen,  saracenischen  Stils  pflegt 
man  den  Persern  der  Sassanidenzeit  (220 — 041  n.  Ch.)  zuzuschreiben. 
Was  uns  von  bezüglichen  Denkmälern  mit  ornamentaler  Ausstattung 
erhalten  ist,  würde  nach  dieser  geltenden  Autfassung  eher  seinen  Platz 
unter  den  beglaubigt  saracenischen  Denkmälern  selbst,  oder  doch  als 
Einleitung  zu  diesen  letzteren  beanspruchen.  Dass  Avir  nichtsdesto- 
Aveniger  die  Besprechung  auch  der  persisch-sassanidischen  Denkmäler- 
gruppe derjenigen  der  byzantinischen  Fortbildungen  der  antiken  Ran- 
kenornamentik anreihen,  hoffen  Avir  im  Laufe  unserer  Ausführungen 
selbst  zu  rechtfertigen. 

Eigentlich  ist  es  recht  merkwürdig  und  bezeichnend  dafür,  Avohin 
wir  mit  der  blinden  Anhängerschaft  des  Kunstmaterialismus  und  der 
Aermeintlich  autochthonen  EntAvicklung  fast  jeder  Kunstweise  von 
einigem  nationalen  Gepräge  gerathen  sind,  dass  es  einer  Rechtfertigung 
nach  der  gedachten  Richtung  heute  ül)erhaupt  noch  bedarf.  Leute,  die 
noch  einen  off'enen,  durch  Voreingenommenheit  nicht  getrübten  Blick 
für  historische  EntAvicklungen  besassen,  haben  —  Avie  Avir  sehen  Averden 
—  schon  A^or  vierzig  und  mehr  Jahren  nicht  einen  Augenblick  ge- 
zweifelt, dass  die  bezüglichen  Denkmäler  der  Sassanidenkunst  in  eng- 
stem Zusammenhange  mit  der  Kunst  des  abendländischen  Westens 
gestanden  sein  müssen.  Erst  die  seither  aufgekommene  übermächtige 
BcAvegung,  die  überall  sozusagen  spontan  Avirkende  materielle  Hebel 
für  das  Kunstschaffen  thätig  sehen  möchte,  avo  es  sich  um  traditionelle 
Anlernung  und  Nachahmung  handelt,  hat  die  ursprünglichen  richtigen 
Anschauungen  unbefangener  Forseher  A'erdunkelt  und  in  den  Hinter- 
grund gedrängt.  Indem  Avir  also  einige  besonders  charakteristische 
dieser  Denkmäler  nach  der  Publikation  A'on  Flandin  und  Coste,  Voyage 
en   Perse   in  Erörterung    ziehen,    Averden  Avir  uns  nicht  auf  die   blosse 


293  Die  Arabeske. 

Ilervorliebiing"  desjenigen  hescliräiikon  dürtcii,  av.is  i'iir  unsere  IXiiie^Tuiii' 
des  Entwicklungsganges  der  Pflanzenrankenornanientik  von  Bedeutung 
ist,  sondern  auch  die  kunsthistorische  Stellung  di<'ser  ganzen  DcMikniäh'r- 
gruppe  zu  präcisiren  trachten. 

Das  ^laterial,  das  uns  hiet'ür  vorliegt.  l)est(^lit  erstlicli  aus  dem 
Bogen  des  vorletzten  Sassanidenkiaiigs  Chosroes  l'arwiz  zu  Tak-i-Bcistan: 
die  Entstehungszeit  desselben  AV(n'den  Avir  rund  um  (tOO  n.  Ch.  annelnnen 
dürfen.  Ferner  aus  einer  Anzalil  \-on  Arehitekturlragnienten  .  die 
Flandin  und  Coste  zu  Isiiahan  gefunden  haben  und  die  im  allge- 
meinen Charakter  wie  in  den  Details  eine  su  weitgehende  Teberein- 
stimmung  mit  der  Dekoration  auf  dem  Chosroes  -  Bogen  zur  Seliau 
tragen,  dass  wir  sie  nnlx^denklieh  ungefähr  der  gleiclien  Kntstelinngs/eit 
zuweisen  können.  AVir  bewegen  uns  somit  in  einer  Zeit,  da  in  Byzanz 
jene  Neuerungen,  die  wir  Iiauptsäcldieh  an  den  Bauten  Justiuians  wahr- 
nehmen konnten,  iiereits  zu  fertiger  Ausgestaltung  gelangt  wai'en.  aliei' 
seit  dem  Zerfalle  des  römischen  Weltreichs  doch  noeli  nicht  so  \\r\ 
Zeit  verflossen  war,  dass  die  Differenzirung  der  Kunst  in  den  Pro\"inzen 
bereits  entscheidende  Fortschritte  geuiaclit  lialx'u  konnte.  Alit  anth-ren 
Worten:  die  uns  erhaltenen  sassanidisejien  Baudekoi'atioiien  stammen 
genau  aus  jener  Zeit,  in  der  sich  die  für  unser<>  iSonderaufgalie  grund- 
wichtigen  Uebergangserscheinungen  vollzogen  haben  müssen. 

Betrachten  wir  zuerst  das  Kapitril  i'ig.  KU.  Die  A'erziernng  ist 
bestritten  dui'ch  ein  einziges,  vielf.idi  gegliedertes  Pflanzenmotiv. 
Cliarakterisirt  erscheint  dasselbe  durch  den  fleischigen.  \-on  l\ingen  und 
Hülsen  unterbrochenen  Stengel  —  durch  die  Blattrankiu,  die  in  kreis- 
fVirmigcm  Schwünge  nacli  abwärts  sicii  eini'oden  und  in  eine  Blume 
endigen  • —  dui-ch  die  gi'ossen  iii)pigen  lilätter.  die  ,inl'\\;irtsstrebend 
davon  abzAveigen  und  das  erste  Blatt  nächst  dem  Siiel.msntz  voluten- 
.irtig  einwärts,  das  äusserste  dagegen  auswäiMs  gekniniml  und  geschweift 
zeigen,  und  unter  deren  Spitzen  wiedei-  ein  i\,inkenstengel  mit  Mallilifiii 
und  krilnender  Blume  herxoi-liriclit.  indlicli  dni'cli  die  l')hnne.  die 
den  Ilauptstamm  selbst  Icn'int.  mit  X'ilnten  ,im  Siiel.nis.it/.  und  luelir- 
faclien  Blattkelchen.   die   den   M\;den    Kern   einscliliesseii. 

Entliält  sclion  der  Anfl)au  Xiclits,  w.is  uns  niclii  von  so  und  so 
vielen  römischen  Denkmäh-ni  bekannt  wiiic.  se  gilt  das  deiche  \>'\\ 
den  Blättei-n.  I)iesellien  sind  (bircliwegs  und  .lusseliliesslich  vorn 
Akanthus  be.>,tritten.  Cnd  zwar  ist  es  niclit  der  geometrisireniie  Ak.in- 
thus,  den  wir  an  den  Hauten  i\r\-  rriihb\  zantim'schen  Zeit  so  idicr- 
wiegend  angetrotfen  JKilien.  sondern  ein   l)nschiger,  üi)piger,  plastischer 


1.    Das  Pflanzeiiraukenoniaineiit  in  der  byzantinischen  Kunst. 


299 


Akaiithns,  der  dein  echten  römischen  Akantlms  noch  iiberans  nahe 
steht.  Die  einzelnen  Hauptzacken  schneiden  zwar  sclion  tief  in  das 
Blatt  hinein,  ohne  aher  dessen  Individnalität  als  nntheilhares  Ganzes 
in  Frag-e  zu  stellen.  Die  Krümmung  der  Spitzen  der  g-rossen  seitlichen 
Akanthushalbblätter  erinnert  wohl  einerseits  an  die  ausg'esprocliene  Vor- 
liebe der  nachmaligen  Saracenen  für  ausg-eschweifte  kielbogenförmige 
Linienführung,  ist  aber  gleichwohl  noch  rein  römisch,  Avas  auch  durch 
die  nicht  von  der  Blattspitze  weg,  sondern  unter  derselben  hervor- 
laufende Ranke  bestätigt  wird.  Antik  sind  ferner  die  unzAveideutigen 
Volutenkelch -Bildungen   sowohl    am  StieL-nisatze   rler  grossen  seitlichen 


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■>  ) 


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Persische  Kapitale  .aus  der  SassaniiliMizeit. 


Blätter,  als  an  demjenigen  der  centralen  Blütlie,  und  zwar  entsprechen 
dieselben  nicht  so  sehr  römischem  Stilgefühl,  das  am  plastischen  Akan- 
thus  den  flachgedacliten  Volutenkelcli  grösstentheils  entbehren  zu  können 
geglaubt  hat,  als  dem  strengeren  griechischen,  das  ja  einst- 
mals noch  vor  der  Herausbildung  einer  stärker  naturalisiren- 
den  römisch -klassischen  Kunst  in  Asien  seinen  siegreichen 
Einzug  gehalten  hatte. 

Was  dem  Vorausschauenden  an  Fig.  KU  als  Vorläufer  der 
specifisch    saracenischen    Weise    erscheint,    das    betritft   nicht 
die  Rankenführung,   sondern    die   Blatt-   und  Blüthenbildung. 
Am   Akanthusblatt    sind    es    die    eng    nebeneinander    hin  gezeich- 
neten Seitenrippen,   dann  die  Umrisslinie,  die  an  den  meisten 
Blättern    einer    inneren,    ausgezackten    parallel    läuft-*";    und 


")  Vgl.  Fig-.  163  von  einem  anderen  Kapital  der  gleichen  Gruppe. 


300  1^^^'  Arabeske. 

nicht  zum  luiiuU-sti'U  ilie  plastisch  zusainineng-elcgte  Form  des 
Akauthushalbblatts,  Avodurch  sich  dieses  letztere  zur  Komposition 
mehrfacher  Kelche  zu  grösseren  Blüthenformen  bequem  eignete,  wie 
dies  gleich  an  der  centralen  Blütlie  von  Fig.  Kil  sichtbar  ist.  Es  ist 
dieser  Umstand  deshalb  von  ganz  besonderer  Bedeutung,  weil  Avir 
späterhin  in  der  Arabeske  vegetabilische  Formen  finden  werden,  die 
aus  doppelt  zusammengeschlagenen  lappigen  Kelchblättern  gebildet  er- 
scheinen. 

Auf  das  der  sassanidischen  Blüthenbildung  /u  (rrunde  gelegene 
ornamentale  Gesetz  noch  näher  einzugehen,  verliietct  uns  schon  der 
Umstand,  dass  dies  nui-  dann  erfolgreich  geschehen  könnte,  wenn  Avir 
die  Blüthenbildung  seit  hellenistischer  Zeit,  da  eben  eine  solche  A'on 
naturalisirendem  Charakter  anhebt ,  im  Zusammenhange  A'erfolgen 
würden.  Diese  gCAviss  dankl)are  .Arbeit  bleibt  noch  zu  leisten;  Einzelnes 
von  speeieller  Bedeutung  hcrAorzuheben  A\ir(l  sieh  späicr  noch  Gelegen- 
heit ünden. 

Betrachten  Avir  das  l'ilasterkapitäl,  Fig.  l(i-j.  \oui  ('liu.^roes- Bogen 
zu  Tak-i-Bostan.  Am  Halse  eine  Reihe  Akanthuskelche  A'on  dem  eben 
erAvähnten  plastisch  zusammengestülpten  Charakter;  die  ,,Pfeifen"  sind 
mit  dem  Bohrer  hineingegraben.  Auf  dem  Kapital  selbst  die  Ptianzen- 
staude  mit  dem  fleischigen  kandelaberartigen  Stengel  Avie  in  Fig.  Kil. 
AbzAveigend  Blätter  in  l'rntilansielit.  \on  denen  es  zweifelhali  bleilit,  ob 
Avir  sie  als  flache  Halbpahnetten  oder  als  Akanthushalbblätter  erklären 
sollen;  der  theihveisc  Mangel  A-on  Volutenkelchen  Hesse  letzten^s  als 
das  Wahrscheinlichere  erscheinen,  Avenn  nicht  unten  zwei  nn/\veit'elliafte 
Akanthushalbblätter  in  kreisrundei-  I'j'nrnllnng  sieh  liefänden.  die  eine 
etAvas  abAveichende  Behandlung  zeigen.  An  tue  erAv.äJniten  Halbpal- 
metten nun  sehliesst  sich  jedesmal  A'on  der  Spitze  Aveg  Je  eine  Blume 
an,  Avoriii  Avir  wieder  jenes  sattsam  ei'örterte  antinatui'alistisclie  (!esetz 
der  Blumeiu'aid<<'nbildung  erkennen.  —  Auf  der  Deckplatte  liegt  eine 
Keihe  von  Dreiblättern  (Fig.  14.'3),  deren  jedes  von  einer  herzfV'trmigen 
Linie  umschrieben  ist. 

Diese  beiden  gegebenen  Beis})iele  sassanidischer  Ornamentik  weiden 
Avold  genüg(;n,  um  Oavcu  .Jones"  Urtheil  zu  rechtfertigen,  der  sieh  dar- 
über folgendermaassen  ausgedrückt  hat:  ..Die  ()i-namente  sind  nach 
denselben  l'riiiei])ien  Avie  die  i-(")miseli<ii  ( )nianieiiie  knnsli-uirt.  ilueh  \(T- 
künden  sie  dieselbe  .Modifikation  <lei-  nicidellii-teii  Oberlläeiie,  die  man 
in  den  l)yzantinisclien  ( )niamenten  enidi'ekt,  denen  sie  autVällig  ähnlieh 
sehen".     Diejenigen,    <lie   darin    ureigenste    Iler\(irl»ringuiigen    des   \-er- 


1.    Das  Pflanzcnraiikcuovnaiiient  in  der  bvzaiitinischen  Kunst. 


301 


meintlichen  persischen  Kunstvolks  sehen  möchten,  tragen  wir  aber: 
wann,  unter  Avelchen  Verhältnissen  soll  sich  diese  „nationale"  Kunst 
entwickelt  haben?  Mit  der  persischen  Kunst  der  Achämenidenzeit 
die  wir  ja  im  3.  Kap.  (S.  10!»)  kennen  gelernt  haben,  hat  die  Ornamentik 
der  Sassanidendenkmäler  Nichts  zu  thun.  Sollte  diese  durch  die 
Parther  aus  Centralasien  gekommen  sein?  Von  dort  ist  aber,  Avie  wir 
von  Türken  undMongolen  wissen,  niemals  etwas  Anderes  als  Geometrisches 
nach  dem  Westen  gelangt.  Es  bliebe  somit  nur  die  Annahme ,  die 
Perser  hätten  parallel  mit  der  griechisch-römischen  Pflanzenrankenor- 
namentik  eine  eigene  aus  dem  Nichts  heraus  gebildet,  hätten  in  wenigen 
Jahrhunderten  aus  eigener  Kraft  den  ganzen  Gang  der  Entwicklung 
durchgemacht,  wozu  die  übrigen  Kunstvölker  des  Alterthums,  Avie  Avir 
gesehen  haben,  ZAvei  Jahrtausende  gebraucht  haben.  Eine  solche  An- 
nahme AA'ird  aber  schAverlich  viele  Anhänger  linden. 


Fig.  1G4. 
Detail  von  einem  persischen    Kapital  aus  der  Sas.sanifleiizeit. 


Der  Akanthus  trägt  an  Fig.  lOl  und  1G2,  Avie  erAvähiit,  eine  natu- 
ralisirende,  üppige,  römische  Form  zur  Schau.  Die  vom  vollen  Blatt 
abgezupften  schematischen  Zacken  der  frühbyzantinischen  Kunst  treffen 
Avir  an  einem  anderen  sassanidischen  Kapital,  Avovon  wir  ein  Detail  in 
Fig.  164  Aviedergeben.  Dasselbe  erscheint  auf  den  ersten  Blick  völlig 
saracenisch;  und  doch  ünden  Avir  daran  bei  näherem  Zusehen  kein 
Detail,  das  uns  nicht  \^on  frühbyzantinischen  Denkmälern  lier  bekannt 
Aväre.  So  die  gesprengte  Palmette  unten  (vgl.  Fig.  148),  das  Dreiblatt 
in  der  Mitte  (vgl.  Fig.  14.3),  dessen  rundovale  Umschreibung  sogar 
noch  antiker  ist  als  die  herzförmige  in  Fig.  162,  und  endlich  das  Paar 
von  divergirenden  Dreiblättern  oben  (vgl.  Fig.  14.3).  Wir  ersehen 
daraus,  Avie  nahe  bereits  die  frühbyzantinische  Weise  der  sara- 
cenischen  steht,  und  wie  gleichmässig  sich  der  Process  in 
allen  von  der  oströmischen  Kunst  beherrschten  Gebieten  an- 
gebahnt hat.  An  den  Blumen-  und  Blattmotiven  blieb  in  der  That 
nicht  mehr  viel  zu  ändern,  um  zur  reinen  Arabeske  zu  gelangen:   nur 


302  Die  Avcibeske. 

in  der  Eaukeufüliruiig"  war  noch  t-iii  entschiedenerer  Scliritt  nacli 
vorwärts  zu  thuu,  wenngleich  der  grün dsätzli die.  wie  wir  gesehen 
haben,  auch  nach  dieser  Kichtung  bereits  gethan  war. 

2.    Frühsaraceiiiscbe  Kankenoniaiiieiitik. 

Indem  wir  uns  endlich  der  Besprechung  von  Denkmälern  zuwenden, 
die  nach  Al)lauf  mehrerer  Jahrhunderte  seit  dem  Aufkommen  des 
Islam  bereits  nachweislich  für  Saracenen  hergestellt  worden  sind,  wollen 
wir  uns  vor  Allem  noch  einmal  die  specitischen  Eigenthündichkeiten 
gegenwärtig  machen,  die  das  ausgebildete  saracenische  Kankenornamenr. 
die  sogenannte  Arabeske,  charakterisiren. 

1.  Die  Ranken  werden  an  sich  -wieder  zu  mehr  oder  minder 
linearen,  also  geometrisirenden  \'erbinduugselementen,  in  ihrer 
Bewegung  Aerlassen  sie  aber  sehr  häutig  den  aus  der  Kreislinie  heraus 
konstruirten  Sclnvung.  wie  er  der  vom  Spiralornament  herkommenden 
klassisch-antiken  Kanke  allezeit  eigen  gewesen  Avar,  und  rollen  sich 
nu]imehr  aucli  in  ovalen,  gebrochenen,  geschweiften  Linien  ein, 
laufen  von  verschiedenen  Richtungen  her  vielfach  sogar  zu  polygonen 
Kontigurationen  zusammen,  was  insbesondere  dann  statthat,  wenn  die 
Ranke  l)andartig  gestaltet  wird,  das  Rankenornament  mit  dem  Band- 
verschlingungsornament  sich  ver(|uickt.  In  solchem  Falle  A-erlauten 
die  bandförmigen  Haui)tlinien  nach  einem  neuen  (polygonalen  oder 
kurvi linearem  Schema,  während  die  leinen  füllenden  Ranken  dazwischen 
den  vollen  schiaien  Kreisschwung  beil)ehalten. 

■2.  Die  Motive  knüpfen  entweder  an  die  alten  llacheu  Palmetten, 
oder  an  das  alte  Akanthushalbblatt,  oder  endlich  an  die  byzantinischen 
Ableger  dieses  letzteren  au.  Der  anlinaturalistisclie  Zug,  der  bereits 
die  Ranken  wiederum  in  eine  geometrisirende  Richtung  gebraclit  liai. 
verrätli  sich  an  den  Einzelmotiven  durch  die  Reducirung  oder  Unter- 
drückung der  Einzel  blätter,  überhaui)t  durch  eine  ausgesi>rochene 
Neigung  zur  symiueti-ischen  Sc  heuia  t  isi  ru  ug  und  iliireh  Aus- 
scliweifnng  der  spitz  zulaufenden  Tinile  z.  H.  Blatts|titzeu  i. 
Neben  solchen  \()]lig  geometrisch  stili.'^iit«  ii  .Mi)li\en  (Dreiblatti  laufen 
-"jelic  von  mehr  naturalisirendem  Charakter,  deren  Modeliirung  unzwei- 
deutig auf  einen  genetischen  Zusani  nie  n  h.i  ug  mit  dem  pl.i  st  isehen 
Akantli  usblatt  hinweist.  .\ber  selbst  in  diesem  J'.iUe  ^ind  an  i\i-y 
Peripherie  rund  um  das  fein  .lusge/ackte  Detail  glatte  ungeglii'derte 
Cuirissl  ini<' II  gezogen,  die  den  gewissennaassen  ;;(Miuietrisclien  ii.iliitns 


2.    Frühs;ir;iceiiisclie  Eankenornamentik. 


303 


nacli  aussen  herstellen.  —  Cliarakteristiscli  ist  ferner  die  überaus  häufii;- 
zu  beobachtende  Weise,  zwei  Halbblattmotive  als  Endigungen  zweier 
von  verschiedenen  Seiten  zusammenlaufender  Ranken  zu  einem  ,yanzen 
Motiv  unter  einem  geschweiften  Winkel  zusammentreten  zu  lassen. 
Inwiefern  dies  mit  einem  ganz  bestimmten  Grundgesetz  der  sarace- 
nischen  Flächenornamentik  —  dem  unendlichen  Kai)port  —  zusammen- 
hängt, Avird  weiter  unten  (S.  307)  seine  Erörterung  ündcn. 

3.  Das  Verhältniss  zwischen  Eanken-  und  Blüthcnmotiven 
gestaltet  sich  endgiltig  dahin,  dass  die  letzteren  von  den  ersteren  nicht 
mehr  bloss  abzweigen,  sich  an  die  Ranken  ansetzen,  sondern  dieselben 
durchsetzen,  unfreien  Charakters  mit  den  Ranken  gleichsam  v(U'wachsen. 


Fig.  IGö. 
Stuckbortle  von  der  Moschee  des  Ibu  Tulun  zu  Kairo. 


An  die  Spitze  unserer  Denkmälerschau  setzen  wir  die  Stuckorna- 
mente von  der  im  Jahre  878  nach  zweijähriger  Baudauer  vollendeten 
Moschee  des  Ibn  Tulun  zu  Kairo.  Prisse  d' Avenues*^)  hat  die- 
selben vollständig  publicirt:  bloss  die  daselbst  in  der  Mitte  befindliche 
breite  Füllung  Xo.  17  wird  man  von  den  Resten  des  9.  Jahrh.  abziehen 
und  einer  späteren  Zeit  (12. — 13.  Jahrh.)  zuschreiben  müssen.  Jedes 
einzelne  der  hienach  verbleibenden  36  Bordürenfragmente  verdiente 
um  der  durchgängigen  Beziehung  zur  historisch  gewordenen  Pflanzen- 
ornamentik  Avillen  eine  besondere  Erörterung:  die  umfassende  Aufgabe, 
die  wir  uns  hier  gestellt  hal)en,  zwingt  uns  diesbezüglich  uns  auf  das 
allerknappste  Maass  zu  beschränken. 

Vor  Allem  begegnen  uns  die  alten  wohlbekannten  Wellenranken- 
schemen.  Fig.  165*^)  zeigt  eine  intermittirende  Wellenranke  mit 
alternirenden  dreispaltigen  Lotusblüthen  und  Palmetten,  das  verbindende 
Rankenglied  als  Gabelranke  (Fig.  134— 13G)  charakterisirt.    An  Fig.  160^^) 


■**)  L'art   arabe   d"apres  les  luoniiments  de   Caive  Taf.  44.     Eine  Anzahl 
auch  bei  Owen  Jones  Taf.  30. 
*»)  Prisse  a.  a.  0.  31. 
=0)  Prisse  a.  a.  O.  84. 


304 


Die  Arabeske, 


ist  das  gleiche  Scliemn  bereichert  um  eine  Halbpalniette  (oder  ein 
Akanthushalbblatt\  die  mit  ihrer  Spitze  unmittelbar  in  die  Vollpalmette 
übergeht,  somit  die  Wellenranke  imzweideutig-  durchsetzt.  Die  beiden 
Gabelranken  von  Fig.  165  sind  hier  zu  flankirenden,  einrahmenden  und 
zugleich  raumfüllenden  Elementen  geworden;  man  beachte  attch.  wie 
dieselben   für  die   fünfspältige  Vollpalmette   eine  glatte  äussere  Vm- 


l-'ig.  166. 
Stiickhorde  von  der  Moschee  des  Ibn  Tulini  zu   Kairo. 


risslinie  ergeben,  und  in  der  gleichen  Weise  besorgen  dies  die 
äusseren  Blätter  der  dreispaltigen  Lotusblüthe  gegenüber  den  vier  Aus- 
zackungen  der  rankendurchsetzenden  Ilalbpalmetten. 

Eine  fortlaufende  Wellenranke  enthält  Fig.  lt»7^').  Von  Jeder 
WellenbeAvegung  der  Hauptranke  zweigt  ein  Schössling  ab,  und  zwar 
zuerst  in  kreisförmigem,  antikem  Schwünge.  Anstatt  aber  mit  der  Pal- 
mette   zu    endigen,    setzt    sich    das    äusserst»'   Blatt^-)    dieser    letzteren 


Fig.  167. 

Stuckborde  von  der  Moschee  des   Ihn  ']"uUin 

zu  Kairo. 


ritr.  167  a. 

Uebersetzuiig  von  Fig.  167 

in's  Griechi.sche. 


Aviederuni  in  einem  Rankenstengel  fort,  der  in  entgegengesetzter  KMch- 
tung  zur  ursprünglichen  Kreiseinrollung  verläuft  und  sich  noch  einmal 
gabelt.  Zweierlei  unt<-rscheidet  die.<e  frühsaracenische  Wellcnranke  auf 
den   ersten  Blick  von  einer  klassiscli-.nitikcii :    1.  das  C  insdi  lagen  des 


^'j  Prisse  a.  a.  O.  :53. 

")  Wenn  eine  Ilalbpalinetto  gemeint  ist;  wenn  aber  eine  Vollpahuette, 
dann  setzt  die  fortlaufende  Ranke  an  das  mit  dorn  vorhandenen  einen  Keleli- 
blatt  koiTesjtondirende  zweite  Kelchblatt  an. 


2.    Frühsaracenische  Rankenoniameutik.  305 

fortlaufenden  Kankenscliösslings  in  eine  entgegengesetzte  Richtung, 
2.  der  Umstand,  dass  die  durch  das  Volutenkelchblatt  am  unteren  An- 
satz deutlich  charakterisirte  Palmette  nicht  die  freie  Endigung  des 
Schösslings  bildet,  sondern  denselben  bloss  durchsetzt.  Wie  aber 
diese  beiden,  scheinbar  grundsätzlichen  Unterschiede  bereits  im  alt- 
griechischen Schema  vorgebildet  gewesen  sind,  beweist  die  in  Fig.  IGTa 
gegebene  Uebersetzung  von  Fig.  IGT  in's  Antike.  Die  Ranke  läuft  hier 
nicht  einheitlich  fort,  sondern  theilt  sich,  und  die  Palmette  ist  blosse 
Zwickelfüllung^^).  Die  byzantinische  Zwischenstufe  finden  wir  in  Fig.  160. 

Noch  auf  zwei  Punkte,  die  uns  an  Fig.  167  bedeutsam  entgegen- 
treten, muss  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  werden.  Erstlich  auf  die  ausge- 
sprochene tropfenförmige  Zwickelfüllung  in  den  Winkeln,  die  durch 
die  Abzweigung  eines  Hauptschösslings  von  der  Hauptranke  entstehen. 
Das  Postulat  der  Zwickelfüllung,  überaus  mächtig  in  pharaonischer  Zeit 
(S.  62),  ist  in  Egypten  auch  im  Mittelalter  in  bevorzugter  Anwendung 
geblieben,  ^fan  vgl.  hiefür  namentlich  die  Beispiele  aus  koptischen 
jMiniaturen,  die  Stassoft"^*)  gegeben  hat:  die  weit  ausladenden,  ovalen 
Knöpfe  in  den  Rankenzwickeln  wirken  daselbst  geradezu  unschön  und 
anstössig.  Das  zweite,  noch  bemerkenswerthere  Detail  an  Fig.  167  be- 
steht in  den  kommaähnlichen  Schlitzen,  durch  welche  jede  Palmette 
oder  vielmehr  Hallipalmette  zweigetheilt  ist.  Es  drückt  sich  darin  eine 
Untertheilung  des  durchsetzenden  Blüthenmotivs  aus,  die  neben  der 
Gliederung  der  Blattperipherie  in  Zacken  nebenherläuft.  Inwiefern 
dieses  Detail  für  die  Fortentwicklung  bedeutsam  gewesen  ist,  Avird  sich 
sofort  an  einem  geeigneteren  Beispiele  zeigen  lassen. 

An  Fig.  168"^)  laufen  die  Ranken  zu  spitzovalen  Konfiguratiunen 
zusammen.  In  das  Innere  der  Spitzovale  werden  von  unten  zwei 
Ranken  entsendet,  die  sich  in  zwei  Halbpalmetten  fortsetzen.  Diese 
Halbi)alnietten  treten  als  Fächerhälften  zu  einer  gesprengten  Palmette 
zusammen,  die  aber  nocht  nicht  freie  Endigung  ist,  sondern  eine  blosse 
Durchsetzung  der  Ranken,  die  von  den  Spitzenden  der  beiden  Fächer- 
hälften sich  fortsetzend  umschlagen  und  nach  abermaligem  Zusammen- 
schlüsse erst  in  ein  Dreiblatt  auslaufen,  das  nun  eine  definitive  freie 
Endigung  bildet.  Auch  für  diese  Art  der  Rankenführung  fiele  es  nicht 
schwer,  das  nackte  klassische  Schema  hinzuzuzeichnen.    Wir  sind  aber 


^^)  Diese  schematische  Uebersetzung-  ist  übrigens  für  das  Mittelalter  auch 
monumental  zu  erweisen:   Tragaltar  in  der  Coli.  Spitzer,  Jvoires  XIII. 
^^)  Ornement  slave  et  oriental  Taf.  132—135, 
")  Prisse  a.  a.  0.  G. 

Riegl,  Stilfragen,  20 


306 


r)ie  Arabeske. 


der  ^lübe  dies  zu  thuii  überhoben  dui'cli  den  übeiTaschenden  Umstnnd, 
dass  uns  eine  solche  Uebersetzung  in's  Grieehisclie  an  einer, 
später  zu  erörternden,  echt  saracenischen  Holzschnitzerei  des 
XII.  Jahrhunderts  vorlieg't  (Fig.  168a).  Es  ist  dalicr  auch  geAviss 
nicht  zntallig  und  am  wenigsten  als  Kullchnung  aus  saracenisehem 
Kunstbesitz  zu  erklären,  Avenn  wir  genau  dem  gleichen  ]\lotiv  —  eine 
gesprengte  Palmette ,  deren  Fächerhältten  ol)en  rankenartig  sich  fort- 
setzen, gegen  das  Innere  umschlagen  tmd  endlich  in  ein  gemeinsames 
Dreiblatt  frei  auslauten  —  sehr  häutig  auch  an  byzantinischen  Kttnst- 
Averken  begegnen'^).  Was  das  Gesamratmotiv  in  Fig.  Iß8  so  fremdartig 
..orientalisch"  erscheinen  lässt,  ist  Aveder  die  Rankenführung  noch  die 
Stilisirung  der  BlütlienmotiA'e,  sondern  A^or  Allem 
das  Aufgehen  dieser  letzteren  in  der  Kanke:  auf 
den  ersten  Blick  A-erniag  Xiemand  zu  erkennen, 
Avo  die  Ranke  aufliTirt  uiul  die 
Blüthe  beginnt  und  umgekehrt, 
Avogegen  in  der  klassisch -anti- 
ken Ornamentik  Kanke  und  fül- 
lende l'.ilmettenfächer  ui's|)riing- 
lieli  deutlich  und  klai-  geschie- 
den sind,  und  selbst  noch  in  der 
In'zanlinisclieii   Oi'nanu'ntik    die 

unfreien  Ak,inlliusli,ill)l»lätter  sich   noch   leidlich  A-on 

der    Hanke   sclieitleii    lassen.     Die  Saracenen   halien 

elieii    konse<]uent   und  entschieden  fortgebildet,  Avas 

sie  im   Keime  und  zum  Theil  schon  im  .Aufsprossen 

von  den  antiken  KulturA'ölkern  übernommen  halben: 

auch    unter   diesem   Hinblick    erscheint   der  T^nterschied    ZAvisehen 

spätantiker     und     saracenisc  hei-    Ornamentik    l:»loss    als    ein 

gradueller,  nicht  als  ein   ha  bit  ue  |  Icr. 

Betrachten  Avir  noch  dii'  ausgtjzackteii  llall>i>almetten,  die  sich 
innerhalb  des  Spitzovals  zu  einer  gesprengten  Palmette  ergänzen.  Die 
ausladenden  Zacken  deuten  avuIiI  die  rjn/clnen  Blattei"  des  Fächers  an, 
aber  die  P>lattri|>pen  sell)St  sind  nicht  kenntlich  gemacht:  die  glatte 
äussere  l'inrisslinie  l)esorgen  die  das  SpitzoA'al  begr<'nzenden  Hanken. 
Femer    zeigen    die    genannten    llall>|>;i!nieiten    wiederum   die   schon   an 


iMg.  ir.Sii. 


Fig.  V.u. 

Stackborde  von  der 

Moschee  des  Ihn  Tuliiii 

zu   Kairo. 


■"■)  Z.  B.  Stassoff.   ODiemeiit    slavc   et    orieiital  'Tnf.  121.  12.     Aber  kciucs- 
Aveg-s  selten  auch  in  der  aVx'ndläniliscbcn  Kunst  des  X.  -.XII.  .Fahrli. 


2.    Fi-ühsavacenische  Kankenornanientik.  3(j7 

Fig.  167  bemerkten  Komma  -  Sehlitze ,  die  wiederum  jede  Palmette 
etwa  in  zwei  Theile  tlieilen.  Es  drückt  sich  darin  oflfenbar  die  Ten- 
denz zur  Zweitheilung,  Gabelung  der  ganzen  Halbpalmette  aus, 
deren  Endresultat  in  der  arabesken  G abelranke  (Fig.  ISOaj  vorliegt. 

Die  beiden  Eankenbänder,  die  für  das  eben  beschriebene  Füllungs- 
motiv den  spitzovalen  Eahmen  bilden,  theilen  sich  über  dem  Scheitel 
wieder,  um  abermals  ein  Spitzoval  zu  bilden,  wovon  in  Fig.  168  bloss 
der  untere  Anfang  sichtbar  ist.  In  Folge  des  Zusammenlaufens  der 
beiden  Eankenbänder  zwischen  den  beiden  Spitzovalen  mussten  im  Fries- 
streifen naturgemäss  rechts  und  links  segmentartige  Zwickel  entstehen. 
Man  betrachte  die  —  beiderseits  im  Gegensinne  identische  —  Fül- 
lung dieser  Zwickel.  Bei  näherem  Zusehen  ergiebt  sich  dieselbe  als 
nichts  Anderes,  als  die  Hälfte  des  Füllungsmotivs,  das  wir  im  Spitz- 
oval angetroffen  haben.  Besser  als  es  mit  vielen  Worten  an  den 
Einzelmotiven  demonstrirt  werden  kann,  drückt  sich  darin  der  scliema- 
tische,  antinaturalistische  Zug  aus,  der  schon  diese  werdende  sarace- 
nische  Eankenornamentik  charakterisirt.  Der  Künstler  schaltet  mit 
dem  ursprünglich  vegetabilischen,  also  bestimmten  lebendigen  Xatur- 
gesetzen  folgenden  Motiv,  wie  mit  einem  leblosen,  geometrischen:  er 
theilt  es,  versetzt  es  ganz  nach  Belieben,  je  nach  dem  Be- 
dürfniss  des  zu  füllenden  geometrisch-symmetrisch  abgezirkelten  Eaumes. 

Andererseits  vergleiche  man  die  seitlichen  Segmentfüllungen  von 
Fig.  168  mit  Fig.  167.  Die  ersteren  erscheinen  hienach  als  nichts  An- 
deres, als  blosse  Ausschnitte  aus  einer  fortlaufenden  Wellenranke,  als 
ein  blosser  Schössling  dieser  letzteren.  Der  einzige  Unterschied  besteht 
darin,  dass  in  Fig.  168  entsprechend  dem  grösseren  auszufüllenden 
Segmentraume  die  Palmette  mehr  in  die  Länge  gezogen  und  in  mehr 
Zacken  gebrochen  ist.  Ziehen  wir  hieraus  wiederum  den  Eückschluss 
auf  die  Füllung  innerhalb  des  Spitzovals  in  Fig.  168.  Dieselbe  ist  hie- 
nach auch  nichts  anderes,  als  die  Verdoppelung  jenes  Schösslings  der 
fortlaufenden  Wellenranke  Fig.  167").  Diese  Wahrnehmung  ist  doch  ge- 
wiss nur  geeignet  den  schematischen  Eindruck  zu  verstärken,  den  wir 
soeben  von  dieser  Art  Eankenornamentik  erhalten  und  hervorgehoben 
haben.  Es  drückt  sich  darin  zugleich  ein  ganz  wesentliches  Grund- 
gesetz der  Arabeskenbildung  und  der  saraceni sehen  Flächen- 
ornamentik überhaupt  aus.  Ein  —  wenn  auch  zusammengesetztes  — 


^'j  Jetzt  erklärt  sich  uns  auch  die  -wiederholt  (S.  284,  303)  konstatirte 
Neigung  zwei  Halbmotive  zu  einem  symmetrisch  aufgebauten  Vollmotiv  zu- 
sammentreten zu  lassen. 

20* 


3()8  Die  Arabeske. 

Element  liegt  in  der  Regel  einer  ganzen  Gesammtkoneeption  zu  Grunde: 
sei  es  durch  Halbirung,  sei  es  durch  Verdoppelung,  wird  ein  fortwähren- 
der Rapport  hergestellt.  In  geometrischer  Ausführung  war  dieses  Gesetz - 
zwar  längst  bekannt  und  geübt:  Quadrirung,  Kautennetz  shul  die  älte- 
sten Vorstufen  desselben.  Die  Errungenschaft  der  Sara cenen  lag 
darin,  dieses  Gesetz  des  unendlichen  Rapports  zum  leitenden 
in  ihrer  Pfl  a  nzenrankenornamentik  gemacht  zu  haben. 

Dass  wir  in  diesem  Falle  von  einer  ornament-gcschichtlichen  ..Er- 
rungenschaff sprechen  dürfen,  wird  sofort  gerechtfertigt  erscheinen, 
wenn  man  die  betreffenden  Ornamente  des  9.  Jahrhunderts  noch  einmal 
aufmerksam  betrachtet.  Dass  die  seitlichen  Füllungen  in  Fig.  KiS  nichts 
Anderes  sind  als  die  Hälften  der  mittleren  Spitzoval -Füllung,  springt 
keineswegs  so  sehr  in  die  Augen ,  und  Avird  erst  bei  näherer  Unter- 
suchung Avahrgenommen.  Noch  weniger  drängt  sieh  dem  Auge  der 
Zusammenhang  auf,  der  zwischen  der  Spitzoval-Füllung  von  Fig.  168 
und  der  Wellenranke  Fig.  IGT  obwaltet.  Das  ist  eben  das  Charakte- 
ristische am  Arabeskenornament,  dass  dasselbe  trotz  geringer  Ab- 
wechslung in  den  Motiven  und  fortwährender  Wiederholung 
der  Einz  elkon  figurationon  dennoch  niemals  langweilig  Avird. 
Das  Gesammtmuster  erscheint  unendlich  reicher  als  es  ist.  Ja  für  den 
naiven  abendländischen  Beschauer  erscheint  es  oft  so  verwim  und 
komplicirt,  dass  man  daran  verzAveifeln  möchte,  überhaupt  den  Ariadne- 
faden dafür  zu  finden,  wenngleich  dies  bei  einiger  Kenntniss  der 
Grundgesetze  der  Arabeskenbildung  Jederzeit  mit  geringer  jMühe  zu  be- 
werkstelligen ist. 

Einmal  bei  diesem  l'nnkte  angelangt,  wollen  wir  denselben  nach 
der  historischen  Seite  noch  etwas  Aveiter  erüriern.  wiewdid  es  eine 
AbschAveifung  von  der  geraden  Linie  der  Darstellung  unseres  Gegen- 
standes Vjedeuter.  Wann  ist  der  uneiulliche  Bapport  in  der  Flächenorna- 
mentik aufgekommen?  Lässt  sich  dersell)e  auch  in  vorsaracenische  Zeiten 
zurück  n;icIiAveiseny  \Vie  nniii  sieht,  lie/wecken  diese  f'ragen  die  l-'est- 
stellung  des  etwaigen  sclir)pre)'isclien  Anllieils  der  Saraeenen  an  dieser 
Art  von  Flächendekoration.  Das  Thema  ist  I)egreifiichermaassen  ein 
so  Aveitgespanntes.  das  Matei-i;d  ein  so  reieldialtiges,  dass  eine  er- 
schöpfende, geAvisscn  Erfolg  verheissende  Bearbeitung  desselben  ein 
ganzes  Bucli  füllen  Avürde.  Hier  müssen  Avii- uns  auf  die  Markirung  der 
Hauptpunkte  der  Entwicklung  beschränken. 

TJnendlicIien  h'ajtpdrt  ei'giebt  schon  das  Scliachbi'ett-  und  das  h'nuten- 


■2.    Frühsavacenische  Piankenoniameiitik.  309 

mustcr:  in  den  geometrisclien  Stilen  muss  derselbe  also  schon  früh- 
zeitig: Anwendung-  gefunden  haben.  Damit  kommen  wir  aber  über  die 
primitive  Streifendekoration  kaum  wesentlich  liiuaus.  Unser  Interesse 
an  dem  Schema  beginnt  erst  recht  von  dem  Augenblicke  an,  da  man 
darin  über  die  Verwendung  bloss  geometrischer  Einzelmotive  hinaus- 
geschritten ist.  Dies  ist  —  soviel  wir  sehen,  zuerst  —  in  den  Decken- 
dekorationen des  neuen  thebanischen  Reiches  von  Egypten  der  Fall 
gcAvesen.  Das  Gerippe  derselben  bilden  zwar  Spiralenverschlingungen, 
aber  die  Füllungen  dazwischen  sind  vielfach  animalischer  oder  vege- 
tabilischer Natur.  An  den  Reproduktionen  von  Prisse  d'Avennes^*^) 
lässt  sich  nun  öfter  nachweisen,  dass  z.B.  eine  füllende  Palmette  am 
Rande  des  Musters,  wo  dasselbe  an  die  Bordüre  stosst,  bloss  zur  Hälfte 
dargestellt  ist.  Es  giebt  sich  damit  ziemlich  unzweideutig  der  Gedanke 
kund,  dass  man  sich  jenseits  dieses  Durchschnitts  die  hall)e  Palmette 
zu  einer  vollen  ergänzt,  das  ^Muster  somit  im  unendlichen  Rapport  weiter- 
laufend zu  denken  hat.  Doch  bildete  diese  Art,  das  Muster  an  den 
Rändern,  Säumen  abzusetzen,  wenn  man  nach  Prisse's  Abljildungen 
schliessen  darf,  keineswegs  die  Regel -'''0;  eine  endgiltige  Entscheidung 
wäre  wohl  ül^rigens  nur  vor  den  Originalien  zu  treffen. 

Dass  in  dc-r  griechischen  Dekorationskunst  der  unendliche  Rapport 
keine  entscheidende  Rolle  spielen  konnte^'-),  Avird  Jedermann  klar  sein, 
nach  demjenigen  was  wir  im  :>.  Kapitel  dieses  Buches  über  Ziele  und 
Tendenzen  der  griechischen  Pflanzenornamentik  kennen  gelernt  haben. 
So  lange  die  griechische  Kunst  in  ihrer  langsam  aber  stetig  zunehmen- 
den naturalisirenden  Tendenz  einen  aufsteigenden  Gang  genommen 
hat,  war  darin  für  ein  nvendticJies  Pflauzenrankenmuster  kein  Raum. 
Erst  von  hellenistischer  Zeit  ab,  als  der  naturalisirende  Process  seinen 
Höhepunkt  erreicht  hatte  und  die  beginnende  Reaction  in  einer  vorerst 
leisen,  dann  stetig  anwachsenden  Neigung  zum  Schematisiren  der  nicht- 
geometrischen Ziermotive  sich  zu  regen  begann,  dürfen  wir  überhaupt 
nach  einem  unendlichen  Muster  von  nichtgeometriseher  Beschaffenheit 
in  der  antiken  Kunst  Umschau  halten. 


^^)  Z.  B.  Ornementation  des  plafonds,  postes  tieuronnees  9. 

^»)  Vgl,  z.  B.  unsere  Fig.  23,  S.  69. 

•=0)  Wohl  aber  findet  sich  derselbe  in  der  mykenischen  Kunst:  in  Wand- 
malerei bei  Schliemanu,  Tiryns  Tat".  XI,  in  Vasenmalerei  ebenda  Taf.  XXVII. 
In  letzterem  Falle  sind  wohl  die  begrenzenden  Polygone  am  oberen  Rande 
halbirt,  nicht  aber  die  füllenden  Motive  von  augenscheinlich  vegetabilischer 
Herkunft.  —  Diese  Din"-e  harren  alle  noch  der  o-enaueren  Verfolgung. 


3  Kl 


Die  Arabeske. 


Pompeji,  das  uiiscliätzbarr,  hat  uns  auch  diesbezüglich  unver- 
ächtliche Aufschlüsse  geliefert.  Trotzdem  die  pompejanische  Dekoration 
als  das  hohe  Lied  der  freien  Kankenornamentik  und  der  figürlichen 
Streumuster  bezeichnet  -werden  darf,  haben  sich  daneben  doch  auch 
Beispiele  von  geometrisirender  Wanddekoration  nach  dem  Schema  des 
unendlichen  Rapports  gefunden.  Erstlich  einmal  das  nackte  Rauten- 
muster"^'!:  wobei  bloss  die  bunte  Färbung,  in  der  die  einzelnen  Rauten- 
felder prangen,  den  wechselnden  Sclnuuek  hervorbringt.  Dann  eine 
reicher    behandelte   Rautenniusteruug.    wo    die   grösseren   RautenfeUler 


y^T^ 


?'"•'- 

■^v-,  ''''.^'S' 

:^< 


Ki;,'.  ICH. 
Miisnik-Fi'ilUiiiL'  aii^  lieiii   lsi.•^tL■mllel  zu  l'umpeji. 

nach  abwechselndem  Schema  durch  kleinere  Rauten  verschiedener 
Färbung  untermustert  erscheinen'''-).  Audi  hier  ist  die  Färbung  allein 
das  schmuckbereitende  Element.  In  beiden  Fällen  aber  begegnen  wir 
an  den  Rändern  Dreiecken  =  halben  K'aiiten,  wodurch  sieh  der  unend- 
liche Rapport  unzweideutig  kundgiebt. 

Bei  solch  einfaclisten  Mustern  ist  man  aber  in  Pompeji  niclit  stehen 
geblieben.  ^Vir  liegegnen  daselbst  melirfachen  höchst  benierkenswertiien 
Versuchen  ''Fig.  lti'.»)''''j,  •■'"''  •■'hi<"he  in  Theilkonipartiniente  zn  zei'legen, 


^')  Niccolini,  Descriz.  gcncr.  XLVII. 
'-)  Niccolini,  Descriz.  ^^cncr.   XXXVr. 
'■•)  Niccolini,  Tcmpio  dlside  II. 


2.    Frühsaracenische  Kaiikeuornamentik.  3|]^ 

die  zwar  sämmtlich  von  geometrisclier  Grundform,  aber  untereinander 
niclit  gleich  sind ,  sondern  verscliiedene  Konfig'urationen  darstellen : 
Dreiecke,  (^»uadrate,  Eauten,  Sechsecke,  deren  je  mehrere  zusammen 
sich  zu  einer  grösseren  Kontlguration  höherer  Ordnung  (Zwölfecken, 
Sternen)  zusammenfassen  lassen.  Es  sind  dies  die  direkten  und 
nächstverAvandten  Vorläufer  der  saracenischen  Polygonal- 
ornamentik  mittels  eckig  gebrochener  Bänder.  Nur  wollte  sich  der 
klassisch -antike  Kunstsinn  mit  bloss  geometrischen  Konfigurationen 
nicht  gern  begnügen:  wir  sehen  daher  in  die  einzelnen  Sechsecke  u.  s.  w. 
in  Fig.  169  kleine  ornamentale  Motive  —  in  diesem  Falle  allerdings 
von  sehr  einfacher,  fast  geometrischer  Grundform  —  eingesetzt.  Und 
selbst  diese  haben  schon  genügt,  um  den  unendlichen  Rapport  an  den 
Eändern  zu  stören,  zu  trüben:  die  besagten  Füllmotive  waren  eben 
nicht  so  absolut  geometrischer  Natur,  oder  —  was  dasselbe  ist  —  sie 
waren  nicht  so  symmetrisch  komponirt,  um  sich  nach  Bedarf  einfach 
halbiren  zu  lassen.  Und  damit  haben  Avir  auch  den  Hauptgrund  be- 
rührt, warum  der  unendliche  Rapport  bei  den  Römern  niemals  zu  einer 
so  maassgebenden  Rolle  gelangen  konnte  wie  später  im  Mittelalter: 
der  Römer  wollte  sich  nicht  mit  bedeutungslosen  geometrischen  Füllseln 
begnügen,  er  wollte  das  Figürliche  nicht  missen. 

Der  Belege  für  das  eben  Gesagte  lassen  sich  noch  mehrere  auf- 
zählen. Haben  wir  es  in  Fig.  169  an  den  Eändern  immerhin  noch  mit 
leidlicli  für  sich  abgeschlossenen  geometrischen  Kompartimenten  zu 
tliun  gehabt,  so  sind  in  einem  anderen  Falle '5^)  die  das  Rautennetz 
bildenden  Spitzovale  an  den  Rändern  etwa  in  Dreiviertellänge  abge- 
schnitten, nur  damit  die  schwebenden  Eroten  und  Bacchantinnen  und 
die  graciösen  Blumenzweige  innerhalb  der  von  je  vier  Spitzovalen  ein- 
geschlossenen sphärisch-quadraten  Kompartimente  vollständig  zur  Dar- 
stellung gebracht  werden  konnten.  Man  opferte  lieber  den  unendlichen 
Rapport  und  die  Reinheit  des  ornamentalen  Grundplans,  als  dass  man 
den  Gebrauch  der  dekorativen  Figuren  eingeschränkt  hätte. 

Einen  überaus  wichtigen  Schritt  zur  Vervollkommnung  dieser 
reicher  variirten  Flächendekoration  nach  geometrischem  Grundschema 
bedeuten  jene  Deckenverzierungen  (Fig.  170)^^),  an  denen  kreisförmige 
und  sphärisch -polygonale  Kompartimente  mit  einander  abwechseln, 
und  durch  verschlungene  Bänder  unter  einander  verbunden  erscheinen. 
Bedarf  es  da  noch  eines  weiteren  Beweises  für  unsere  Annahme,  dass 


")  Niccoliiii,  Descriz.  gener.  XLVI. 

*'■•)  Niccolini,  Terme  ]iresso  la  porta  Stabiana  IIT,  IV 


312 


Die  Arabeske. 


die  polygonalen  Bandverschliuirungen  der  saracenischen  Kunst  un- 
mittelbar auf  spätantike  Anfange  zurückgehen ?  —  dass  sie  nichts 
Anderes  sind  als  die  aussersten  und  konsequenten  AusbiUlungen  einer 
geonietrisirenden  Tendenz  in  der  Flächendekoration,  deren  erste  leise 
und  schüchterne  Regungen  sich  bis  in  die  vorgesclirittenere   hellenisti- 


/w^wj^:j^ 


rip.  170. 
l'oiiipojaniiiCiK;  Dcckemlckmation   in  liemalioin  .'^tiick. 


sehe  Zeit  zurückverfolgcii  lass<'ii  uml  (linn  t'nrtgcsetztc  Verfolgung 
durch  so  viel  ^rosaikfnsshiWlm  \'iii  Trici'  liis  Afrik.-)  niMntnHri)i;il  (.■!•- 
wiesen  vorliegt? 

In    Fig.    1 7o  sind   die  s)iliiii'ischiii    Kunip.irtinicnli'    .ilternials  linrch- 
weg  niit   ligiiriiclien   l);ii-.<tellnngen  gcfiilli.  w.'is  w  iidi  rnm  die  ciiirteiicn 


2.    Frühsaracenische  Rankenornamentik. 


o  1  •,> 

OlO 


Schwierigkeiten  an  den  Rändern  zur  Folge  hatte.  Die  pompejanische 
Kunst  hatte  es  aher  auch  zu  Wege  gebracht,  einen  Ausgleich  zti  finden 
zwischen  dem  geometrischen  Grundschema  und  der  Xeigung  für  eine 
nichtgeometrische  Füllung:  indem  sie  entsprechend  stilisirte  vege- 
tabilische Motive  dazu  verwendet  hat,  um  damit  geometri- 
sche Kompartimentc  zu  bilden.  Der  Beweis  liegt  vor  auf  einer 
niosaicirten  Säule  im  Xeapeler  Museum  (Fig.  171)*'^):  das  Rautennetz 
ist  durch  Blüthenkelche  hergestellt,  die  auf  gerade  Diagonallinien  auf- 
gereiht sind;  an  den  Durchkreuzungsstellen  sitzen  Rosetten  mit  vier 
kreuzweise  davon  ausgehenden  dreispaltigen  Blüthenprofilen,  als  Fül- 
lungen dienen  gleichfalls  Rosetten,  wofür 
auch  der  Grund  klar  zu  Tage  liegt:  die 
Rosette  zeigt  nämlich  die  symmetrischeste, 
und  daher  geometrischeste  Projektion,  in 
der  sich  überhaupt  Blumen  darstellen 
lassen. 

Die  Wichtigkeit,  die  das  eben  erörterte 
pompejanische  Flächenmuster  innerhalb  der 
Gesammtgeschichte  der  Ornamentik  bean- 
spruchen darf,  kann  nicht  genug  betont 
werden.  Es  liegt  uns  hiemit  ein  vollkom- 
mener unendlicher  Rapport  vor,  bestritten 
durch  vegetabilische  Motive  in  der  ent- 
sprechenden Auswahl  und  Stilisirung.  Zum 
ersten  Male  tritt  uns  hier  dieses  Schema 
entgegen,    das    späterhin    in    der  saraceni- 

schen  Dekoration,  insbesondere  in  der  Ornamentik  von  Teppichen 
und  Fliesen  von  so  übermächtiger  Bedetitsamkeit  geworden  ist:  halbe 
Blumenprofile  an  den  Rändern,  die  sich  in  der  Phantasie  zu  ganzen 
ergänzen  und  somit  das  Muster  in"s  Unendliche  fortspinnen  lassen. 
Wie  überraschend  dieses  Beispiel  uns  innerhalb  der  pompejanischen  Orna- 
mentik entgegentritt,  wird  erst  recht  klar,  wenn  man  sich  vergegen- 
wärtigt, Avie  peinlich  die  Römer  noch  in  viel  späterer  Zeit  darauf  ge- 
sehen haben,  vegetabilische  Ornamente  in  der  Komposition  als  untheil- 
bares  Ganzes  zur  Anschauung  zu  bringen.  Als  solches  typisches  Beispiel 
für  römische  Flächendekoration  mittels  vegetabilischer  Ornamentmotive 
diene  Fig.  172*'' j. 


ilnsai Filter  Säulen»cliaft 
aus  Pompeji. 


*^)  Niccoliui,  Descriz.  gen.  LXIII. 

")  Desgodetz,  Les  editices  antiqiies  deEome,  Temple  du  Jupiter  tonnant  III. 


314 


Dir  Arabeske. 


Xocli  eines  Punktes  muss  hier  Erwähnung  geschehen,  da  ein  still- 
sehweigendes  Darüberhinweggehen  Missdeutung  erfahren  k(">nnte.  Man 
hat  nämlich  aueli  das  Schema  des  nnendlichen  Rapports  in  dem  ausge- 
bildeten {'har.iktcr  wie  es  uns  in  Fig.  171  entgegentritt,  sowie  alle 
anderen  ornamentalen  Systeme  aus  technischen  Prämissen  al>zuleiten 
gesucht,  und  namentlich  mit  dem  Plattenbelag  identiticirt.  Diese 
Hypothese  beruht  auf  der  Walirnelimung,  dass  der  unendliche  Rapport 
sich  in  der  Regel  auf  polygone,  vielfach  sogar  auf  quadrate  Grund- 
formen zurückführen  lässt.  Avas  für  die  Technik  des  Fliesenmosaiks  in 


1 1!  iii-HüJug^Tiv'timuiMv  \v-  \\  www  ivw  n'  u'  vyT{nt;:!:w^'^TrT(r!iT'~^'WW--'tff"TC''l!'^Tif 


ts^^isStiStiiJtmmit^m^mtwmM 


Fi^-.  172. 
■^knlpirte  Füllung  von  einem  rilmisclien  (Icbillkstlick 


der  Tliat  den  \'<H'ilicil  mit  sich  braelite,  dass  iiiaii  eine  Unzahl  von 
Fliesen  mit  dem  gh-iclien  .Miistei"  brennen  könnt«'.  di<'  einfach  n«'l)cn 
einander  gelegt,  ein  vcjlikdiiiniriic,-^  und  vei'liälliiissnuissig  reiclies  .Muster 
ergal»en.  Alter  aueh  in  diesem  Falle  liai  niaii  (im  kausalen  Sai-hver- 
lialt  umgekehrt.  Dass  die  Fliesenfabrikatioii  (kIit  ^\i-v  ..Platleiibelag" 
sich  mit  Eifer  dieses  dekorativen  Systriii>  lirmäeliiigtc,  das  .'-icii  {\vv 
genannten  'ricjniik  in  «Iit  That  ganz  licsonders  eniiilahl.  ist  Ja  gewiss 
nur  natüriieli.  Dass  alter  der  niifiidliehe  Ixa))])!)!-!  zuerst  an  Fliesen 
Anwendung  gefunden  haben  soll,  ist  selileehli  rdiugs  iinhewiesen.  Kein 
Bel.spiel  aus  rönii>rh<'r /cit    lässt   sieh  daliir  aiiliilirrii :   w.is  wir  im  \'(>r- 


2.    Frühsaraceni.sche  Kankeiionianientik.  315 

stehenden  an  einschlägigen  pompejanischen  Denl^mälern  Icennen  gelernt 
halDen,  ist  durchweg  entweder  in  bemaltem  Stuck,  oder  in  Wand- 
malerei, oder  in  Stiftmosaik  ausgeführt,  in  keinem  einzigen  Falle  mittels 
grösserer  Platten.  Dagegen  hat  man  in  Ländern,  in  denen  der  ge- 
brannte Thon  die  Stelle  des  —  fehlenden  —  Steins  vertreten  musste, 
schon  sehr  frühzeitig  bemalte  Fliesen  gebraucht,  wie  in  Chaldäa  und 
hienach  in  Assyrien.  Aber  diese  emaillirten  quadratischen  Fliesen 
aus  dem  alten  Mesopotamien  zeigen  keineswegs  Ornamente  nach  un- 
endlichem Eapport  zusammengestellt,  sondern  Darstellungen  gegen- 
ständlichen Inhalts  wie  diejenigen  aus  Khorsabad  (bei  Place,  Ninive), 
oder  Bogenfriese  mit  aufgereihten  vegetabilischen  Ornamenten,  wde  in 
unserer  Fig.  33,  S.  88. 

Wir  werden  daher  auch  für  Erscheinungen  gleich  Fig.  171  nicht 
technische,  sondern  künstlerische  Momente  als  die  zeugenden  und 
bildenden  anzunehmen  haben.  Und  diese  dürften  im  letzten  Grunde 
keine  anderen  gewesen  sein,  als  diejenigen  die  zur  allmählichen  Ent- 
naturalisirung  des  Akanthus  und  der  Kanke  geführt  haben.  In  der 
That  laufen  von  nun  an  Iteide  Erscheinungen  parallel.  Wo  wir  den 
ersten  ausgesprochenen  Umbildungen  des  Akanthus  begegnen  —  im 
Ostrom  des  5.  und  G.  Jahrhunderts  —  dort  tritt  uns  auch  die  Wand- 
verzierung nach  dem  Schema  des  unendlichen  Eapports  in  häutigerer 
Anwendung  entgegen,  —  P>eides  etwa  auf  dem  halben  Wege  der  Ent- 
wicklung, die  erst  in  der  saracenischen  Kunst  an  das  äusserste  Ziel 
gelangt  ist.  Fig.  144  enthält  noch  eine  völlig  in  antikem  Geiste  kon- 
cipirte,  wenn  auch  im  Einzelnen  bereits  stark  veränderte  Ranken- 
ornamentik. An  Fig.  145  vollzieht  sich  der  Uebergang  in  ein  geometri- 
sches Grundschema ,  aber  der  unendliche  Rapport  ist  doch  noch  recht 
mangelhaft  zum  Ausdruck  gebracht:  am  deutlichsten  in  der  Halbpal- 
mette unten  am  Rande,  die  man  in  der  Phantasie  zu  dem  vollen  Fächer 
einer  gesprengten  Palmette  zu  ergänzen  hat.  Ein  vollständiges  Beispiel 
von  unendlichem  Rapport  giebt  aber  Salzenberg  a.  a.  0.  auf  Taf.  XXV.  2: 
in  der  Anordnung  und  selbst  in  den  Motiven  herrscht  darin  mehrfache 
VerAvandtschaft  mit  dem  pompejanischen  Beispiel  Fig.  171,  weshalb  ich 
davon  keine  Abbildung  gebe.  Einschlägiges  Material  ist  übrigens 
an  Denkmälern  der  oströmischen  Kunst  so  zahlreich  erhalten,  dass  es 
eine  eigene  Bearbeitung  lohnen  würde.  Ich  gebe  daher  in  Fig.  173 
bloss  ein  besonders  charakteristisches  Beispiel  aus  Beturs a  (Syrien)*^^). 

^-)  Nach  de  Vogüe,  Syrie  centrale  Taf.  43. 


316 


Die  Arabeske. 


Die  Bänder,  die  hier  theils  vierpass-,  tlieils  hretzenförinig-e  Ver- 
schlinguiig'en  bilden,  sind  —  was  dem  obertläeliliclieui  Besclianer  voll- 
ständig: entgeht  —  Jedes  nach  Art  eines  liegenden  Kreuzes  hingwlegt, 
Avorin  sich  bereits  die  für  die  Saraceuen  so  charals;teristische  Tendenz 
nach  Verräthsehmg  der  Schlingbewegungen  unzweideutig  ankündigt. 
Als  Füllung  dient  eine  Rosette,  die  aus  vier  byzantinischen  Akanthus- 
Dreiblättern  zusammengesetzt  ist.  An  den  Rändern  bezeichnen  halbe 
Rosetten  in  halben  Vierpässen  den  uuendlii-lieu  Rapport,  in  den  oberen 
Ecken  sind  dieselben  folgerichtig  vollciuls  auf  ein   \'iertol   r<(Uu-irt. 


Fig.  173. 
Skulpirte  Füllung  aus  Hetursa  (.Sj-ricn>. 


"Wir  krhrrn  nunmehr  zu  unserer  Darstellung  der  Rankenorna- 
mentik auf  frühsaracenischen  Denkmälern  zurück.  Fig.  174'^'')  zeigt  die 
geschnitzte  Vorderwand  eines  Elfenl)rinkästchens,  dass  sich  gegen- 
Avärtig  im  Musec  des  arts  decoratifs  zu  Paris  Ixiindet.  Eine  Inschrift 
am  Deckel  bezieht  sich  auf  das  Jahr  905  n.  Chr. .  also  ungefähr  ein 
Jahrhundert  nach  der  Entstehung  der  Stuckonianicute  der  Moschee  des 
Um  Tuluu  zu  Kairo,  l'n-idc  lljilftcn  —  rechts  und  links  vom  Scliloss- 
beschlag  —  entsprechen  einander  in  vrilligcr  Synnnetrie,  so  dass  wir 
Ijloss  eine  Hälfte  zu  enirtern  brauclien.  In  vicliu  Details  erweist 
sich  Fig.  171  elier /jiriickgeiilielieu  in  der  l'Jitwicklung  uegeiiüber  .jenen 
älteren  Beispielen.  Die  spiraligen  Abzweigtingen,  die  Stiele,  an  denen 
die  grösseren  Blüthen  sitzen,  und  anderseits  die  geringe  Rolle,  die  den 
kleinen   unfreien  Halbpalmettcn   zugewiesen  ist,  lassen  den  engen  Zn- 


'''••)  Schlumbcrger,  Un   empercur   byznntin    'In    X'''"'^  .sieclo.     r.-nis  IS'IO. 


.S.  125. 


2.    Frühsavacenische  iiankenornainentik. 


317 


sammenhang  mit  dem  antiken  Rankenornament  noch  recht  greifbar 
deiitlicli  ersclieinen.  Das  Gleiche  gilt  von  der  an.sg'esprochen  vegeta- 
bilischen Modelliriing,  der  feinen,  kleinlichen  Fiederung  sämmtlicher 
Blattmotive:  dass  dies  auf  eine  stilistische  Veränderung  mit  dem 
Akanthusblatt  zurückgeht,  wurde  schon  auf  S.  2l)!>  auseinandergesetzt, 
und  erscheint  vollends  bewiesen  durch  Fig.  175,  wo  der  Akanthus  zum 
Theil  noch  mit  den  rund  herausgebohrten  Pfeifen  zwichen  den  ein- 
zelnen Zacken  versehen  ist ''').  Auch  sind  die  fein  ausgezackten  Konturen 
der  Blätter  ohne  umschreibende  glatte  Aussenlinie  geblieben.  Dennoch 
Avird  schon  beim  ersten  Anblick  Niemand  an  der  saracenischen  Her- 
kunft   dieses  Kästchens    ZAveifeln.     Es    liegt    dies    vor  Allem    an    dem 


Fig.  174. 
Voi-derwaucl  eines  saracenischen  Elfenbcinkästcbens,  datiit  vom  Jahre  905  n.  Cli. 


eigenthümlichen  Polygon,  welches  die  Hauptranke  in  der  ganzen  Höhe 
der  Wand  bildet,  ferner  in  gewissen  Durchschneidungen  der  Ranken, 
endlich  —  wie  es  wenigstens  zunächst  den  Anschein  hat  —  in  der  Be- 
handlung einiger  Blüthenmotive. 

Es  ist  eben  charakteristisch  für  diesen  ganzen  Umwandlungs- 
process  der  nattiralistischen  antiken  Ranke  zur  geometrisirend-stilisirten 
Arabeske,  dass  derselbe  an  verschiedenen  Punkten  gleichzeitig  ansetzt 
und  in  der  Fortbildung  keineswegs  gleichmässig  verfährt :  hier  wird 
die  Schematisirung  der  Motive  mehr  gefördert,  dort  diejenige  der 
Rankenführung,   Avie   es  eben   auf  einem  so  weit  ausgedehnten  Gebiete 


'^')  Beiläufig-  bemerkt,  war  die  Behandlung-  des  Akanthus  au  abend- 
ländischen Arbeiten  (Elfenbeinschnitzereien,  Miniaturmalereien)  jener  Zeit  nicht 
selten  g-enau  die  o-ieiche. 


318  Die  Arabeske. 

zwischen  Pyrenäen  nnd  Jtinduknsch  niclit  anders  geschelicn  konnte. 
Gewiss  wird  man  beim  Aveiteren  Verfolg'en  der  Geschichte  der  saraee- 
nischen  Kunst  dazu  gehing:e]i,  bestimmte  lokale  Gruppen  genau  zu 
unterscheiden  und  zu  charakterisiren.  Heute  handelt  es  sich  noch 
darum,  das  Einheitliche  in  dem  ganzen  Knnvicklungsgange  aufzuzeigen, 
das  seine  —  einzig  mögliche  —  "Wurzel  in  der  gemeinsamen  spätantik- 
byzantinischen  Kunst  hatte,  d.  h.  in  jener  Kunst,  die  in  allen  die>en 
über  drei  Welttheile  sich  erstreckenden  Ländern  l)eim  Aufkommen 
des  Islam  die  herrschende  gewesen  ist. 

Erörtern  wir  nun  kurz  die  vorhin  lixirten,  specitiscli-saracenischen 
.Alotive  an  Eig.  174.  Es  ist  dies  erstlich  die  Einrollung  der  Haupt- 
ranke zu  einem  Polygon  mit  theilweise  sphärischen  Seiten.  Dasselbe 
dient  als  Rahmen  einer  Konfiguration  von  zwei  einander  doppelt  ülM^r- 
schneidenden  Rankenzweigen.  J3esonders  charakteristisch  ist  dabei 
die  untere  Durchschneidung,  die  in  der  Weise  geschehen  ist,  dass  die 
daran  ansetzenden  Hal])blätter  eine  Art  Vollblatt  bilden.  Die  Blüthen- 
motive  sind  aus  akanthisii'cnden  Blättern  gebildet  und  zeigen  zweierlei 
Typen:  in  einander  geschachtelte  zwei  Kelche  mit  krönendem,  palmetten- 
fächerartigem  Blatt,  oder  (inneiiialb  des  Kielbogens)  seitwärts  ge- 
krümmte lange  Fächer  über  einem  Kelch  aus  kreisfV>rmig  eingerollten 
Voluten.  Die  Ableitung  dieser  Blüthenformen  Avird  uns  weiter  unten 
des  Besonderen  beschäftigen. 

Vorerst  wollen  wir  aber  noch  ein  zweites  Elfenl)einkästchen 
(Fig.  175)  in  Betracht  /.ielieii,  woran  so  nahe  Beziehungen  zu  dent 
datirten  Stück  Fig.  17  1  zu  beobachten  sind,  dass  wir  beiden  wohl  un- 
gefähr die  gleiche  Zeitstellung  einzuräuiueii  gezwungen  sind.  Die 
deutlich  antikisirende  Bildung  des  Akantlius  und  das  Fehlen  des  Poly- 
gons von  Fig.  174  scheinen  zwar  geeignet,  uns  in  Fig.  175  eher  eine 
frühere  Entwicklungsstufe  erblicken  zu  lassen;  das  Gleiche  gilt  von  den 
Spiralranken,  die  aus  den  Halbpalmetten  am  (il)i'i'en  l\ande  der  Vorder- 
Avand  gleichsam  ZAvickeltÜllend  herA^orbrecheu.  Aber  anderseits  fehlt 
es  auch  Avieder  nicht  an  l'uiilsten ,  Avelcjie  den  „saracenischen"  Cha- 
rakter von  Fig.  175  reehl  deutlieh  niaeheii.  So  die  vielfachen  \>-v- 
schlingungen  'namentlich  am  Deekel  i.  ilie  Dnrchschneidungen  wn 
Blättern  und  Ranken  und  die  Stilisirung  dei-  einzebien  P)lattmotive. 
In  den  Gabehingen  rechts  und  links  vom  Schlosslx-sehlag  auf  dei- 
Vordei'Avand  erscheinen  ganze  Akanthusblätter  eingesetzt,  mit  eine)- 
Einziehung  in  der  Mitte:  es  ist  dies  di«-  leil»haftige  saraceniselie  ( iabel- 
ranke   (B^ig.  138,  13f>  a,  b).     Ilinsichtiieh    dei-    iietontcn    Einziehung    in 


2.    Frühs.-iracenische  Rankenoniamentik. 


319 


der  Mitte  dieses  Motivs  verweise  ich  aucli  auf  die  entAvicklung'sg'e- 
schichtlich  damit  zusammenhängenden  Schlitze,  die  uns  an  den  Pal- 
metten Fig'.  167,  lii8  (S.  307)  entgegengetreten  sind,  und  die  nunmehr 
ihre  Erklärung  finden.  Die  Ranke,  an  der  sich  die  eben  besprochene 
Gabelung  vorfindet,  erscheint  unmittelbar  unterhalb  dieser  Gabelung 
von  einem  grossen  Akanthusblatt  überschnitten.  Dasselbe  ist  durch 
die  —  allerdings  akanthisirend  gebildete  —  Volute  am  Ansatz  als  Halb- 
palmette   charakterisirt ,    wie    es    denn    überhaupt   für  diese  Stufe  der 


rig.  175. 
Spanisch-saracenisches  Elfenbein kästchon. 


saracenischen  Ornamentik  als  geradezu  charakteristisch  bezeichnet 
werden  darf,  dass  die  allgemeinen  Umrisse  von  den  zum  Geometrischen 
neigenden  flachen  Palmettentjq:)en,  die  Einzelbehandlung  dagegen  meist 
vom  Akanthus  entlehnt  ist.  Auch  jene  eben  erwähnte  akanthisirende 
Halbpalmette  nun  nähert  sich  sehr  dem  Habitus  der  saracenischen 
Gabelranke,  die  ja  eben  aus  diesen  zwei  Wurzeln  herkommt:  derEanken- 
gabelung  mit  akanthisirender  Zwickelfüllung  und  der  Halbpalmette. 
Dass  übrigens  diese  beiden  Wurzeln  im  letzten  Grunde  auch  eins  und 
dasselbe  sind,  ist  uns  aus  der  Entwicklungsgeschichte  der  antiken 
Pflanzenrankenornamentik  längst  klar  geworden. 

Noch    auf  ein  Detail   an   Fig.  175  sei   aufmerksam  gemacht:    die 


Die  Arabeske. 


Eanke,  welche  in  der  zuletzt  erörterten  H;ilbi);ilmette  endigt,  ents^eudet 
kurz  vorher  einen  unfreien  Halbblattfäelier,  der  die  Hauptranke  durch- 
schneidet und  mit  einem  gleichartigen  Gegenüber  in  symmetrischer 
Paarung  zusammentritt,  so  Avie  wir  es  zu  Aviederliolten  Malen  au  Halb- 
palmetten beobachtet  liaben.  die  zu  gesprengten  l'ahuetten  zusannnen- 
traten.  Dieses  eclit  ,.arabeske"  ^Motiv  tritt  gleich  den  früher  erwähnten 
in  der  Gesammtwirkung  nur  deshalb  zurück,  weil  die  akantliisirende 
Bildung  der  Details  den  Kindruck  vornehmlieh   beherrsclit. 

Da  die  Inschrift  des  Küstchens  (Fig.  175)  den  Namen  eines  spani- 
schen Khalifen  nennt,  so  erscheint  die  Herkunft  desselben  aus  spanisch- 
maurischem Kunstgebiet  ziemlich  sichergestellt.  Da 
ist  es  nun  gewiss  lehrreich  zu  selien,  dass  die  ehrist- 
lich-spanischc  Kunst  sich  der  gleichen  Stilisirung  des 
Akanthus  bediente.  Den  Nachweis  hiefür  möge  Fig.  17(> 
bieten.  Wir  sehen  da  einen  gerade  aufgesprossten 
Stannu,  von  dem  rechts  und  links  in  symmetrischer 
Paarung  je  zwei  Akanthushalbblätter  abzweigen.  Die 
Blätter  zunächst  dem  Stamme  sind  deutlich  voluten- 
artig eingerollt,  abei*  ebenso  wie  die  ülu'igen  Blatt- 
theile  fein  gefiedert.  Die  Bekriniung  bildet  eine  fünf- 
spaltige  Palmette,  die  von  den  zwei  Halbfächern  einer 
gesprengten  Palmette  eingerahmt  erscheint,  Die  akan- 
tliisirende Bedeutung  ist  auch  liier  durch  die  tiefen 
Einziehungen  zwischen  den  einzelnen  Blattgliedern 
sichergestellt,  und  die  Konturen  durchweg  in  der  gleichen  feinen  AVeise 
gefiedert,  wie  in  Fig.  17  1  und  IT.'i,  und  ausserdem  von  eiiu'r  glatten 
Umrisslinie  umzogen,  worin  w'w  mindestens  kein  unsaracenisches  ]\lo- 
ment  zu  erkennen  vermögen.  Kndlicli  zeigt  auch  der  fünfblättrige 
Fächer,  aus  dem  der  Stamm  emporwächst,  die  erörterte  akantliisirende 
Behandlung. 

Fig.  1  TU  ist  entlehnt  aus  dem  Codex  \'igilanus  im  l*>cni-ial.  und 
zwar  von  einem  Blatte  mit  bildlichen  Darstellungen,  d«  ren  l'>eiselii'it'ten 
im  paläograpjiischen  Charakter  noch  star]<  kursive  lllemenie  ;iiif\\('isen 
und  dalier  nicht  unter  das  '.K  .lalirli.  lierabgerückt  werden  ki'uinen,  und 
somit  gewiss  jünger  sind,  als  die  Kästchen  Fig.  171  und  17.'».  AVas  aber 
der  Fig.  17(>  besondere  Wichtigkeit  verleiht,  ist  die  Beisehrilt  ..ail)or", 
die  bei  ihren  AViederhoIungen  mchrlaeh  wiederkehrt.  Es  ist  also  sozu- 
sagen der  ..Id(!albaum'',  d(;n  sieh  die  spanischen  Miniaturisten  der 
Karolingischen  Zeit    unter  solclieii    mit  Akanthusl)l;itteni    besetzten  Ge- 


r ig.  ITC. 


2.    Frühsaracenische  Eankenornaiiieiitik.  321 

bilden  vorgestellt  haben.  Muss  da  nicht  die  Bedeutung-  dieser  Gebilde 
bei  ihren  Schülern,  den  Saracenen,  wenigstens  ursprünglich,  noth- 
wendigermaassen  die  gleiche  gewesen  sein? 

An  Fig.  174  konnten  wir  wahrnehmen,  dass  das  Akanthusblatt 
darin  nicht  bloss  zur  Stilisirung  des  Halbpalmetten fächers  —  also  in 
seiner  traditionellen  historischen  Funktion  —  verwendet  erscheint, 
sondern  auch  zur  Gliederung  der  Voluten,  die  als  Halbkelch  am  An- 
sätze einer  jeden  solchen  Akanthus-Halbpalmette  —  gleichfalls  einem 
traditionell-historischen  Schema  zufolge  —  angebracht  wurden,  und 
endlich  zur  Zusammensetzung  der  grösseren  Blüthenmotive  selbst, 
in  welche  die  Ranken  frei  endigen.  Diese  umfassende  Anwendung  des 
Akanthusblatts  müsste  uns  in  einer  Kunst,  deren  Ziele  auf  das  Abstrakte, 
Symmetrisch-Schematische  gerichtet  waren,  Wunder  nehmen,  wenn  sie 
in  diese  Kunst  neu  aufgenommen  wäre.  Sie  ist  aber  nicht  minder  ein 
überkommenes  Erbstück  aus  der  späten  Antike.  Hier  ist  die  Stelle, 
um  auf  die  Rolle,  die  der  Akanthus  als  vegetabilisches  Einzelmotiv  in 
der  spät-antiken  und  früh-mittelalterlichen  Kunst  gespielt  hat,  näher  ein- 
zugehen: erstlich  um  gewisse  typische  Formen  der  saracenischen  Kunst 
zu  erklären,  zweitens  um  der  Frage  willen,  wohin  denn  das  weitaus 
wichtigste  Ornamentmotiv  der  Antike  ^  eben  der  Akanthus  —  im 
mittelalterlichen  Orient  gekommen  ist?  —  eine  Frage,  die  man  sich 
bisher  noch  gar  nicht  vorgelegt  zu  haben  scheint,  da  man  eben  unter 
dem  lähmendem  Drucke  der  allverbreiteten  Meinung  stand,  dass  für 
die  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Ornamentik  das  Kausalitäts- 
gesetz keineswegs  unbedingt  geltend  gemacht  Averden  dürfte. 

Der  Ausgangspunkt  liegt  auch  hiefür  wieder  in  der  ausgebildeten 
hellenistischen  Kunst.  Fig.  177  zeigt  die  Eeliefverzierung  einer  steinernen 
cylinderförmigen  Ära  aus  Pompeji^').  Das  Ornament  trägt  alle  charak- 
teristischen Züge  der  hellenistischen  Dekorationskunst.  Die  mit  einer 
Schleife  umwundenen  Embleme  des  Herkules  repräsentiren  die  unver- 
meidliche Götter-  und  Heroensage,  aber  in  spielender  dekorativer  Be- 
handlung, trophäenartiger  Zusammenstellung;  dahinter  zwei  gekreuzte 
Zweige,  die  nach  abwärts  divergiren  und  mit  den  von  beiden  Seiten  ent- 
gegenkommenden Zweigen  unten  zu  Festons  verknüpft  werden.  Wir  ahnen 
zwar  den  kreisförmigen  Schwung  der  ornamentalen  Ranke,  sehen  aber 
nur  knorrige  blätterbesetzte  Zweige.  Soweit  athmet  alles  Naturalismus. 
Wenn  wir  aber  dasjenige,    womit  die  Zweige  belaubt  sind,    in's  Auge 


'1)  Niccolini,  Descriz.  genev.  XCVI. 

Riegl,  Stilfragen.  •^l 


Q09 


Die  Arabeske. 


fasseil,  so  geratlien  wir  in  A'erleg'enlieit.  Zwar,  dass  es  Blätter  sind, 
ist  bis  auf  eine  geringe  Anzahl  von  knospenartigen  Endigungen  viUlig 
klar;  welcher  botanischen  Species  gehören  aber  dieselben  an?  Es  ist 
eben  nicht  eine  bestimmte  südliche  Blattflora,  die  uns  da  entgegentritt. 
sondern  ein  rein  ornamentales  Blattwerk.  Der  Charakter,  den  der 
Naturalismus  der  hellenistischen  Zeit  besessen  hat,  lässt  sich  kaum  an 
einem  anderen  Beispiele  so  treffend  nachweisen,  wie  an  Fig.  17(>.  Es 
ist  das  Akanthusornament,  das  hier  tlazu  l^enutzt  ist,  um  ein  Blattwerk 
von  rein  ornamentaler  Herkunft  und  Daseinsberechtigung  zu  Schäften, 
—  gleichAvohl  aber  ein  BlattAverk,  das  den  Beschauer  nicht  einen  Augen- 
blick  darüber  im  Zweifel   lässt,   dass  eben   ein  solches   damit   ücmeint 


•    l'ig.  177. 
ücliefverzierung  eines  Steincylinders,  aus  Pompeji. 


ist.  Während  Avir  z.  B.  angesichts  der  alten  strengen  Palmette  uns  niclit 
bloss  fragen,  auf  welche  Iilumeiisi)eei('S  sie  wohl  zurüekgehen  möchte, 
sondern  vor  Allem,  ob  iil)erliaupt  eine  Blume  (l.iliintei-  zu  suchen  ist, 
fällt  an  dem  B]aiiw<-i-k  in  Fig.  ITii  eine  solche  Frage  liinweg.  Was  in 
diesem  Falle  die  Intention  des  Künstlers  gewesen  ist,  leidet  keinen 
Augenlilick  Zweifel:  es  galt  ein  ornamentales  Blattwerk  darzustellen, 
und  zu  diesem  Zwecke  verwendete  der  Künstler  das  iliui  traditionell 
überkommene  und  für  äliidiclie  Zwecke  hewähiMe  Akanthusornament. 
Der  Naturalismus  der  helleuistisclien  Künstler  ging  in  der  Ornamehtik 
nielil   l»is  zum    unmittelbaren  Absclireiben  der  Natur"):   die  dekorative 


")  Wolil    aber,    wenn    die    Al)>icht   auf  geu'enstiintliiclic  Darstellung'   vor- 
handen war.   in    wek-liem  Falle   uiau  der  Xatui'  ihre  charakteristiselicn  Seiten 


2.    Frühsaracenische  Rankenornamentik.  32o 

Kunst  bewalu'te  sich  noch  immer  ihre  eigene  Sphäre,  wenngleich  sie 
an  ihren  Hervorbringungen  den  Zusammenhang  mit  der  lebendigen 
und  realen  Natur  deutlicher  durchblicken  liess  als  dies  jemals  in  den 
zeitlich  voraufgegangenen  Künsten  der  Fall  geAvesen  war. 

Dieser  Punkt  ist  nicht  bloss  für  die  hellenistisch-römische  Pflauzen- 
ornamentik,  sondern  für  das  dekorative  Kunstscliafifen  aller  vergangenen 
Jahrhunderte  bis  auf  die  neueste  Zeit  allzu  wichtig  und  bedeutsam,  als 
dass  es  überflüssig  erscheinen  könnte,  denselben  noch  an  einem  weiteren 
Beispiele  zu  erläutern.  Fig.  178")  zeigt  die  Reliefverzierung  von  einer 
anderen  steinernen  Ära  aus  Pompeji.  Aus  einem  doppelten  Blattkelch 
(der    gleichfalls     unsterbliche    historische   Nachfolge    gefunden  hat)   — 


Fig.  178. 
Steincyliuder  mit  Keliefverzieriing,  ans  Pompeji. 


einem  ab-  und  einem  aufwärts  gerichteten  —  entspriessen  zwei  Ranken, 
die  nach  bekanntem  hellenistischen  Schema  (Fig.  121)  sich  nach  Rechts 
und  Links  entfalten,  spiralig  einrollen,  ja  sogar  verschlingen.  In  diesem 
Falle  erscheint  ausnahmsweise  auch  die  botanische  Species  charakteri- 
sirt,  die  wir  uns  darunter  vorzustellen  haben:   kleine  Träubchen  sagen 


trefflich  abzulauschen  wusste.  AUerding-s  ist  dann  oft  in  Fällen  wie  z.  B.  Ant. 
Denkm.  I.  11  (Wandbild  in  Prima  Porta)  die  Grenze  zwischen  g-egenständ- 
licher  und  dekorativer  Absicht  nicht  mehr  streng-  zu  ziehen.  Solche  Fälle 
scheinen  vielmehr  zu  beweisen,  dass  man  schon  in  der  aiigusteischen  Zeit 
sich  auf  einem  Wege  zum  Realismus  in  der  Kunst  befand,  von  dem  man 
jedoch  alsbald  abgekommen  ist,  um  sich  ihm  erst  wieder  in  neuerer  Zeit, 
diesmal  aber  entschiedener,  zuzuwenden. 
^^)  Niccolini  ebendas. 

21* 


324  Die  Arabeske. 

ims  nämlicli,  das  es  Eebrankcn  sind,  die  sich  da  nach  dem  altgriechi- 
schen  Schema  der  dekorativen  Wellenranke  über  die  Fläche  des  Cy- 
linders  verzAveigen.  Betrachten  Avir  aber  die  Blätter:  ihre  Form  ver- 
stösst  zwar  nicht  ang'enfällig  gegen  das  Aussehen  von  realen  "Wein- 
blätteru,  aber  ein  Botaniker  wird  sie  als  Kopien  nach  der  Xatnr  ge- 
wiss sehr  mangelhaft  finden.  „Diese  Weinblätter  sind  nicht  streng  nach 
der  Natur  faesimilirt",  Avird  er  sagen,  „sondern  der  Künstler  hat  in  ihre 
Zeichnung  etwas  aus  seiner  Phantasie  hineinfliessen  lassen."  Und  was 
die  Phantasie  des  Künstlers  in  diesem  Falle  erfüllt  hat,  kann  für  uns 
keinen  Augenltlick  zweifelhaft  sein:  es  ist  Aviederum  das  Akanthus- 
ornament  mit  seinen  lappigen  Ausladungen  und  den  tiefen  „pfeifen"- 
artigen  Einziehungen  dazAvischen,  das  der  Stilisirung  dieser  „Weinblätter" 
zu  Grunde  liegt.  Immerhin  bezeichnet  eine  so  Aveitgehende  Annäherung" 
an  die  natürliche  Erscheinung,  Avie  sie  insbesondere  das  Einstreuen  a'ou 
Träubchen  beweist,  eine  Ausnahme,  für  deren  Erklärung  sich  aller- 
dings schAverAA-iegende  Gründe  geltend  machen  lassen:  A'or  Allein  die 
gegenständliche  und  symbolische  Bedeutung,  die  mit  dem  Weine  und 
Avas  damit  zusammenhängt  seit  frühester  historischer  Zeit  verknü]^ft 
worden  ist,  geAviss  aber  auch  die  augenfällige  VerAvandtschaft .  dir 
zwischen  der  ornamentalen  Ranke  und  der  Rebranke  olnvaltet.  ^^'ir 
finden  daher  die  Weinranke  nach  dem  Scliema  der  fortlaufe lu Ion 
Wellenraukc  bereits  auf  verhältnissmässig  so  frühen  Beispielen,  Avie 
der  sogen.  Alexandersarkopliag  A'on  Sidon  (pulil.  bei  Hamdy  Bey,  Ne- 
cropole  de  Sidon).  Dass  auch  in  diesem  Falle  das  Akanthusornament 
für  die  Stilisirung  des  Weinlaubs  A'orhildlich  gcAvesen  ist,  bcAveisen  die 
..Pfeifen",  doch  sind  hier  überaus  bezeichnendermaasscn  die  Konturen 
der  Weinblätter  entsprechend  dem  griechischen  Akanthus  (Fig.  111) 
spitz  ausgezackt,  zum  Unterschiede  von  der  Aveichen  und  lappigen 
Bildung  an  dem  römischen  Beispiel  Fig.  178. 

Wenden  Avir  uns  Avieder  zurück  zu  Fig.  177.  Die  einzelnen  aus 
dem  Akanthuseiement  gestalteten  IMätter  sind  nach  Bedürfniss  in  die 
Länge  und  Breite  gezogen;  von  ;iir  dii'scn  Pi'ujckiioucu  inicfi'^sin 
uns  bloss  eine:  es  sind  dies  die  zusammengefaheten  abAVärts  liängeuden 
Blätter,  die  mit  ihren  auswärts  gekrümmten  Spitzenden  bloss  längs  einer 
Ranke  aufgelegt  zu  Averden  brauclien,  um  als  Akanthushalbblätter  gelten 
zu  köuiHii.  Dieses  kraiitartig  zusammengefaltete  Akantliusl)latt  ist  es 
nämlicli,  das  in  die  si»ätrömisehe  Antike  und  mit  dieser  in  das  [Mittel- 
alter übergegangen  ist,  und  das  Element  zur  Zusammensetzung  neuer 
bedeutsamer  Blütheuniolivf  ircbildet   li.ii. 


2.    Friihsaracenisclie  Eankenornamentik. 


325 


Aber  auch  die  Verwendung'  des  Akanthut-  zur  Bildunj;-  neuer  kompli- 
cirter  Blüthenmotive  ist  keine  Neuerung  der  byzantinischen  Zeit.  Pom- 
peji bietet  hietur  bereits  überzeugende  Beispiele.  An  der  fortlaufen- 
den Wellenranke  (Fig.  179)'^)  endigt  die  Einrollung  rechts  in  eine  ge- 
meinübliche Kosette,  die  P]inrollung  links  dagegen  in  ein  buschiges  Ge- 
bilde, das  unzweifelhaft  aus  Akanthusblättern  zusammengesetzt,  dennoch 
nicht  als  Blatt,  und  somit  wohl  nur  als  Blume,  und  zwar  als  orna- 
mentale Blume  erklärt  werden  kann. 

Aus  früherer  byzantinischer  Zeit  bieten  die  besten  Beispiele  von 
komplicirten  buschigen  Blumenkelchbildungen  aus  zusammengefalteten 
Akanthusblättern  die  sassanidischen  Architekturfragmente,  Avovon  unsere 
Figuren  161 — 163  überzeugende  Proben  an  die  Hand  geben. 


Fig.  I7;t. 
Steinerner  Fries  mit  Ak;inthiis-Ranke  und  Blumen.     Aus  Pompeji. 

Der  Zeitpunkt,  von  welchem  ab  die  Ornamentik  in  den  dem  Islam 
zugefallenen  Provinzen  des  ehemaligen  oströmischen  Eeiches  einen  von 
der  Entwicklung  in  den  unter  byzantinischem  Scepter  verbliebenen 
Ländern  merklich  verschiedenen  Charakter  angenommen  hat,  lässt  sich 
heute  noch  nicht  genügend  deutlich  erkennen.  Soviel  ist  aber  schon 
aus  unserer  bisherigen  Uebersicht  klar  geworden,  dass  die  Fortbildung 
zunächst  lange  Jahrhunderte  des  früheren  Mittelalters  hindurch  keine 
politischen  Grenzen  gekannt,  hüben  und  drüben  den  gleichen  Weg  ge- 
nommen hat.  Freilich  konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass  das  Fortbildungs- 
tempo in  Ländern,  wo  die  Pflege  figürlicher  Darstellungen  in  Folge 
religiöser  Satzungen  geflissentlich  zurückgestellt,  wo  nicht  geradezu 
unterdrückt  wurde,  und  die  Kunst  somit  im  Wesentlichen  auf  die  Be- 
friedigung des  Schmückungstriebes,  auf  die  Ornamentik  allein  be- 
schränkt erschien,  ■ —  dass  das  Fortbildungstempo  der  Rankenornamentik 
in  solchen  Ländern  schliesslich  ein  rascheres  werden  musste,  als  inner- 
halb der  Grenzen  byzantinischen  Kunstgebietes,  wo  man  trotz  ikono- 
klastischer   Neigungen    doch    der    bildlichen  Darstellung   einer   Anzahl 


'')  NiccoUni,  Tempio  detto  volg-avmente  di  Mercurio  No.  8. 


326  ■  ^^ie  Arabeske. 

von  figürlichen  Typen  religiöser  Bedeutunü-  nicht  entsagen  -wollte  odw 
konnte. 

Im  '.'.  .Jalirli.  fanden  wir  an  den  Stnekornanienten  der  Moschee  des 
Ibn  Ttilun  zti  Kairo  die  ersten  Spuren  einer  Ditferenzirnng  saraceniselier 
und  byzantinischer  Ornamentik:  doch  muss  die  bezügliche  Entwicklttng 
zunächst  eine  sehr  langsame  gewesen  sein,  da  wir  sie  noch  fast  hundert 
Jahre  später  an  Elfenbeinschnitzereien  nur  um  Geringes  weiter  fort- 
geschritten angetroffen  haben.  Ja  man  darf  verninthen,  dass.  wenn 
erst  unsere  Kenntniss  der  byzantinischen  Ornamentik  ciuf  ein  grösseres 
und  umfassenderes  Material  gestellt  sein  Avird,  die  Differenzpunkte 
zwischen  der  byzantinischen  und  saraeenisclien  „Araljeske"  sich  eher 
noch  mehr  vermindern,  der  gemeinsame  Entwicklungsgang  für  beide 
sich  noch  um  ein  Stück  Aveiter  herab  verfolgen  lassen  Avird"^).  Erst  im 
12.  Jahrh.,  Avie  Avir  sehen  Averden,  tritt  uns  die  saracenische  ..Arabeske"' 
ziemlich  fertig  entgegen,  erscheinen  die  verschiedenen  charakteristisclien 
Züge,  Avelche  den  Begriff  der  Arabeske  zusammensetzen,  nicht  l)loss 
A'ereinzelt,  sondern  in  ihrer  Gesammtlieit  neben  einander  A-ertreten  und 
in  Folge  dessen  die  Beziehungen  zur  klassisclien  Kankenornanicntik 
nicht  mehr  so  unmittelbar  zu  Tage  tretend.  Ob  zAA-ar  Avir  also  —  Avie 
Eingangs  gestanden  Avurde  —  einen  genauen  Zeitpunkt  für  die 
Trennung  der  byzantinischen  und  der  saraccnisehen  EntAvicklnng 
in  der  mittelalterlichen  Rankem ini.uiu'iitik  heute  noch  niclit  lixircn 
können,  so  Averden  Avir  dieselbe  dnch  im  Allgemeinen  in  das  K».  und 
11.  Jahrh.  verlegen  dürfen,  Avdcher  weit  gespannte  Zeitraum  sich  aus 
dem  Grunde  rechtfertigt,  als  der  bezügliche  Process  in  den  Aveit  aus- 
gedehnten Gebieten,  über  AA'elche  sich  die  Herrschaft  des  Islam  im  Laufe 
der  Zeit  erstreckt  hat,  gewiss  nicht  einen  gleichmässigen,  sondern  «-inen 
zeitlich  sehr  verschiedenen  Gang  genommen  haben  muss. 

Die  ornamentalen  Elemente,  an  welchen  sicii  die  raschere  und 
somit  \'0u  der  strcngbyzantinisclien  verschiedene  EntAvicklnng  auf 
saraccnischem  Boden  \-ollzogen  liat,  müssen  notliAvendigennaasseii  die- 
jenigen gewesen  sein,  l)is  zu  denen  die  gemeinsam«'  Mntw  icl^liuiL;'  im 
Osten  des  Mittelmeeres,  im  ciii-istlieh  l)\/.iniini>ehen  wie  im  saraccni- 
sehen, zuletzt  geführt  liatt«-. 

Ist  nun  der  Trennungs]Mini<i  ii.icli  dem  eben  vorhin  Gesagten  im 
IM.  und   ]l.  .lalii'h.  zu  suclien,   ao    werden   Avir   lieni   uns  aus  die>er  Zeit 


")  Sclioii   die  Beispiele   hei   Sta.s.setV  a.  a.  o.  T.if.  1^*0 — iL'l    lassen    dieseu 
Kindruck  recht  überzeugend  "■eAvinneu. 


•2.    Frühsaracenische  liankenornamentik.  327 

Ijekannt  gewordenen  Pflanzenrankenornament  In' zant inischer  Her- 
kunft besondere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  liaben,  da  dasselbe  eben 
die  letzte  Phase  gemeinsamer  byzantinisch-saracenischer  und  zugleich 
den  Ausgangspunkt  für  die  erste  Pliase  einer  rein  saracenischen  Orna- 
mentik repräsentirt.  Am  besten  unterrichtet  sind  wir  über  das  Kunst- 
schaffen dieser  Zeit  im  byzantinischen  Reiche  aus  ^[iniaturhandschriften, 
deren  Pflege  man  damals  augenscheinlich  ganz  besonders  zugewandt 
war.  Die  ornamentale  Ausstattung  der  Bücher  religiösen  Inhalts  war 
in  der  Regel  eine  sehr  reiche  und  buntfarbige.  Als  maassgebendstes 
Element  tritt  uns  hiebei  das  uns  im  Besonderen  beschäftigende,  das 
vegetabilische  entgegen,  und  zwar  sind  es  die  Blüthenformon.  die 
den  charakteristischen  Tlieil  dieser  Ornamentik  ausmachen. 

Es  sind  dies  Kombinationen  von  Akanthusblättern,  Avie  wir 
solche  schon  seit  pompejanischer  Zeit  (S.  325)  kennen  gelernt  haben. 
Fig.  180  zeigt   die   einfachste   und  vulgärste,    auch  in  der  romanischen 


Fig.  180.  Fig.  181.  Fig.  182.  Fig.  183. 

Byzantinische  ßlütheiibilduugen  aus  Akauthus. 

Kunst  des  Abendlandes  weit  verbreitete  Form:  den  Akanthuskelch.  Zwei 
der  Hälfte  nach  zusammengeklappte  Akanthushalbblätter  (Fig.  177, 
161 — 163)  treten  da  zu  einem  Kelch  zusammen.  Damit  haben  wir  das 
nackte  Schema  gegeben;  die  sozusagen  lebendige  Ausführung  in  Mini- 
aturmalerei zeigt  Fig.  ISC^).  Hier  erscheint  der  Kelch  gemustert  mit 
kleinen  Doppelschralfen,  und  versehen  mit  einem  Zwickelabschluss,  den 
das  mittelalterliche  Kunstgefühl  niclit  minder  wie  das  antike  fortgesetzt 
verlangte. 

Komplicirtere  Formen  zeigen  Fig.  181  und  182.  An  ersterer  ge- 
wahren wir  zu  Unterst  einen  Kelch  ähnlich  Fig.  180,  darüber  einen 
zweiten,  dessen  obere  Ränder  volutenartig  nach  abwärts  umgeschlagen 
sind.  Dazu  kommen  Avieder  füllende  Schraften  und  Zwickelabschlüsse. 
Charakteristisch  ist  die  Neigung  zum  Umklappen,  Einschlagen  der 
Ränder,    und  zu   geschweifter  Bewegung    der  Blattspitzen.     (Vgl.  auch 


'«)  Fig-.  180—183  nach  Stassott"  a.  a.  O.  Taf.  121:  Xo.  24,   aus  einer  Hand- 
schrift des  XI.  Jahrhdts. 


Die  Arabeske. 


die  Blume  in  der  Eiiirollung'  einer  Alianthnsranke  Fig.  liU.)  Diese  Be- 
wegung gestaltet  sich  mitunter  sehi'  lebhaft,  wie  in  Fig.  182,  avo  die 
Akauthushalbblätter  weder  streng  symmetrisch  gruppirt  sind,  noch  nach 
der  gleichen  Kichtung  Aveisen,  sondern  auf  und  al>  und  durcheinander 
geschlagen  erscheinen""). 

Eine  sehr  liäufig  wiederkehrende  Form  zeigt  Fig.  183.  Im  Grunde 
haben  wir  da  nichts  Anderes,  als  ein  Akanthushalbblatt  mit  umge- 
klappten Seiten,  aus  einem  akanthusartig  gegliederten  Volutenkelch 
emporsteigend. 

Nach  der  vollzogenen  Erörterung  der  Fig.  180 — 183  Avird  es  nicht 
mehr  schwer  sein,  die  entsprechenden  Bildungen  in  Fig.  184"^)  in  ihrer 
Wesenheit  zu  erkennen.  Am  häufigsten  begegnen  uns  hier  Dreiblätter  in 
akanthisirender  Stilisirnna":  soAvohl  am  Volutenkeleh  als  am  krönenden, 


Fig.  184. 
Kopfleiste  .aus  einer  l)yzantiuisclien  Miniaturhandsclirift  des  10.  Jahrh. 

etAA-as  ausgescliAAeiften  Blättchen.  Dieses  Dreiblatt  A-ereinigt  also  in 
sich  die  typischen  Eigenschaften  des  saracenischen  Pflanzenornaments: 
geometrische  Umrisse  bei  vegetabilischer  Detailbehandlung.  Auch 
Fig.  183  erscheint  hienach  bloss  als  eine  reichere  und  üppigere  Aus- 
gestaltung eines  solelien  nkantliisirenden  Droibhatls.    Im  mittleren  Ivnnd 


^')  Da  ('S  in  der  Absicht  dieses  Kapitels  uielit  liea-en  kann,  alle  Erseliei- 
nung-en  der  ausg-ebildetcn  saracenischen  Dekorationsflora  zu  erklären,  Avill  ich 
gleich  bei  dieser  Gelegenheit  bemerken,  dass  die  kapriciöse  Art  der  Blattbe- 
liandlung  gleich  Fig.  182  gleichfalls  von  der  saracenischen  Kunst  überiionnnen 
Avorden  ist,  Avie  zahlreiche  Teppiche.  Miniaturen  und  Fliesen  aus  dem  späteren 
Mittelalter  und  der  l)eginuendcn  Neuzeit  bcAveiscn.  Ich  knüpfe  daran  eine 
Selbstberichtigung,  da  ich  im  Jahrbucli  der  Kunstsaninilungen  des  Aller- 
höchsten Kaiserhauses  Band  XIII  S.  ?>0'^  die  Meinung  ausgesprochen  habe,  jene 
eigenthündiche  Blattbehandlung  AvUre  auf  chinesische  Einflüsse  zurückzu- 
führen. Nun  mir  der  Avahre  SachA'erhalt  klar  gCAvorden  ist,  vermag  ich  die 
gleiche  Tendenz  auch  in  der  Mildung  der  IJIatträndcr  zahlreicher  Ai'abeskeii- 
motJA'e  des  14.  und  1."».  .lahili.  zu  cikeiinen. 

'")  Nach  Stas.sofr  a.  a.  (».    Tat.  IlM,   17. 


2.    Frühsaracenische  Rankenornainentik. 


329 


von  Fig.  184  ist  ein  Dreiblatt  von  zwei  Gabelranken  umschlossen:  ein 
eclit  saracenisches  Motiv,  aber  ganz  vegetabilisch  charakterisirt  und  auf 
byzantinischem  Kunstgelnet  entstanden.  Auf  der  Bildung  von  Fig.  181 
beruht  endlich  diejenige  der  Blüthen  in  den  beiden  äusseren  Kunden. 
Bei  der  Erörterung  der  Ornamentik  der  Elfenl)einkästchen  Fig.  174 
und  175  haben  wir  uns  die  Charakterisirung  der  dasell)st  auftretenden 
frei  endigenden  Blüthenmotive  für  späterhin  vorbehalten.  Nunmehr  er- 
scheinen dieselben  durch  den  blossen  Hinweis  auf  die  Bildungen 
Fig.  181  und  18o  völlig  klargestellt. 


Fiij.  18ü. 
Kopfleiste  aus  einer  armeuisclicn  Miniaturhandschrift  des  11.  Jahrh. 


Die  byzantinische  Miniaturmalerei  hat  gerade  in  der  uns  beschäf- 
tigenden Zeit  eifrige  Aufnahme  in  den  armenischen  Klöstern  gefunden. 
Ein  Beispiel,  angeblich  aus  dem  11.  Jahrh.,  auf  dessen  Bedeutung  ich 
schon  bei  anderer  Gelegenheit ''•')  hingewiesen  habe,  ist  publicirt  bei 
Collinot  und  Beaumont,  Ornements  turcs  Taf.  27—29.  Der  Ausschnitt 
aus  Taf.  28,  der  in  unserer  Fig.  185  wiedergegeben  ist,  repräsentirt 
recht  lehrreich  die  letzten  Stadien  einer  gemeinsamen  byzantinisch- 
saracenischen  Ornamentik:  Unfreie  Akanthushalbblätter  (in  mehr  steifer 
palmettenfächerartiger   Stilisirung),    Gabelranken,    Blumentypen    gleich 


'9)  Altorientalische  Teppiche  S.  166  f. 


330 


Die  Arabeske. 


Fig.  181  und  18:5.   an   kreisrund  eiug'erollten  Eanken,  an  deren  Fillirung 
das  Nichtklassisclie  bloss  in  der  Durchkreuzung  besteht''^')- 

Es  erübrigt  uns  noch  eine  Anzahl  von  saracenischcn  Kunstdenk- 
mälern  aus  jener  Zeit  zu  betrachten,  da  die  Eigenthünüielikciten  des 
sarazenischen  Rankenornaments  liereits  nachweislich  ihre  reife  Aus- 
bildung errreicht  hatten.  "Wir  Averden  bei  dieser  Betrachtung  von 
dem  Bestreljen  geleitet  sein,  stets  den  innigen  genetischen  Zusammen- 
hang mit  dem  vorangegangenen  klassischen,  beziehungsweise  byzanti- 
ni.schen  Pflanzenrankenornanieut  aufzuzeigen.  Ja  selbst  das  noch  lang- 
währende Vorkommen  einzelner  i-in- 
schlägiger  3Iotive  in  der  urthümlichen 
Form  durch  Beispiele  nachzuweisen. 
Das  Beweismaterial  ist  fast  ausschliess- 
lich aus  Prisse  d'Avennes,  L'art  arabe 
entlehnt,  fusst  somit  überwiegend  auf 
den  Denkmälern  von  Kairo  aus  dem 
12.     1-1.  .lalirli. 

Fig.  18G  zeigt  eine  durchbrticliene 
Fensterfüllung   von  der  iloschee   El- 
Daher,  nach  Prisse  aus  dem  13.  Jahrh. 
Das  Ornament   mit  seinen  Akanthus- 
Ablegern  an  kreisrund  gerollten  Ivan- 
ken  könnte  man  schlechtweg  byzanti- 
nisch  nennen.    ]\[an  ersieht  auch  dar- 
aus,   wie    der   Zusaniniensehluss    der 
Ranken   zu  Spitzovalen  schon  in  der 
AVellenbewegung  selbst  begründet  lag, 
also   ein  wesentliches  (harakteristicum  der  Arabeskenführung  schon  in 
der     klassisch-antiken    "WeHenranke     gleichsam    latent    \nrlianden    ge- 
wesen ist. 

*°)  Die  .^Palmettenstäbe"  der  arnieniselien  Buclnllustration,  von  denen  bei 
.1.  Strzyg'owski,  das  Etschniiadziu  Evangeliar  8.  lU,  die  IJede  ist,  sind  niclits 
Anderes  als  Gabelranken,  an  verschlungenen  Wellenlinien  pilasterförnng  über- 
einander aufsteigend,  wofür  das  eigontliche  Iiistorische  Prototyp  in  Fig.  159 
vorliegt.  Die  N'erwandtschaft  derselben  mit  den  sassanidiselien  Ornamentbil- 
dungcn  gleich  Fig.  K^Jl— 163,  bin  ich  der  T^et/.te  zu  l)estreiten:  doch  liegt  diese 
Verwandtschaft  keinesfalls  inniiitteli)ar  zu  'fage.  sondern  ist  erst  aiis  der  Be- 
trachtung und  Erkenntniss  <ler  allgemeinen  iu\i\  gemeinsamen  Entwicklung 
heraus,  wie  ich  sie  im  r)l)igcii  zu  gehen  ■versiidit  liahe,  wirklich  und  über- 
zeugend zu  verstehen. 


n-.  isi3. 

Steinerne  ItaukenfüUung  aus  Kairc 


2.    Frühsaracenische  Rankeuornamentik. 


331 


Fig.  186  steht  nicht  vereinzelt  da.  Es  gehören  hieher  u.  a.  ans 
Prisse  eine  zweite  Füllnng  von  derselben  Moschee;  ferner  zwei  Fiü- 
Inngen  von  der  Moschee  Thelai  Abu-Rezik,  Avovon  eines  noch  fast  rein 
justinianisch ,  das  andere  ähnlich  Fig.  18G ,  mit  durchgeschlungenen 
arabischen  Schriftzügen. 

Die  letzteren  zwei  Beispiele  versetzt  Prisse  in  das  12.  Jahrh.;  ist 
diese  Datirung  in  der  That  nicht  zu  spät  angesetzt,  so  erscheint  uns 
damit  ein  überraschendes  Zeugniss  geliefert  für  den  Conservatismus, 
mit  welchen  die  kairenischen  Arbeiter  in  einzelnen  kunsttechnischen 
Zweigen  an  der  Rankenornamentik  rein  byzantinischer  Stilisirung  fest- 
gehalten haben.  Ungefähr  auf  der  gleichen  Stufe  stehen  die  Orna- 
mente von  der  Marmorkanzel  der  Moschee  von  Cordova,  wie  Fig.  187^') 


Fig.  187. 
Steinerne  Friesfüllung  aus  Cordova 


Fig.  188. 

Sternfüllung  in  Stuck. 

Au.s  der  Cuba  (Palermo). 


beweist.  Es  ist  dies  ein  Ausschnitt  aus  einem  Bordürestreifen,  einen 
Bogenfries  mit  gereihten  Lotusblüthen  und  Palmetten  in  akanthisirender 
Uebertragung  enthaltend.  An  der  letzteren  Bedeutung  lassen  die  rund 
herausgebohrten  „Pfeifen"  keinen  Zweifel  aufkommen.  Eine  Inschrift 
bezieht  sich  auf  das  Jahr  965  der  christlichen  Aera;  die  Kanzel  stammt 
somit  aus  der  2.  Hälfte  des  10.  .Jahrh.  und  wäre  hienach  um  mehrere 
Jahrhunderte  älter  als  Fig.  180,  der  sie  aber  in  der  Entwicklung  eher 
voraus  ist.  Man  beachte  in  Fig.  187  noch  den  aus  zwei  Akanthushalb- 
blättern  gebildeten  Kelch  an  der  niedrigeren  Blüthe  (die  die  Stelle 
einer  Palmette  des  alten  Lotusblüthen-Palmetten-Schemas  vertritt).  Die 
sachliche  Identität  dieses  skulpirten  Kelches  mit  dem  gemalten  Akan- 
thuskelcli  Fig.  180  liegt  wohl  klar  zu  Tage. 


^')  Nach  Girault  de  Prang-ey,   Essai  sur  rarchitecture  des  Arabes  et  des 
Mores  Taf.  4  No.  6. 


332  r)i^  Arabeske. 

Dagegen  ergicbt  eine  nahe  Yerwandschaft  mit  dem  Ornamenta- 
tionssysteni;  das  Avir  an  Elfenbcinarbeiten  des  10.  Jahrh.  (Fig.  174,  175) 
angetroffen  haben,  die  Betrachtung  der  sicilianischen  Arbeiten,  die 
zumeist  im  1-J.  .lalii'li.  für  die  normannischen  Könige  von  deren  sarace- 
nischen  Unterthanen  gefertigt  worden  sind.  Als  Probe  diene  Fig.  18!^^-) 
von  der  Stuckbekleidung  eines  Kuppelgewölbes  der  Cuba  bei  Palermo. 
Die  gefiederartige  Behandlung  des  Akanthus  erinnert  sehr  an  jene  er- 
Avähnten  Elfenbeinschnitzereien:  auch  die  Palmetten  mit  seitwärts  ge- 
schlagenen Akanthushalbblättern  und  den  scharf  herausgebohrten  Kelch- 
voluten finden  sich  an  Fig.  174  bzw.  175;  ihre  byzantinische  Vorstufe 
haben  Avir  in  Fis-.  ISS  kennen  ü'elernt. 


Fig.  189. 
Holzgeschnitzte  Friesfiilliing.     Aus  Kairo. 

Eine  vollende te  Arabeske  tritt  uns  in  Fig.  189^^)  entgegen. 
Wenn  man  von  dem  mit  Kreisfiguren  besetzten  Bande  absieht,  das  in 
lambre(|uinartiger  Zeichnung  mitten  durch  den  Ornamentfries  sicli  liiii- 
durcliwindet  und  denselben  in  zwei  reciprokc  Kundzackenreihen  ilieili. 
ist  die  Verzierung  durchweg  von  Rankenwerk  bestritten.  Die  Führung 
der  Ranken  ist  bereits  eine  sehr  mannigfaltige  und  komplicirte,  nament- 
lich nicht  mehr  auf  die  Kreisbewegung  beschränkte,  die  !\Io(iM'  al)er, 
mit  Ausnahme  von  kleinen  Spiralschösslingeii  und  Akanthus.ihlegern 
nach  früiihyzantinischer  Art  (8.  277  f.),  von  glatten  Konturen  umrissene 

*"*)  Nacli  Girault  de  I'nmgey  a.  ;i.  < ».    Tat.  1'2  Nn.  1. 

"')  Von  der  holz^eschnitztcn  Isan/il    licr  Moschee   von  Kus,   nach  l'risse 
frAvennes  au.s  dem  XII.  Jahrh. 


2.    Frühsaracenische  Rankenoniamentik. 


333 


Halbpalmetten  und  Gabelranken,  znm  Theil  auch  Vollmotive^^).  Er- 
örtern wir  die  erstercn,  als  die  wichtigsten,  im  Einzelnen. 

In  a  erkennen  wir  zwei  zu  einem  Vollmotiv  (nach  Art  der  ge- 
sprengten Palmette)  zusammengestellte  Halbpalmetten  (oder  Akanthus- 
halbblätter  mit  streng  gezeichnetem  Fächer):  Kelch  und  Fächer  er- 
scheinen vegetabilisch  gegliedert,  wie  z.  B.  in  Fig.  174,  aber  glatt  um- 
rissen: ich  verweise  auch  auf  die  Schlitze  in  der  Mitte  der  einzelnen 
Halbblätter ^5).  Beide  Fächer  setzen  sich  wieder  rankenartig  fort  zu 
einer  ähnlich  behandelten  Gabelranke  u.  s.  w. 

Die  vegetabilische  Gliederung  von  a  felilt  der  Halbpalmette  1j. 
Deutlich  scheidet  sich  bloss  das  gekrümmte  Kelchblatt  und  der  Fächer, 
sowie    eine    ausladende    Zwickelfüllung    dazwischen.       Was    aber    den 


Fig.  189  a. 


Fig.  189  b.  Fig.  189  c. 

Details  von  Füllungen  in  Holzschnitzerei,  aus  Kairo. 


Fig.  100. 


breiten  Körper  dieses  arabesken  Motivs  aitsfüllt,  das  ist  uns  kostbarer 
als  alle  akanthisirende  Gliederung.  Es  ist  nämlich  eine  leibhaftige 
griechische  Eanke  mit  allen  ihren  Eigenthümlichkeiten,  die  uns  da 
entgegentritt.  Dort  wo  sie  sich  zum  ersten  Male  gabelt,  ist  ein  Pal- 
mettenfächer eingesetzt,  in  der  Richtung  der  zwickelfüllenden  Aus- 
ladung im  Aussenkontur.  Nach  Links  endigt  die  Ranke  alsbald  in  eine 
regelmässige  griechische  A^ollpalmette,  nach  Rechts  rollt  sie  in  einer 
typischen  fortlaufenden  Wellenranke  dahin,  mit  spiraligen  Schösslingen 
und  peinlich  beobachteten  Zwickelfüllungen. 

Nehmen  wir  dazu  die  Halbpalmette  c.  Von  derselben  ist  das  Gleiche 
zu  sagen  wie  von  b,  mit  dem  Unterschiede,  dass  Avir  in  der  Ranken- 
füllung diesmal  eine  deutliche  Halbpalmette  nach  altgriechischem  Muster 
(Fig.  126)  vorfinden.  Den  Uebergang  von  der  reinen  und  selbständigen 
Palmettenranke    zur    akanthisirenden  Gliederung    des  arabesken  Halb- 


^^)  Den  palmettenartigen  Volimotiven  in  Fig.  189  lieg-en  wohl  Bildung-en 
in  der  Art  von  Fig.  181  zu  Grunde. 
«^)  Vgl.  Fig.  167,  168  S.  304,  306. 


334  Die  Arabeske. 

pcilmettenkörpers  zeigt  Fig.  190,  von  einer  anderen  Füllung  der  gleichen 
Kanzel.  Prisse  d'Avennes  giebt  von  der  letzteren  noch  eine  ganze  An- 
zahl von  Blättern  mit  Details,  die  eine  selbständige  erschöpfende  Unter- 
suchung und  Erörternug  verdienen  würden.  Davon  möge  an  dieser 
Stelle  nur  noch  unsere  Fig.  lG8a  Er-\vähnung  finden:  eine  Doppel- 
ranke mit  zwickelfüllenden  Halbpalmettenfäehern  nach  gesprengtem 
Typus,  oben  in  eiiie  Vollpalmette  frei  endigend.  Die  verblüttenden  Be- 
ziehungen, die  zwischen  diesem  anscheinend  rein  griechischen  Eanken- 
ornament  und  dem  saracenischen  Fig.  168  obwalten,  haben  bereits  auf 
S.  ?)0H  gebührende  Hervorhebung  gefunden.  Die  Betrachtung  von 
Fig.  189 — 190  hat  ergeben,  dass  wir  darin  keineswegs  eine  vereinzelte 
Kopie  oder  Keminiscenz  nach  altem  Muster,  sondern  einen  festen  orga- 
nischen Bestandtheil  der  saracenischen  Ornamentik  zu  erkennen  haben. 
Es  erscheint  damit  über  jeden  Zweifel  hinaus  nachgewiesen,  dass  selbst 


Fig.  191. 
U:iiiken-Zierlei.sto:  bvzantinisihc  BucJnnalerei 


noch  die  ausgebildete  sarazenisclie  Kunst  das  reine  Hache  Palmetten- 
Rankenornament  nach  bestem  griechischem  Muster  gekannt  und  geübt 
liat.  Die  Brücke,  die  diesbezüglieli  vom  ;").  .Jaln-li.  v.  Chr.  zum  \2.  .lahrh. 
n.  Chr.  führt,  ist  auch  nicht  scliwer  herzustellen.  Dass  das  flache 
Palmetten-Kankenoniament  auch  zur  Zeit  der  Vorherrschaft  des  Akan- 
thus  sich  fortdauernd  im  Gebrauehe  erlialten  hatte,  Avurde  schon  bei 
Besprechung  des  spätantiken  l\;ink(noni;iinents  hervorgeliobeii,  des- 
gleichen der  Umstand,  dass  die  frülimiitelalterliclie  Kunst  im  ostnimischcn 
Keiehe  mit  wohl  «-rklärltai-er  A'orlielx'  ('8.  -289)  auf  die  stilisirtercu 
hellenisehfii  l'hithen-  und  Ixanki-nfornicii  zunickgcgritVcii  h.itle.  Byzan- 
tinische Zwischenstufen  biet<'n  ;il)(r  .Miiii;ttunii,ihi'<iin  «U'S  !<•.  tuid  11. 
.lahrh.,  wie  z.  B.   Fig.  19186;. 

Wir  l)egegnen  aber  an  di'ii  kairfiii^chiMi  Dciikiniihrn  des  s|i;itcrcn 
Mittelalters  .inch  noch  Arabeskt-n,  di«-  tihiic  .lUc  Dni'chscliiH-idung  nnd 
Polygonbildung  lediglicli   durch   dir   .'ibstrnkti'    linMldunu-   dn-    Kinzcl- 


W')  X.icli  Stassoir  ;i.   a.  (>.  'laf.  12;;.   10. 


2.    Frühsaracenische  Rankenornamentik. 


3F>5 


motive  (Voll-  und  Halbpalmetten)  den  saraeenischcn  Charakter  ver- 
rathen.  Fig.  192  bietet  ein  solches  Beispiel  (nach  Bourgoin,  Precis  de 
l'art  arabe  I.  32),  wozu  ich  in  Fig.  192a  eine  Uebersetzmig  ins  Grie- 
chische gebe. 

Einzelne  bestimmte  Techniken  scheinen  es  somit  gewesen  zu  sein, 
an   denen  sicli  das  feine   klassische   Palmettenranken-Ornament    bis  in 


Fig.  192. 
Arabesken-Füllung-,  aus  Kairo. 

das  spätere  saracenische  IMittelalter  erhalten  konnte.  An  Holz- 
schnitzereien ist  es  z.  B.  auf  den  berühmt  gewordenen  Füllungen  vom 
Moristan  des  Sultans  Kalaun  vom  Ende  des  13.  Jahrh.  noch  nachzu- 
weisen*^'). Dass  aber  an  den  Schnitzereien  der  Kanzel  von  Kus  das 
gTiechische  Palmettenrankenornament  gerade  dazu  bestimmt  w^ar,  die 
grossen    abstrakt    umrissenen    Halbpalmettenmotive     auszufüllen,     das 


Fig.  192  a. 
Uebersetzung  von  Fig  192  ins  Griechische. 


scheint  mir  ein  nicht  zu  unterschätzender  Fingerzeig  dafür  zu  sein, 
dass  die  saracenischen  Künstler  sich  des  engen  sachlichen 
Zusammenhanges       ihrer      Arabeskenornamentik      mit      der 


'^O  Am  Leibrock  des  Centaiireu,  worauf  ich  schon  anderwärts  (Altorien- 
talische Teppiche  161  ff.)  hingewiesen  habe;  ebendas.  reprodvicirt  nach  Prisse 
d'Avennes;  ebenso  bei  Lane  Poole,  Art  of  the  Saracens  of  Egypt  125. 


536 


Die  Arabeske. 


früheren  klassiselien  Kankenoriiaiuentik  völlig  hewussi 
waren.  Und  zwar  betone  ich:  des  sachlichen,  nicht  des  historischen 
Zusammenhang'es,  denn  um  den  letzteren  hat  sich  das  ornamentale 
Kunstschaffen  früherer  wahrhaft  schöpferischer  Jahrhundertc  niemals 
gekümmert. 

Aus  dem  14.  Jahrh.  stammt  Fig.  lU.-i  von  einer  Füllung  der  Kanzel 
in  der  Grabmoschee  des  Sultans  Barkuk  zu  Kairo.  Die  arabesken 
Halbpalmetten  haben  hier  feine  lineare  Halbpahnetten  eingezeichnet; 
mit  diesen  sind  wir  unmittelbar  an  die  Behandlung  der  Motive  in 
Fig.  139  herangekommen,  die  wir  seiner  Zeit  ( S.  203)  unserer  Definition 


Füllung;  in  Stuck,  aus  Kairo. 


von  den  specifischen  Eigcniliiiinliehkeiien  d^T  Arabeske  zu  (iniiule  ge- 
legt hatten.  Hier  drängt  sich  die  Frage  auf:  gehen  die  erAv.iliulcii  ein- 
gezeichneten Füllungen  der  Motive  von  Fig.  193  auf  dif  ]<lassisclie 
Halbpalmette  zurück,  Avie  es  unter  Hinweis  auf  das  zu  Fig.  ISüb  und  c 
und  190  Gesagte  in  fler  Tli.ii  dcnkliar  \\;ire.  oder  sind  diesellien  als 
stilisirtc  Uebertragung  der  unigckla])]it(n  l>;iiid(i-  <l<s  Akanlliu^lialli- 
blatts  (Fig.  180     183)  aufzufassen? 

Diese  Frage  ist  nicht  unwichtig,  ^\l■il  wir  licjni  alisirakiiii  ('li,i- 
rakter  der  saracenisclien  Hlüthenmotivc  in  (\qu  nieistcu  l'äliiu  unsirlirr 
sind,  ob  wir  uns  darunter  Akanthus  oder  flache  Projekiioii  (Palnicttcii- 
fächer)    als    zu    Grunde    liegendes    formgebend<'s  Element  vorzustellen 


2.   Frühsaraceuische  Kankenornamentik. 


33: 


haben.  Was  an  den  erwähnten  Einzeiehnungen  an  den  Motiven  von 
Fig".  193,  sowie  an  Fig-.  139  (insbesondere  an  b  und  c)  zunächst  an 
flache  Halbpalmetten-Projelvtion  denken  lässt,  ist  hauptsächlich  die 
Kelchvolute  am  Ansätze  des  eing-ezeichncten  Blattes,  die  Avir  von  alt- 
egyptischer  Zeit  her  (S.  60)  als  wesentlichen  und  unzertrennlichen  Be- 
standtheil  der  Blüthendarstellungen  in  Palniettenprojektion  kennen  ge- 
lernt haben.  Die  Kelchvolute  an  den  saracenischen  Halbpalmetten  und 
Gabelranken  in  Fig-.  193  und  139  kommt  aber  nicht  von  der  altgriechi- 
schen  Palmettenvolute,  sondern  von  einer  Eigenthümlichkeit  des  Akanthus 
selbst  her,  nämlich  "S'on  den  rundlichen  „Pfeifen",  die  immer  zwischen 
je  zwei  Zackenausladungen  des 
Akanthusblattes  angebracht  sind. 
Inwiefern  dies  schon  an  den 
frühbyzantinischen  Ablegern  des 
Akanthusblattes  als  formbilden- 
des und  charakteristisches  Ele- 
ment zu  beobachten  ist,  haben 
wir  ciuf  S.  -279  festgestellt.  In 
Fig.  194  gelje  ich  ferner  einen 
Ausschnitt  aus  dem  Apsismosaik 
von  San  Clemente  in  Rom^^),  das 
im  ]-2.  Jahrh.  vielleicht  von  by- 
zantinischen Arbeitern,  gewiss 
aber  unter  der  Herrschaft  der 
Maniera  greca,  Avenigstens  in  der 
Ornamentik ,  ausgeführt  Avorden 
ist.  An  den  Akanthushalbblättern,  die  da  der  Reihe  nach  die  Akan- 
thusranke  zusammensetzen,  erscheinen  die  entwicklungsgeschichtlicheu 
Abkömmlinge  der  plastischen  „Pfeifen"  jedesmal  am  Ansätze,  an  der 
Wurzel  des  Blattes  durch  eine  voluten förmige  Einrollung  deutlich  her- 
voro-ehoben. 


Fig.  l'Jl. 

Rankeneiurollung  vom  Apsis-Mosaik 

in  San  Clemente  (Rom). 


Angesichts  der  Systemlosigkeit  in  den  Anschauungen,  die  gegen- 
wärtig vom  Wesen  und  Ursprung  der  saracenischen  Ornamentik  und 
insbesondere  von  ihrem  wichtigsten  Ausdrucksmittel  —  von  der  Ara- 
beske —  in  Umlauf  sind,    erschien  es  geboten,   vor  Allem  einmal  den 

**)  Nach  de'Rossi,  Musaici  antichi  delle  chiese  di  Roma  Tat".  21.  Man 
beachte  auch  die  frei  endigende  Blüthe  in  der  Mitte  der  Einrollung,  mit  ihren 
umgeschlagenen  Blättern  gemäss  Fig.  181—183. 

Riegl,  Stilfragen.  22 


338  DiP  Arabeske. 

Werde-  und  Ausbildung-sprocess  derselben  von  cinheitliehom  Gesichts- 
punkte aus  darzustellen.  Auf  die  lokale  Provenienz  des  jeweilig  ge- 
wählten Beweismaterials  Avurde  wenig  Gewiclit  gelegt;  zum  überwiegen- 
den Theile  wurde  dasselbe  entlehnt  von  den  Denkmälern  in  Kairo,  wo 
sich  —  offenbar  Dank  dem  unvergleichlichen  Klima  ^  die  reichste 
und  unversehrteste  Auswahl  davon  erhalten  hat.  Zweifellos  hat  es 
aber  auch  lokale  Sonderentwicklungen  gegeben,  und  Aufgabe  der 
weiteren  Forschung  wird  es  nun  sein,  den  Dififerenzirungeii  in  den 
geographisch  so  weit  verstreuten  Gebieten  der  Islamvölker  nachzu- 
gehen, und  das  Trennende  zwischen  den  einzelnen  festzustellen.  Aber 
ich  wiederhole  es  —  unsere  Aufgabe  war  nach  der  entgegengesetzten 
Seite  gelegen:  es  galt  erst  einmal  den  historischen  und  genetischen 
Zusammenhang  in  der  Entwicklung  des  Pflanzenrankenornaments  seit 
antiker  bis  in  die  neuere  Zeit  aufzuzeigen,  und  zu  diesem  Behnfe  die 
gemeinsamen  grossen  Gesichtspunkte,  nicht  die  trennenden  kleinen 
Varianten,  liervorzusuchen  und  festzustellen. 

Diese  Aufgabe  glauben  wir  nun  gelöst  zu  haben  durch  die  Er- 
bringung des  Nachweises,  dass  die  ausgebildete  fertige  Arabeske,  wie 
sie  uns  an  kairenischen  Kunstwerken  vom  Anfange  des  15.  .Inln-h. 
entgegentritt,  in  ihren  scheinbar  geometrischen  Motiven  einen  unvt-r- 
kennbaren  Kern  von  pflanzlicher  Bedeutung  birgt.  Unsere  ünter- 
suchitng  in  dem  vorhergehenden,  dritten  Kapitel  dieses  Huelies  hat  aiier 
ergeben,  dass  die  Pflanzenornamentik  seit  dem  für  uns  überliaupt  kon- 
trollirbaren  Beginn  menschlichen  Kunstsehartens  einen  streng  historischen 
Gang  eingehalten  hat.  Xachdem  einmal  in  Folge  etwelclier  für  uns 
nicht  mehr  bestimmbarer  —  vermuthlich  gegenständlich  symbolischer 
-  Gründe  das  pflanzliche  Element  in  die  Dekoration  eingeführt  Avorden 
war,  haben  die  Kultur\'rilker  die  in  historischer  Reilienfolge  die  künst- 
lerischen Errungenschaften  ihrer  A'orfalireii  ülieiMialinnn  und  weiter- 
bildeten, in  Bezug  auf  das  Pflanzenornament  immer  bloss  an  die  ihnen 
von  iliren  Vorgängern  überlieferten  Typen  angeknüpft,  und  dieselben 
ihrerseits  nacli  eigenem  Kunstermessen  ausgestaltet  und  iliren  Nacli- 
folgern  hinterlassen.  Ein  willkürliches  Hineingreifen  in  das  natüi'liehe 
Pflanzenreich  behufs  Seliaffung  von  Ornamenten^")  Imt  erstlich  in  dem 
Ausniaass*.',  wie  es  gew<"ihnlieh  angenommen  zu  werden  i>llegt.  üImt 
haupt  niemals  stattgefunden,  oder  wo  dies  dennoch'"'!  der  Fall  gewesen 


*')  Also  —   was  wicflerliolt  heteiit   wui-de  —  iiiflil   in  fj'Cf^'Cns  t  ;i  n  «1 1  ic  li  e  i" 
Bedeutung'-. 

'■^'')  Etwa    in    der  niykenisclieii  eder  in  (U;r  lielleiiistiscli-riiiiiisclieii   Kunst. 


2.    Frühsaracenische  Rankenornamentik.  339 

zu  sein  scheint,  niemals  zu  dauernden  Erfolgen  geführt,  wogegen  die 
stilisirten  Palnietten-,  Akanthus-  u.  s.  w.  Ornamente  ihre  ewige,  klassische 
Bedeutung  selbst  noch  in  unserer  modernen  Zeit  des  llealismus  bewahrt 
haben.  Von  der  durch  gewisse  stilisirte  Blüthenprojektioneu,  z.B.  die 
Palmette,  vorgezeichneten  Linie  der  Entwicklung  ist  man  in  der  Haupt- 
sache bis  in  die  späteste  antike  Zeit  (und  sagen  wir  auch  gleich,  bis 
zum  Spätmittelalter)  nicht  mehr  abgewichen.  Aus  solcher  Erwägung 
heraus  ergab  sich  uns  die  Aufgal)e,  das  spätantike  Pflanzenranken- 
ornament  mit  der  Arabeske  zu  verknüpfen,  die  dazwischenliegenden 
Entwicklungsphasen  durch  datirte  Beispiele  aufzuzeigen,  und  dies  ist 
uns,  trotz  des  fast  absoluten  Mangels  an  Vorarbeiten,  hoffentlich  auch 
gelungen. 

Was  wir  im  Xachfolgenden  noch  zu  sagen  haben,  betrifft  an- 
scheinend l)loss  ein  bestimmtes  provincielles  Geliiet  innerhalb  der 
grossen  gemeiusaracenischen  Kunst.  Aber  schon  die  damit  verknüpften 
Fragen  von  allgemeinerer  Bedeutung  mögen  es  rechtfertigen,  wenn  wir 
das  Kapitel  von  der  Aral^eske  mit  der  Erörterung  einer  Dekorations- 
Aveise  von  scheinbar  bloss  lokaler  Bedeutung  aV)schliessen. 

Es  hat  nämlich  in  der  Kunst  des  saracenischen  Orients  auch  eine 
Art  von  Pflanzenrankenornamentik  gegeben,  die  man  als  eine  natura- 
lisirende  bezeichnen  könnte.  Die  Denkmäler,  auf  denen  sie  uns  er- 
halten ist.  bestehen  hauptsächlich  aus  Knüpftepi)ichen  und  aus  Thon- 
fliesen,  und  als  ihre  Heimat  Avird  überwiegend  Persien  bezeichnet^'). 
Die  Entstehungszeit  der  bezüglichen  Denkmäler  reiclit  zAvar  grossen- 
theils  herab  in  die  letzten  drei  Jahrhunderte,  da  europäischer  Einfluss 
nicht  bloss  in  der  Türkei,  sondern  auch  in  Persien  nachweislich  breiten 
Eingang  gewonnen  hatte.  Aber  an  einzelnen  Beispielen  lässt  sich  das 
naturalisirende  PflanzenrankenAverk  bis  in  das  15.  Jahrh.  zurück  A^er- 
folgen. 

Fig.  195  zeigt  ein  Fragment  sammt  Eckstück  von  der  Bordüre 
eines  persischen  Teppichs^-),  dessen  Entstehung  aus  stilistischen  Gründen 
in  das  16.  Jahrh.  verlegt  wird.  Das  Grundschema  der  Rankenführung 
bildet  die  intermittirende  Wellenranke,  und  ZAvar  nach  echt  saracenischer 


^')  Von  der  persisch-saraeeuischen  durchaus  abhäng-ig-  ist  die  indische 
Pfiauzenranken-Ornamentik :  den  Thatbestand  umzukehren,  wie  auch  schon 
geschehen  ist,  war  abermals  nur  möglich  unter  der  Herrschaft  des  Vorurtheils 
A-on  einer  wesentlich  autochthonen  Entwicklung  aller  ornamentalen  Künste. 

3-')  Abgebildet  in  dem  vom  k.  k.  österr.  Handelsmuseum  herausgegebenen 
PrachtAverke :  Orientalische  Teppiche  Taf.  H. 


uo 


Die  Arabeske. 


licliandlunii":  geoiiietrist'h-ara- 
liesko  Spitzovale  bilden  die 
Blüthenmotive  und  aucli  die 
Ixankenscliwing'ung'en  dazwi- 
schen sind  lireit  dabin  stili- 
sirt,  aber  anf  diesem  arabes- 
ken  Fond  entfaltet  sich  erst 
i'in  feines  vegetabilisches 
l»ankenAverk ,  das  natürlich 
iu  seinem  Verlaufe  der  Haupt- 
sache nach  gleichfalls  das  in- 
te-i-mittirende  Wellenschcnui 
einhält.  Im  frei  bleibenden 
<i  runde  zwischen  den  gros- 
sen Motiven  der  intermittiren- 
den  Wellenranke  verbreitet 
sich  das  Kankenwerk  gemäss 
dem  fortlaufenden  Wellen- 
schema'-'^).  Die  einzi'lnni 
l'lüthenmotive  ZAveigen  nur 
/um  T])eil  von  den  Eanken 
ab,  nanu'ütlii'h  die  grösseren 
sind  fast  durchweg  unfrei  und 
(lurciisetzen  die  TJanken:  l)is- 
licr  alles  wohlbekannte Eig'en- 
tliümlichkeiten  der  genu'in- 
saracenischen  Pflanzenranken 
Ornamentik.  Erst  die  Betrach- 
unig  der  Kiii/elinotive  (M'giebt 

I    lltel"se]lie(le     gegell  fi  her    (li'll 

1  \  piselien  A ra besk ei 1 1 11  u Stern, 
wie    wii'  sie   etwa    in    h'ig.  \'.VJ 

l<<'!lllell    gelernt    lialieli. 

l''ass«'n  wir  zuerst  das 
grosse  Spitzoval  in  der  Mitte 
in's  Auge.  Tm  einiui  i'und- 
lichen,  das  (_Jesammtmoti\   im 

'^^)  Die   (lurcligescliiuiigciien   .,\\'olk<'iibiiii(l('r"         wie    man    meint,    ZeuL;- 
chincsisclien  Eiiifhissos  —  kommen  hier  iiiclit  in  Betiaclil. 


2.    Fvülisaracenisclie  Raukeaoriiamentik.  341 

Kiemen  wieclerliolenden  Kern  leü,-en  sich  äusserlich  einige  Blätter  an, 
die  von  unten  emporwachsen  und  in  undulirender  Bewegung,  an  die 
Fächer  der  gesprengten  Palmette  erinnernd,  emporstreben.  In  die 
spitzen  Winkel,  die  zwischen  je  zweien  dieser  Blätter  einspringen, 
erscheinen  zwickelfüllende  Blätter  mit  akanthisirend  behandelten  Rän- 
dern eingesetzt.  Wir  wollen  der  Kürze  halber  für  das  ganze  Motiv 
in  seiner  Grundform  die  Bezeichnung  Kelclqmlmette  gebrauchen. 

Das  eben  erörterte  Motiv  kehrt  noch  mehrmals  wieder.  So  in  der 
Mitte  einer  jeden  Wellenschwingung,  wo  die  den  Kern  kelchförmig  ein- 
schliessenden,  ausgeschweiften  Blätter  an  den  Rändern  gleichsam  zu- 
sammengeklappt und  akanthisirend  behandelt  sind.  Ferner  im 
Innern  des  zur  Ecklösung  verwendeten  Spitzovnls,  hier  umschlossen 
von  einem  äusseren  Kranz  von  Blättern,  die  nicht  minder  fein  aus- 
gezackte Ränder  zeigen.  Kehren  wir  aber  zur  Wellenschwinguug 
zurück,  so  fallen  daselbst  neben  der  erwähnten  Kelchpalmette  noch 
zwei  grössere,  häufig  wiederkehrende  Blüthenmotive  auf:  oben  ein 
flacher,  ausgezackter,  oblonger  Teller,  aus  dem  sich  der  Blüthenkolben 
erhebt:  die  sogen.  Fächerpalmette ,  unten  hingegen  eine  Kranzpahnette, 
die  sich  von  der  Kelchpalmette  wesentlich  dadurch  unterscheidet,  dass 
die  den  Kern  umgebenden  Blätter  um  denselben  nicht  kelchartig 
herumgeschlagen  und  in  geschweifte  Spitzen  auslaufend ,  sondern 
gleich  einem  Kranz  herumgereiht  und  in  geraden  Achsen  geführt  er- 
scheinen. 

Charakteristisch  für  diese  Motive  bleibt  die  eigenthümliche  Stili- 
sirung  der  Blatt ränd er.  Und  zwar  muss  dieselbe  für  ganz  Avesentlich 
angesehen  worden  sein,  weil  sie  uns  fast  an  allen  den  genannten  Motiven, 
an  dem  einen  mehr,  an  dem  anderen  minder  scharf  gezeichnet,  entgegen- 
tritt. Um  eine  historische  Erklärung  dafür  zu  finden,  liegt  es  am  nächsten, 
die  arabesken  Blüthenmotive  der  vorhergehenden,  mittelalterlichen  Kunst 
heranzuziehen  und  zu  untersuchen,  ob  es  nicht  diese  gewesen  sein 
könnten,  aus  denen  jene  oben  beschriebenen  ..Palmetten'^  etwa  unter 
dem  Einflüsse  einer  gegen  Ende  des  Mittelalters  in  der  orientalischen 
Kunst  autgekommenen  Neigung  zur  Xaturalisirung,  entstanden  sein 
möchten.  Aber  auf  Grund  einer  Betrachtung  des  typischen  Ai'abesken- 
musters  von  Fig.  139  werden  wir  kaum  in  der  Lage  sein,  daraus  die 
naturalisirenden  Palmetten  jenes  persischen  Teppichs  im  Wege  direkter 
künstlerischer  Formen -Entwicklung  und  Umbildung  abzuleiten.  Es 
bleiben  hiernach  bloss  zwei  Möglichkeiten  offen:  entweder  haben  wir  in 
den  fraglichen  Motiven  etwas  specifisch  Persisches,   das  Produkt  einer 


342 


Die  Arabeske. 


autochthonen  lokcilen  Entwicklung-  zu  erlüicken ,  oder  die  "Wurzel  für 
ihre  Entstehung-  muss  ausserhalb  der  persischen  und  saracenischen 
Kunst  zu  suchen  sein.  Die  erstere  Annahme  hat  auch  bis  zum  heuti- 
gen Tage  —  entsprechend  der  allgemeinen  Stimmung  der  Zeit  ^  die 
grösste  Anzahl  von  Anhängern  gezählt.  Wir  -werden  für  diese  angeb- 
lich national-persische  Ornamentik  eine  Entstehung  aus  dem  Nichts, 
oder  aus  unbekannten  technischen  Prämissen  ebenso-svenig  zugeben  kön- 
nen, -\vie  -svir  es  bisher  irgend-svann  für  zulässig  gefunden  haben.  Bleibt 
somit  ])loss  die  Ausschau  nach  anderen  historischen  Kunstgebieten  und 
z-\var  naturgemäss  -svieder  nach  dem  nächstgelegenen. 

Was    -wir    schon    durch   den   Hinweis    auf  die   cikanthisirende  Ge- 
staltung der  Blattränder   und   auf  die  emporgekrümmte  Bewegung  der 

gleichsam  zusammengeklappten  Blät- 
ter der  Kelchpalmette  vernehmlich  an- 
gedeutet haben,  giebt  die  Erklärung- 
für das  ganze  Genre:  es  sind  blü- 
thenförmigc  Kombinationen  von 
Akantliusblät  t  (TU,  ähnlich  den  Bil- 
dungen, wie  wir  sie  gemäss  unseren 
Ausführungen  auf  S.  325  bereits  von 
römischer  Zeit  ab  nachweisen  konn- 
ten; für  die  Kelchpalmetti'  lässt  sich 
der  Entwicklungsgang  sogar  ziemlich 
genau  herstellen.  Den  Ausgangspunkt 
geben  persische  Bildungen  aus  der 
Sassanidenzeit  (Fig.  IGl).  Den  römi- 
schen Charakter  haben  Avir  auf  S.  •2li'.i 
zur  Genüge  klargestellt:  wenn  nocli 
ein  Zweifel  übrig  bliebe,  ob  wir  die- 
selben niclit  doch  als  Produkte  national-persischer  Kunst  ansehen  sollten, 
so  erscheint  derselbe  beseitigt  durch  den  Umstand,  dass  die  Kclchpalmctte 
in  frühmittelalterlicher  Zeit  aucli  ausserhalb  Persiens  vorkommt,  und 
zwar  auf  den  nocli  a  oi-  Sclduss  des  7.  Jahrh.  angefertigten  Mosaiken 
der  Omar-Moschee  zu  .Icj-usalem  (Fig.  r.iC.)'"),  die  man  gemeiniglich  als 
Werk  byzantinischer  Künstler  anzusehen  pflegt.  Aus  der  späteren 
Entwicklung  sind  es  Bildungen  (hr  liyzanlinisclicn  Kunst  gleich 
Fig.  1  HO— IM.'),  die  mit  dnu  ]\[otiv  diT  Kch-h|i;iluiciii'  dem  Wesen  nach 


V^y^:.  lOi;. 

Kelchpalrnctle  vom  Mosaik  der  Oinar-MoscLee 

zu  .Terusalcm. 


'•")  Nacli  de  Vr»giit\  Teniple  de  Jerusaleiii  Tat'.  XXI. 


2.    Friihsaraceuisclie  Kankcnornamentik. 


343 


aufs  Engste  parallel  laufen^^j:  insbesondere  Seidenstoffe  liefern  Zwischen- 
glieder, von  denen  es  zumeist  offene  Frage  bleibt,  ob  sie  byzantini- 
schem oder  saracenischem  Ursprünge  zugewiesen  werden  sollen.  Völlig 
abgeklärt  und  in  ein  echt  saracenisches  Schema  gebracht,  tritt  uns  die 
Kelchpalmette  in  der  mesopotamischen  Kunst  des  13.  und  14.  Jahrh. 
entgegen,  die  uns  durch  zahlreiche,  zum  Theil  datirte  Metallarbeiten 
repräsentirt  ist''^).  Als  Beispiel  diene  Fig.  197  von  dem  tauschirtcn  Schreib- 
zeuge eines  kairenischen  Mamelukensultans  des  14.  Jahrh.-'').  Hierbei  ist 
es  wichtig  zu  beobachten,  dass  das  auf  dieser  Denkmälergruppe  vorfind- 
liche  Pflanzenrankenornament  im  Allgemeinen  von  arabesker  Stilisirung 
ist,  und  fast  ausschliesslich  schematisch  umrissene  Palmetten  mit  Voluten- 


Fig.  197. 
Kelcbpalmette  und.Kankrnornamcnt  von  einer  Mossul-Broiize. 


kelch  (Fig.  l'.'T),  zum  Theil  mit  einfach  gefiedertem  Fächer  aufweist. 
Es  erscheint  damit  nämlich  bewiesen,  dass  der  Gebrauch  der  Kelch- 
palmette als  solcher  keineswegs  einer  bestimmten  naturalisirenden 
Richtung  eigen  gewiesen  ist,  und  dass  dieselbe  als  ornamentales  Motiv 


3^)  Auch  die  zwickelfüllenden  Blätter  der  „Palmetten"  in  Fig-.  19.5  haben 
ihre  entsprechenden  Analogien  in  Fig.  180 — 183.    Vgl.  S.  327. 

'^)  Vgl.  Stanley  Lane  Poole,  Art  of  the  Saracens  of  Egypt.  8.  170  ft". 

■'')  Nach  Prisse  dAvennes  a.  a.  0.  Ecritoire  du  soiütan  Bahrite  -Schaban. 
—  Der  spielend  delcorative  Gebrauch,  den  die  saracenisclie  Kunst  vom 
Pflanzenrankenornament  g-emacht  hat,  äussert  sich  in  höchst  beachtenswerther 
Weise  in  der  theilweisen  Ersetzung  der  Halhpalmetten  durch  Vogelleiber,  wie  es 
sich  an  den  erwähnten  mesopotamischen  Metallarbeiten  —  und  anscheinend  nur 
an  diesen  —  ttnclet:  z.B.  foi'tlaufen de  Wellenranken  mit  abzweigenden  Vogel- 
leibern bei  Prisse  a.  a.  0. 


344  I^i^'  Arabosko. 

längst  fertig  und  gegeben  war,  wenn  in  der  Tliat,  wofür  nielirfaeher 
Anschein  spricht,  gegen  Ende  des  Mittelalters  eine  naturalisirende 
Tendenz  in  gewissen  Techniken  und  auf  bestimmten  lokalen  Gebieten 
zum  Durchbruch  gekommen  sein  sollte  Mit  weitaus  besserem  Grunde 
wird  man  aber  die  KrklJirung  der  naturalisirenden  Bildungen  gleich 
Fig.  195  darin  zu  suchen  haben,  dass,  so  wir  in  antiker  (S.  -240)  und 
früh-mittelalterlicher  (S.  'JS'.V)  Zeit  auch  in  der  vollentwickelten  sara- 
cenischen  Kunst,  namentlich  an  einzelnen  Techniken  traditionell  haftend, 
jederzeit  zwei  Strömungen  der  Ptlanzenrankenornamentik,  eine  flache 
und  eine  plastischere,  eine  arabeske  und  eine  naturalisirende,  neben 
einander  hergelaufen  sind.  Diese  letztere  wäre  es  sonach  gewesen,  die 
in  direkter  Linie  von  den  spätrümiselien  in  einander  gesehacliielten 
Akanthusblattkelchen  zu  den  Kelchpalmetti'n  auf  drn  Teppichen  der 
persischen  Staatsmanufakturen  des  lO.  .lahrh.  geführt  hat. 

Um  den  Ursprung  der  besprochenen  naturalisirenden  liltithen- 
bildungen  in  der  persischen  Teppichknüpferei  des  15.  und  Hi.  .lahrh. 
zu  erklären,  Avurde  vor  Kurzem'-'®)  auf  die  Idee  Sir  Georges  Birdwuods 
zurückgegrifft-n,  der  die  daran  obwaltenden  Beziehungen  zu  dem  alt- 
egyptischen  und  altmesopotamischcn  Ornamentmotiv  der  Lotusblüthe 
zuerst  literariscli  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Dem  betrettenden  Autor 
ist  es  vermuthlich  niclit  bewusst  gCAvorden,  dass  er  damit  im  Crnnde 
nichts  Anderes  gesagt  hat,  als  was  ich  schon  in  meinen  „Altorientali- 
schen Teppichen",  vernehmlich  genug  für  denjenigen,  der  sich  nicht 
der  Mühe  entschlagen  hat,  sich  mit  dir  Entwicklung  der  antiken 
Pflanzenornamentik  vertraut  zu  maelirn,  angedeutet  habe.  Darin  sind 
wir  eben  gegenwärtig  ülier  den  Standpuidct  den  noch  l'irdwood  u.  A. 
in  den  bezüglichen  Fragen  einnehmen  mussten,  hinausgeschritten,  dass 
wir  dasjenige,  was  jener  geistreiclie  Forscher  mehr  intuitiv  geahnt  und 
als  Endresultat  künftiger  Specialuntersuchungen  Nirkümlei  hattr.  nun- 
mehr mit  einzelnen  Zwischengliedern  zu  l)eleg<ii.  eine  zusammen- 
liängende  Entwicklungskettc  für  die  früher  luse  behaupiften  Anlialts- 
punkte  herzustellen,  im  Stande  siml.  Alicr  den  von  Birdwood,  Owen 
Jones,  de  Vogü«'-  und  Aiuhrcn  vor  so  h-inger  Zeit  ausgesprocluMuni 
Grundideen,  soweit  sie  sich  nach  der  angedeuteten  Kiehtung  bewegen, 
«•ntgegenzutreten,  wäre  icli  der  Letzte;  ja,  ich  stehe  nicht  an  zu  ei-- 
klären,  dass  es  um  unsere  Erkenntniss  mittelalterliclier  Kunstgesi-liiehte 
besser    und    reifer    Ix-stelll    wärc^,    wenn    die    geiMde   Linie    rein    lii>tori- 

'-•")   Im  .I}ilnl)uch  der  Uyl.  preuss.  Kunstsanmihmgcn   XIIl.  ]:>4. 


2.    Frühsaracenische  Kankenornamentik.  345 

scher  Betraclitungsweise,  wie  sie  z.  B.  de  Vog'üe  gepflogen  hat,  nie- 
mals verlassen  worden  wäre. 

Die  ornamentalen  Bhimentypen  der  persischen  Teppiche  un- 
mittelbar auf  achämenidisch-persischc  oder  assyrische  Anfänge  zu- 
rückzuführen, ist  darum  unstatthaft,  Aveil  sich  zwischen  diese  und  das 
saracenische  Spätmittelalter  eine  ganz  grundverschiedene  Kultur-  und 
Kunstschicht  gelegt  hat,  bedingt  durch  das  sieghafte  Vordringen  der 
hellenistischen  Antike  und  die  eigenthümlichen  Fortbildungen  in  der 
sogen,  byzantinischen  Zeit.  Aber  selbst  abgesehen  von  solchen  all- 
gemeinen stilhistorischen  Erw^ägungen,  wird  man  die  persische  Teppich- 
blumistik  schon  deshalb  nicht  als  unmittelbar  autochthone  Abkommen- 
schaft altorientalischer  Kunstformen  gelten  lassen  können,  weil  das 
Substrat  selbst  —  der  orientalische  Knüpfteppich  —  nichts  schleclithin 
Altorientalisches  ist^^).  Die  allgemein  verbreitete  Meinung,  dass  der 
orientalische  Teppich  seit  Urzeiten  in  Westasien  in  Gebrauch  gCAvesen 
wäre,  widerlegt  sich  durch  die  Beobachtung,  dass  der  für  die  neueren 
Orientalen  charakteristische  Gebrauch  des  Teppichs  an  Stelle  des  Sitz- 
und  Standmöbels  im  ganzen  orientalischen  Alterthum  nicht  nachzu- 
weisen ist,  derjenige  von  solchen  Möbeln  aber  feststeht. 

Auch  dies  ist  charakteristisch  für  die  seichte,  schablonenhafte 
Art  der  Betrachtung  auf  diesem  Gebiete,  dass  man  die  in  den  Schriften 
der  Alten  erwähnten  orientalischen  „Teppiche"  schlechtweg  für  Knüpf- 
teppiche nahm,  und  es  ganz  überflüssig  fand,  diese  Meinung  an  der 
Hand  der  bildlichen  Darstellungen  zu  kontrolliren.  Diese  erweisen 
aber  für  den  ganzen  antiken  Orient  von  der  altpharaonischen  bis  ein- 
schliesslich der  achämenidisch-persischen  Zeit  den  Gebrauch  von  Stuhl, 
Bettstelle  und  Tiscli,  dagegen  kein  einziges  Mal  einen  Teppich  an 
deren  Stelle.  Erst  die  in  Folge  ihres  nomadenhaften  Vorlebens  an  die 
Möbellosigkeit  geAvöhnten  centralasiatischen  Stämme  turko-tartarischer 
Abkunft,  deren  Vordringen  und  Sichfestsetzen  in  Westasien  fast  die 
gesammte  Geschichte  des  mittelalterlichen  Orients  ausfüllt,  haben  den 
Knüpfteppich  mit  sich  gebracht  und  seinen  so  charakteristischen  Ge- 
brauch im  Westen  eingebürgert.  Wo  die  eingewanderten  Nomaden- 
tribus  bei  ihrer  ursprünglichen  Lebensweise  stehen  geblieben  sind, 
haben  sie  auch  ihre  heimische,  primitiv-geometrische  Verzierungsweise 
—  abstrakte  Symmetrie  in  Form  von  Linien-Kombinationen  —  in  ihrer 


^^)  Eingehender  habe  ich  diesen  entscheidenden  Punkt  besprochen  in  der 
österreichischen  Monatsschrift  für  den  Orient,  Jänner  1892:  Die  Heimat  des 
orientalischen  Knüpfteppichs. 


346  Kit"  Arabeske. 

Teppichornamentik  beibehalten,  wie  sie  der  soi;en,  Xoniadenteppicli 
grossentheils  nocli  licute  zeigt.  Wo  sie  aber  grosse  und  glänzende 
Hoflialtungen  aufriehteten,  wie  in  Persien  und  in  Kleinasien,  dort  über- 
trugen sie  die  bei  den  dortigen  Kulturvölkern  vorgefundene  höher- 
stehende Yerzierungsweise  —  eben  die  von  der  klassischen  Antike 
überkommene  Pflanzenrankenoruamentik  —  auf  ihre  l^uxusteppiche. 

Also  weder  der  Knüpftepi>ich,  noch  sein  „geblümtes"  ]\[uster  sind 
in  Westasieu  urheimisch,  in  dem  Sinne,  wie  man  dies  gewöhnlieh  ;in- 
zuiK-hmen  pflegt.  Ersterer  stammt  aus  Centralasien;  vereinzelte  ver- 
sprengte Ausnahmen,  etwa  am  Kaukasus,  mag  es  immerhin  schon  im 
Alterthum  gegeben  haben.  Das  ..Blumennmster"  aber  darf  nur  inso- 
ferne  als  „urorientalisches"  gelten,  als  ja  in  der  That  die  unmittel- 
baren Vorläufer  der  saracenisehen  Ptlanzenornamente  —  die  klassisch- 
antiken —  im  letzten  Grunde  aus  dem  Orient  herstannnen.  Die  einzel- 
nen Glieder  dieser  Kette  aber,  die  von  der  geheimnissvollen  lUunie 
des  Xilthals  und  der  Siuralranke  des  vorläufig  noch  räthselhafteren 
..mykenischen"  Inselvolkes  zu  den  ornamentalen  Wundcrlcistungen  der 
Arabeske  führt,  glaube  ich  im  dritten  und  vierten  Kajiitel  dieses 
Buches  in  ziemlich  lückenloser  Keihe  zusammengefügt  zu  haben. 


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1175 

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1893 

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